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VerfGBbg, Beschluss vom 16. Juni 2023 - VfGBbg 35/22 -

 

Verfahrensart: Verfassungsbeschwerde
Hauptsache
entscheidungserhebliche Vorschriften: - LV, Art. 52 Abs. 3 Alt. 1
- VerfGGBbg, § 20 Abs. 1 Satz 2; VerfGGBbg, § 32 Abs. 7 Satz 1; VerfGGBbg, § 46; VerfGGBbg, § 50 Abs. 3
- SGG, § 88 Abs. 1; SGG, § 88 Abs. 2; SGG, § 197a Abs. 1 Satz 1;
- VwGO, § 161 Abs. 2 Satz 1
Schlagworte: - Verfassungsbeschwerde, teilweise zulässig und begründet
- Kostengrundentscheidung
- Untätigkeitsklage
- Willkür
Zitiervorschlag: VerfGBbg, Beschluss vom 16. Juni 2023 - VfGBbg 35/22 -, https://verfassungsgericht.brandenburg.de

VERFASSUNGSGERICHT
DES LANDES BRANDENBURG

VfGBbg 35/22




IM NAMEN DES VOLKES

B e s c h l u s s

VfGBbg 35/22

In dem Verfassungsbeschwerdeverfahren

L.,

Beschwerdeführer,

beteiligt:

1.      Präsident
des Sozialgerichts Cottbus,
Vom-Stein-Straße 28,
03050 Cottbus,

2.      Deutsche Rentenversicherung
Berlin-Brandenburg,
Bertha-von-Suttner-Straße 1,
15236 Frankfurt (Oder),

wegen

Beschluss des Sozialgerichts Cottbus vom 9. Juli 2022
- S 3 BA 10/20 -

hat das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg

am 16. Juni 2023

durch die Verfassungsrichterinnen und Verfassungsrichter Dr. Strauß, Dr. Finck, Heinrich-Reichow, Kirbach, Müller, Richter und Sokoll

beschlossen: 

  1. Der Beschluss des Sozialgerichts Cottbus vom 9. Juli 2022 - S 3 BA 10/20 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Gleichheit vor Gericht aus Art. 52 Abs. 3 Alt. 1 Verfassung des Landes Brandenburg, soweit ihm hierin die Kosten des Verfahrens sowie seine außergerichtlichen Kosten auferlegt werden. Der Beschluss wird hinsichtlich der Kostengrundentscheidung aufgehoben. Die Sache wird insoweit zur erneuten Entscheidung an das Sozialgericht Cottbus zurückverwiesen.

    Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde verworfen.

  2. Das Land Brandenburg hat dem Beschwerdeführer die Hälfte seiner notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.

 

Gründe:

A.

Mit seiner Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen einen Beschluss des Sozialgerichts Cottbus, mit dem eine Kostengrundentscheidung getroffen und der Streitwert eines sozialgerichtlichen Verfahrens festgesetzt wurde.

I.

Der Beschwerdeführer ist als selbständiger Rechtsanwalt tätig. Mit Bescheid vom 24. Juni 2020 forderte die Deutsche Rentenversicherung Berlin-Brandenburg ihn nach einer vorangegangenen Betriebsprüfung gemäß § 28p Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV) zur Zahlung einer Nachforderung von insgesamt 44.223,25 Euro, unter anderem für nicht geleistete Beiträge zur Sozialversicherung eines bei ihm ‑ nach Auffassung der Deutschen Rentenversicherung Berlin-Brandenburg - als Arbeitnehmer tätigen Rechtsanwalts, auf.

Gegen diesen Bescheid legte der Beschwerdeführer am 7. Juli 2020 Widerspruch mit der Begründung ein, der benannte Rechtsanwalt sei in der streitgegenständlichen Zeit bei ihm nicht als Arbeitnehmer, sondern selbstständig tätig gewesen.

Die Deutsche Rentenversicherung Berlin-Brandenburg forderte den Beschwerdeführer daraufhin mit Schreiben vom 10. August 2020 zur Einreichung eines Fragebogens auf, welchen er mit Fax vom 26. August 2020 nachreichte. Weitere in der Folgezeit mit Schreiben vom 18. September 2020 von der Deutschen Rentenversicherung Berlin-Brandenburg angeforderte Unterlagen legte der Beschwerdeführer im Widerspruchsverfahren nicht mehr vor.

Am 10. Oktober 2020 erhob der Beschwerdeführer Untätigkeitsklage bei dem Sozialgericht Cottbus (S 3 BA 10/20) mit dem Antrag, die Deutsche Rentenversicherung Berlin-Brandenburg zu verurteilen, über seinen Widerspruch gegen den Bescheid vom 24. Juni 2020 zu entscheiden. Über den Widerspruch sei nicht in der Frist des § 88 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entschieden worden. Nachdem die Deutsche Rentenversicherung Berlin-Brandenburg am 11. Dezember 2020 einen Teilabhilfebescheid bezüglich der Arbeitnehmereigenschaft des benannten Rechtsanwalts sowie im Übrigen am 14. Januar 2021 einen Widerspruchsbescheid erlassen hatte, erklärte der Beschwerdeführer am 19. Januar 2021 die Untätigkeitsklage für erledigt und beantragte, die Kosten des Rechtsstreits der Deutschen Rentenversicherung Berlin-Brandenburg aufzuerlegen. Der Beschwerdeführer habe den angeforderten Fragebogen übermittelt, danach sei die Deutsche Rentenversicherung Berlin-Brandenburg nochmals knapp zwei Monate untätig geblieben. Die weiterhin angeforderten Unterlagen habe der Beschwerdeführer in der Folgezeit nicht mehr vorgelegt. Gleichwohl habe die Deutsche Rentenversicherung Berlin-Brandenburg zwischenzeitlich eine Entscheidung getroffen. Hieraus werde hinreichend deutlich, dass es auf die Unterlagen nicht angekommen sei. Die Deutsche Rentenversicherung Berlin-Brandenburg lehnte demgegenüber eine Kostenerstattung für die Untätigkeitsklage ab, da der Beschwerdeführer im Widerspruchsverfahren die notwendigen Unterlagen nicht beigebracht habe und die Teilabhilfe lediglich aus Kulanzgründen erfolgt sei.

Das Sozialgericht Cottbus entschied in dem mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschluss vom 9. Juli 2022, dass der Beschwerdeführer die Kosten des Verfahrens sowie seine außergerichtlichen Kosten zu tragen habe, und setzte den Streitwert auf 5.000,00 Euro fest. Aus dem zwischen den Beteiligten geltenden besonderen Sozialrechtsverhältnis folge die Pflicht, sich gegenseitig vor vermeidbaren Schäden zu bewahren. Vor der Anstrengung eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens sei zunächst außergerichtliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Dies gelte insbesondere für ein trotz eingelegten Widerspruchs betriebenes Vollstreckungsverfahren. Vergleichbar sei diese Situation mit der eines Untätigkeitsklageverfahrens. Auch hier sei die Behörde vor vermeidbaren Schäden zu schützen. Dazu gehöre die Obliegenheit, vor Erhebung der Untätigkeitsklage der Behörde eine letzte angemessene Frist zur Verbescheidung zu setzen. Dies habe der Beschwerdeführer versäumt. Die Obliegenheitsverletzung führe zwar nicht zur Unzulässigkeit der Untätigkeitsklage, gleichwohl aber dazu, dass keine Kosten zu erstatten seien.

II.

Mit seiner am 26. Oktober 2022 erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seines Grundrechts auf Gleichheit vor Gericht in seiner Ausprägung als Willkürverbot gemäß Art. 52 Abs. 3 Alt. 1 Verfassung des Landes Brandenburg (LV).

Die Kostengrundentscheidung des Sozialgerichts Cottbus sei nicht mehr von dem dem Gericht zustehenden Ermessen gedeckt. Die Deutsche Rentenversicherung Berlin-Brandenburg habe unstreitig zum Zeitpunkt der Erhebung der Untätigkeitsklage nicht über den Widerspruch entschieden gehabt. Die Sperrfrist des § 88 SGG sei abgelaufen gewesen. Der im Widerspruchsverfahren geforderten Mitwirkung sei er mit Übersendung des Fragebogens nachgekommen. Das erneute Anfordern weiterer Unterlagen könne die Sperrfrist nicht verlängern. Es könne von der Behörde erwartet werden, notwendige Ermittlungen unverzüglich und in einer prozessökonomisch vertretbaren Art und Weise durchzuführen. Dem widerspreche es, nach Erfüllung der Mitwirkungshandlung erneut anderweitige Unterlagen anzufordern. Einen besonderen Grund für diese Vorgehensweise habe die Deutsche Rentenversicherung Berlin-Brandenburg nicht vorgebracht. Willkürlich und unter Verstoß gegen das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz sei das Sozialgericht davon ausgegangen, der Beschwerdeführer habe sich vor Erhebung der Untätigkeitsklage nochmals an die Rentenversicherung wenden müssen. Damit würde eine allgemeine, im Gesetz nicht vorgesehene Hürde für die Erhebung einer Untätigkeitsklage eingeführt. Durch die in § 88 SGG eindeutig geregelte Frist werde abschließend und eindeutig festgelegt, unter welchen Voraussetzungen eine Untätigkeitsklage erhoben werden könne. Eine Ausnahmekonstellation, wonach etwa für die Behörde Anlass bestehe zu glauben, dem Bürger sei an einem Bescheid nicht mehr gelegen, sei ersichtlich nicht gegeben. Auch der Verweis des Sozialgerichts auf Rechtsprechung zu Kostenentscheidungen im Eilverfahren greife nicht. Ein Eilverfahren zeichne sich gerade dadurch aus, dass dieses auch vor Ablauf der Frist des § 88 SGG erhoben werden könne, dafür aber an die Voraussetzung der besonderen Eilbedürftigkeit gebunden sei. Insofern könne es durchaus geboten sein, die Behörde vor Einleitung eines Eilverfahrens auf die besondere Dringlichkeit der Entscheidung hinzuweisen. Im Übrigen erschwere das Sozialgericht in unzumutbarer Weise den Rechtsschutz, wenn es verlange, dass sich ein Kläger vor Erhebung einer Untätigkeitsklage nochmals an die Behörde mit der Bitte um Bescheidung wende. Im Falle der Überschreitung der Sperrfrist habe die Behörde hierfür im Wesentlichen zwei Gründe: Entweder könne sie nicht innerhalb der Frist entscheiden, ohne hierfür einen wichtigen Grund vorzuweisen. In diesem Fall sei die Nachfristsetzung nutzlos, da die Behörde ohnehin nicht entscheiden könne. Oder die Behörde wolle schlichtweg nicht innerhalb der Frist entscheiden, entscheide sich also bewusst für den Rechtsbruch. In diesem Fall sei sie nicht schutzwürdig.

III.

Der Präsident des Sozialgerichts Cottbus und die Deutsche Rentenversicherung Berlin-Brandenburg haben Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten.

B.

I.

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, soweit der Beschwerdeführer einen Verstoß der Kostengrundentscheidung aus dem Beschluss des Sozialgerichts Cottbus vom 9. Juli 2022 gegen das Willkürverbot rügt. Im Übrigen ist sie bereits unzulässig.

1. Soweit der Beschwerdeführer einen Verstoß der Kostengrundentscheidung - Ziffer 1 des Beschlusses des Sozialgerichts Cottbus vom 9 Juli 2022 - gegen die Garantie effektiven Rechtsschutzes rügt und im Hinblick auf die Streitwertfestsetzung ‑ Ziffer 2. des Beschlusses des Sozialgerichts Cottbus vom 9. Juli 2022 - genügt die Verfassungsbeschwerde nicht den gesetzlichen Anforderungen an die Begründung.

Erforderlich ist nach § 20 Abs. 1 Satz 2, § 46 Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg (VerfGGBbg) eine Begründung, welche schlüssig die mögliche Verletzung der geltend gemachten Grundrechte des Beschwerdeführers aufzeigt. Sie muss umfassend und aus sich heraus verständlich sein. Mit der Begründung müssen der entscheidungserhebliche Sachverhalt und die wesentlichen rechtlichen Erwägungen nachvollziehbar dargelegt werden, um dem Gericht eine sachgerechte Auseinandersetzung mit dem geltend gemachten Begehren zu ermöglichen. Richtet sich die Verfassungsbeschwerde gegen eine gerichtliche Entscheidung, bedarf es in der Regel einer argumentativen Auseinandersetzung mit der angegriffenen Entscheidung und ihrer konkreten Begründung. Dabei ist auch darzulegen, inwieweit das bezeichnete Grundrecht durch die angegriffene Entscheidung verletzt sein soll und mit welchen verfassungsrechtlichen Anforderungen die Entscheidung kollidiert. Es bedarf einer umfassenden einfachrechtlichen und verfassungsrechtlichen Aufarbeitung der Rechtslage. Demnach muss der Beschwerdeführer ausgehend vom Entscheidungsinhalt aufzeigen, worin der Grundrechtsverstoß aus seiner Sicht im Einzelnen liegt (st. Rspr., vgl. z. B. Beschlüsse vom 18. November 2022 - VfGBbg 51/21 -, Rn. 18, vom 21. Januar 2022 ‌‑ VfGBbg 57/21 ‑,‌ Rn. 35, und vom 19. Februar 2021 ‑ VfGBbg 28/20 -, Rn. 9, https://verfassungsgericht.‌brandenburg.de, m. w. N.).

Diesen Vorgaben wird die Beschwerdeschrift nicht gerecht. Sie setzt sich mit der Streitwertfestsetzung gar nicht auseinander. Auch fehlt es an substantiierten Darlegungen zum Gewährleistungsgehalt der Garantie effektiven Rechtsschutzes. Der Beschwerdeführer gibt für den geltend gemachten Verstoß gegen das Recht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes keine eigenständige über Erwägungen zur Willkür hinausgehende Begründung im Sinne von § 20 Abs. 1 Satz 2, § 46 VerfGGBbg.

2. Soweit er sich gegen die Kostengrundentscheidung aus dem Beschluss des Sozialgerichts Cottbus vom 9. Juli 2022 wendet, hat der Beschwerdeführer entsprechend § 45 Abs. 2 Satz 1 VerfGGBbg den Rechtsweg erschöpft. Ein Rechtsmittel gegen die Kostengrundentscheidung stand ihm gemäß § 197a Abs. 1 SGG i. V. m. § 158 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) nicht zur Verfügung.

3. Die Verfassungsbeschwerde ist auch innerhalb der Frist des § 47 Abs. 1 VerfGGBbg von zwei Monaten erhoben und begründet worden. Der Beschluss über die Kostengrundentscheidung vom 9. Juli 2022 ist dem Beschwerdeführer am 30. August 2022 zugegangen. Am 26. Oktober 2022 hat er Verfassungsbeschwerde erhoben.

4. Schließlich steht der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde nicht entgegen, dass der Beschluss, gegen den sich der Beschwerdeführer wendet, auf der Grundlage von Verfahrensrecht des Bundes - des Sozialgerichtsgesetzes und der Verwaltungsgerichtsordnung - ergangen ist. Die insoweit erforderlichen Voraussetzungen (vgl. bereits Beschluss vom 16. April 1998 - VfGBbg 1/98 -; in jüngerer Zeit z. B. Beschlüsse vom 19. Februar 2021 ‌‑ VfGBbg 9/20 ‑,‌ Rn. 23, vom 24. Januar 2014 ‌‑ VfGBbg 13/13 -, und vom 16. Dezember 2010 - VfGBbg 18/10 -, https://verfassungsgericht.brandenburg.de; st. Rspr.) liegen vor: Die Gewährleistung des von dem Beschwerdeführer geltend gemachten Prozessgrundrechts aus Art. 52 Abs. 3 Alt. 1 LV (Willkürverbot) entspricht in seinem Anwendungsbereich derjenigen des Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz. Die geltend gemachte Beschwer beruht auf der Entscheidung eines Gerichts des Landes Brandenburg. Ein Bundesgericht war nicht befasst.

II.

Soweit sie zulässig ist, ist die Verfassungsbeschwerde auch begründet.

Die in dem Beschluss des Sozialgerichts Cottbus vom 9. Juli 2022 enthaltene Kostengrundentscheidung verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Gleichheit vor Gericht gemäß Art. 52 Abs. 3 Alt. 1 LV in seiner Ausprägung als Verbot objektiver Willkür.

Die Auslegung des Gesetzes und seine Anwendung auf den einzelnen Fall sind Sache der dafür zuständigen Fachgerichte und daher der Nachprüfung durch das Verfassungsgericht grundsätzlich entzogen. Ein verfassungsgerichtliches Eingreifen gegenüber den Entscheidungen der Fachgerichte kommt nur in Ausnahmefällen, etwa unter dem Gesichtspunkt der Verletzung des Gleichheitssatzes in seiner Ausprägung als Willkürverbot, in Betracht. Eine gerichtliche Entscheidung verstößt nicht bereits bei jeder fehlerhaften Anwendung einfachen Rechts gegen das Willkürverbot, sondern erst, wenn sie unter keinem denkbaren Gesichtspunkt rechtlich vertretbar und damit schlechthin unhaltbar ist. Sie muss Ausdruck einer objektiv falschen Rechtsanwendung sein, die jeden Auslegungs- und Beurteilungsspielraum außer Acht lässt und ganz und gar unverständlich erscheint. Diese Voraussetzungen liegen unter anderem dann vor, wenn sich ein Gericht mit seiner rechtlichen Beurteilung ohne nachvollziehbare Begründung in Widerspruch zu einer durch Rechtsprechung und Schrifttum geklärten Rechtslage setzt oder das Gericht den Inhalt einer Norm krass missdeutet, so dass sich der Schluss aufdrängt, dass die Entscheidung auf sachfremden Erwägungen beruht (st. Rspr., vgl. z. B. Beschlüsse vom 16. Dezember 2022 ‌‑ VfGBbg 57/20 -, Rn. 20, vom 22. Januar 2021 ‑ VfGBbg 62/18 -, Rn. 11, und vom 21. September 2018 ‌‑ VfGBbg 180/17 -, https://verfassungsgericht.brandenburg.de). Auf subjektive Umstände oder ein Verschulden des Gerichts kommt es nicht an (vgl. Beschluss vom 12. April 2019 ‌‑ VfGBbg 25/18 -, https://verfassungsgericht.brandenburg.de, m. w. N.).

Gemessen an diesen Voraussetzungen erweist sich der angegriffene Beschluss als willkürlich, weil das Sozialgericht Cottbus die Vorschrift des § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO in nicht mehr vertretbarer Weise angewendet hat.

Nach § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO entscheidet dann, wenn der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt ist, das Gericht nach billigem Ermessen über die Kosten des Verfahrens durch Beschluss; der bisherige Sach- und Streitstand ist zu berücksichtigen. Hier war das Untätigkeitsklageverfahren aufgrund der übereinstimmenden Erledigungserklärungen der Beteiligten (Schriftsatz der Deutschen Rentenversicherung Berlin-Brandenburg vom 14. Januar 2021, Schriftsatz des Beschwerdeführers vom 19. Januar 2021) erledigt. § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO enthält über die Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes hinaus keine Vorgaben für den Inhalt der Kostenentscheidung. Insofern ist, wie § 161 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 VwGO klarstellt, vor allem die bisherige Sach- und Rechtslage zu berücksichtigen, d. h. welcher der Beteiligten ohne das zur Erledigung führende Ereignis voraussichtlich obsiegt hätte bzw. unterlegen wäre; diese Beurteilung erfolgt nach Maßgabe der für solche Kostenentscheidungen anzuwendenden nur summarischen Überprüfung (vgl. BSG, Beschluss vom 29. August 2011 - B 6 KA 18/11 R -, Rn. 7, m. w. N., juris). Zudem können alle Umstände des Einzelfalls herangezogen werden wie insbesondere der Anlass für die Klageerhebung und auch der Grund der Erledigung, d.h. wer infolge des erledigenden Ereignisses faktischer Sieger ist (BSG, a. a. O.).

Für die Kostenentscheidung im Rahmen einer Untätigkeitsklage sind zunächst deren Erfolgsaussichten im Sinne von § 88 SGG zu berücksichtigen. Nach § 88 Abs. 1 und Abs. 2 SGG ist eine Klage auf Erlass eines Widerspruchsbescheids nach Ablauf von drei Monaten zulässig, wenn die Behörde ohne zureichenden Grund den Widerspruch nicht in angemessener Frist sachlich beschieden hat. Ist die Klage vor Ablauf der Warte- bzw. Sperrfrist erhoben worden und ergeht der begehrte Verwaltungsakt vor deren Ablauf, wird der Kläger in der Regel keinen Kostenersatz erhalten; ist die Klage nach Warte- bzw. Sperrfristablauf erhoben, muss der Beklagte in der Regel die außergerichtlichen Kosten des Klägers erstatten, weil dieser mit einem Bescheid vor Fristablauf rechnen durfte, es sei denn, es lag ein zureichender sachlicher Grund für das Unterlassen der Entscheidung vor (vgl. zu § 193 SGG: Schmidt, in: Meyer‑Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 193 Rn. 13c m. w. N.).

Im vorliegenden Fall war die dreimonatige Warte- bzw. Sperrfrist im Sinne von § 88 Abs. 2 SGG bei Erhebung der Untätigkeitsklage am 10. Oktober 2020 unstreitig abgelaufen. Der Beschwerdeführer hatte mit Schreiben vom 4. Juli 2020 Widerspruch gegen den Nachforderungsbescheid erhoben, über den die beklagte Deutsche Rentenversicherung Berlin-Brandenburg erst während des Untätigkeitsklageverfahrens mittels Teilabhilfebescheid vom 11. Dezember 2020 und Widerspruchsbescheid vom 14. Januar 2021 entschieden hat.

Auf einen zureichenden Grund der Deutschen Rentenversicherung Berlin-Brandenburg für die verspätete Bescheidung hat das Sozialgericht Cottbus seinen Beschluss vom 9. Juli 2022 nicht gestützt. Vielmehr ging das Gericht davon aus, eine Kostenerstattung aus Billigkeitserwägungen ablehnen zu dürfen, weil eine allgemeine Obliegenheit des Beschwerdeführers bestanden habe, vor Erhebung einer Untätigkeitsklage der Behörde eine letzte angemessene Frist zur Verbescheidung zu setzen. Diese Obliegenheitsverletzung führe zwar nicht zu einer Unzulässigkeit der Untätigkeitsklage, aber dazu, dass keine Kosten zu erstatten seien.

Mit dieser Begründung für die Ablehnung der Kostenerstattung hat das Sozialgericht Cottbus das ihm nach § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO eingeräumte Ermessen in nicht mehr nachvollziehbarer Weise ausgeübt. Hierin liegt eine Verletzung des Grundrechts des Beschwerdeführers auf Gleichheit vor Gericht in seiner Ausprägung als Willkürverbot gemäß Art. 52 Abs. 3 Alt. 1 LV.

Weder dem Wortlaut des § 88 SGG noch dem von § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG, § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO ist eine generelle Pflicht zu entnehmen, die Behörde nach Ablauf der Wartefrist auch ohne Anlass vor Erhebung einer Untätigkeitsklage zunächst auf die ausstehende Entscheidung über den Antrag oder Widerspruch aufmerksam zu machen, die Klageerhebung anzukündigen und nachzufragen, ob sie bald entscheide. Es sind auch keine systematischen oder entstehungsgeschichtlichen Anhaltspunkte für eine solche Auslegung ersichtlich (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Februar 2023 - 1 BvR 311/22 -, Rn. 15 ff., juris). Gleiches gilt für die vom Sozialgericht Cottbus angenommene Obliegenheit einer letztmaligen Fristsetzung vor Erhebung der Untätigkeitsklage. Eine Pflicht, vor der Erhebung einer Untätigkeitsklage den Sachstand zu erfragen, besteht nicht generell, sondern nur unter besonderen Umständen des Einzelfalls (vgl. z. B. LSG Bln-Brbg, Beschluss vom 6. März 2006 - L 30 B 168/04 AL -, Rn. 12, juris; LSG BW, Beschluss vom 14. September 2005 - L 10 LW 4563/04 AK-B -, Rn. 28 ff., juris; LSG MV, Beschluss vom 16. August 2011 - L 8 B 296/09 -, Rn. 13, juris).

So wie sich Bürger die Versäumung einer Frist regelmäßig strikt entgegenhalten lassen müssen, darf auch der Staat grundsätzlich nicht darauf vertrauen, von Bürgern auf den Ablauf einer gesetzlichen Frist erneut hingewiesen zu werden und eine außergesetzliche Nachfrist zu erhalten. Bürger können überdies dem Staat keine Fristen setzen, die das Gesetz nicht vorsieht. Sie können auch nicht eigenmächtig über Rechtsfolgen disponieren; auch die Rechtsfolge des Fristablaufs ergibt sich vielmehr aus dem Gesetz. Der Staat muss die gesetzlichen Fristen und etwaigen Rechtsfolgen ebenso kennen und beachten wie die Bürger. Hat der Ablauf der Wartefrist im Fall der Untätigkeitsklage eine Kostenfolge zu Lasten der beklagten Behörde, ist auch dies eine prozessrechtlich vorgesehene Konsequenz des Fristablaufs (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Februar 2023 - 1 BvR 311/22 -, Rn. 15 ff., juris).

Das Sozialgericht Cottbus hat in seiner Kostengrundentscheidung gerade keine besonderen Umstände des Einzelfalls geprüft, die gegebenenfalls - etwa wegen der nachträglichen Anforderung von Unterlagen - eine Nachfrage des Beschwerdeführers bei der Deutschen Rentenversicherung Berlin-Brandenburg vor Erhebung der Untätigkeitsklage hätten erforderlich erscheinen lassen können. Vielmehr bejaht es generell aufgrund eines zwischen den Beteiligten geltenden besonderen Sozialrechtsverhältnisses die Pflicht, sich gegenseitig vor vermeidbaren Schäden zu bewahren, und leitet hieraus eine Obliegenheit ab, vor der Erhebung einer Untätigkeitsklage der Behörde eine letzte und angemessene Frist zur Bescheidung zu setzen. Dies widerspricht, wie bereits aufgezeigt, dem Gesetzeswortlaut von § 88 SGG. Auch die weitergehenden systematischen Erwägungen des Gerichts sind nicht nachvollziehbar. Insbesondere der Vergleich des Gerichts zu einstweiligen Rechtsschutzverfahren passt bereits deshalb nicht, weil § 86b Abs. 2 SGG - im Gegensatz zu § 88 SGG - spezifische Voraussetzungen des Eilrechtsschutzes statuiert, wie insbesondere eine besondere Eilbedürftigkeit, die im Falle der Untätigkeitsklage gerade nicht gegeben sein muss. Gleiches gilt im Hinblick auf den vom Gericht gezogenen Vergleich mit einem trotz Widerspruchsverfahren betriebenen Vollstreckungsverfahren. Hier fehlt es bereits an jeglicher Darlegung des Gerichts zur Vergleichbarkeit der Fallkonstellation. Die Kostengrundentscheidung des Sozialgerichts Cottbus ist damit unter keinem denkbaren Gesichtspunkt rechtlich vertretbar, sondern Ausdruck einer objektiv falschen Rechtsanwendung, die jeden Auslegungs- und Beurteilungsspielraum außer Acht lässt und ganz und gar unverständlich erscheint.

III.

Der angegriffene Beschluss des Sozialgerichts Cottbus ist hiernach gemäß § 50 Abs. 3 VerfGGBbg aufzuheben und die Sache an das Sozialgericht Cottbus zurückzuverweisen.

IV.

Die Entscheidung bezüglich der Auslagenerstattung beruht auf § 32 Abs. 7 Satz 1 VerfGGBbg und berücksichtigt den Teilerfolg des Beschwerdeführers.

C.

Der Beschluss ist einstimmig ergangen. Er ist unanfechtbar.

 

Dr. Strauß

Dr. Finck

Heinrich-Reichow

Kirbach

Müller

Richter

Sokoll