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VerfGBbg, Beschluss vom 16. April 1998 - VfGBbg 1/98 -

 

Verfahrensart: Verfassungsbeschwerde
Hauptsache
entscheidungserhebliche Vorschriften: - LV, Art. 52 Abs. 3; LV, Art. 52 Abs. 4
- GG, Art. 103 Abs. 1; GG, Art. 20 Abs. 3; GG, Art. 3 Abs. 1
Schlagworte: - Bundesrecht
- Zuständigkeit des Landesverfassungsgerichts
- Zivilprozeßrecht
- rechtliches Gehör
- Überraschungsentscheidung
- Willkür
amtlicher Leitsatz:
Fundstellen: - LVerfGE 8, 82
Zitiervorschlag: VerfGBbg, Beschluss vom 16. April 1998 - VfGBbg 1/98 -, https://verfassungsgericht.brandenburg.de

VERFASSUNGSGERICHT
DES LANDES BRANDENBURG

VfGBbg 1/98



IM NAMEN DES VOLKES
B E S C H L U S S

In dem Verfassungsbeschwerdeverfahren

Eheleute S. und V. T.,

Beschwerdeführer,

Verfahrensbevollmächtigter: Rechtsanwalt B.,

gegen das Urteil des Amtsgerichts Bad Freienwalde vom 30. Oktober 1997

hat das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg
durch die Verfassungsrichter Dr. Macke, Dr. Dombert, Prof. Dr. Harms-Ziegler, Dr. Knippel, Prof. Dr. Mitzner, Prof. Dr. Schöneburg, Prof. Dr. Schröder, Weisberg-Schwarz und Prof. Dr. Will

am 16. April 1998

b e s c h l o s s e n :

Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen.

G r ü n d e :

A.

Die Beschwerdeführer sind seit 1988 Mieter einer Wohnung in Dannenberg, die vormals als Volkseigentum vom Rat der Gemeinde als Rechtsträger verwaltet und vermietet wurde. 1994 wurde die H.-GmbH auf Ersuchen der Vermögenszuordnungsstelle der Oberfinanzdirektion Cottbus als Eigentümerin des entsprechenden Grundstücks im Grundbuch eingetragen.

Die Beschwerdeführer erhoben am 1. Juli 1997 Klage vor dem Amtsgericht Bad Freienwalde auf Vorlage nachvollziehbarer Betriebskostenabrechnungen gegen die - in der Klageschrift als Verwalterin bezeichnete - H.-GmbH. Im Laufe des Verfahrens änderten sie die Klage auf Rückzahlung von 1.334,69 DM zuvielgezahlter Betriebskosten und verlangten die Beseitigung von Schimmelflecken in der Wohnung. Die Beklagte verlangte widerklagend Zahlung ausstehender Betriebskosten in Höhe von 140,13 DM. Sie schilderte gegenüber dem Amtsgericht schriftsätzlich unter anderem die Praxis der Betriebskostenabrechnung und führte dazu aus, daß in dieser Weise von allen Großvermietern verfahren werde und auch sie selbst so gegenüber ihren Mietern verfahre. Das Amtsgericht forderte die Beschwerdeführer mit der Terminsverfügung auf, die Klage hinsichtlich der Passivlegitimation der Beklagten schlüssig zu begründen und den Mietvertrag vorzulegen. Der Prozeßbevollmächtigte der Beschwerdeführer führte daraufhin schriftsätzlich aus, daß sich die Beklagte nicht auf eine fehlende Passivlegitimation berufe und selbst am ehesten angeben könne, auf welcher Basis sie für den Wohnungseigentümer auftrete. Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 25. September 1997 legte der Prozeßbevollmächtigte der Beschwerdeführer den im Jahre 1988 mit dem Rat der Gemeinde abgeschlossenen Mietvertrag vor. Die Beklagte legte ihrerseits einen ihre Eigentümerstellung nachweisenden Grundbuchauszug vor. Das Amtsgericht wies die Klage mit Urteil vom 30. September 1997, den Beschwerdeführern zugestellt am 5. November 1997, mangels Schlüssigkeit ab. Die Beschwerdeführer hätten nur vorgetragen, daß die Beklagte Verwalterin des Hauses sei. Ansprüche aus dem Mietverhältnis müßten jedoch gegen den Vermieter geltend gemacht werden. Die Beklagte selbst habe eine solche Vermieterstellung ebenfalls nicht vorgetragen. Der vorgelegte Mietvertrag und der Grundbuchauszug seien für die Annahme einer Vermieterstellung, auch nach § 571 BGB, nicht ausreichend. Aus den gleichen Erwägungen wies das Amtsgericht auch die Widerklage der Beklagten ab. Eine von den Beschwerdeführern gegen das Urteil erhobene Gegenvorstellung blieb ohne Erfolg.

Mit der am 5. Januar 1998 erhobenen Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführer eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 52 Abs. 3 Landesverfassung Brandenburg - LV -) und auf ein faires Verfahren (Art. 52 Abs. 4 LV) sowie eine Verletzung des Willkürverbotes (Art. 52 Abs. 3 LV). Das Amtsgericht habe es unterlassen, einen weiteren Hinweis nach §§ 139, 278 Abs. 3 Zivilprozeßordnung - ZPO - zu erteilen, bevor es die Klage wegen fehlender Passivlegitimation der Beklagten zurückwies. Sie seien davon ausgegangen, daß hierzu nach dem ersten Hinweis des Gerichts hinreichend vorgetragen worden sei. Das Urteil sei für sie überraschend und erscheine willkürlich.

Die H.-GmbH hat zu der Verfassungsbeschwerde Stellung genommen und im wesentlichen ausgeführt, daß die Erörterung der Passivlegitimation auch in der mündlichen Verhandlung breiten Raum eingenommen habe. Von einer Verletzung des rechtlichen Gehörs könne deshalb keine Rede sein. Wenn auch die Ausführungen des Amtsgerichts zur Frage der Vermieterstellung wohl unzutreffend seien, so sei das Urteil gleichwohl deshalb noch nicht verfassungswidrig.

B.

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Sie hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.

I.

Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht nicht entgegen, daß mit ihr die Verletzung von Landesgrundrechten bei der Durchführung eines bundesrechtlich - durch die Zivilprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgericht - geordneten Verfahrens gerügt wird. Allerdings ist in einem solchen Fall zu beachten, daß die Aufhebung von Entscheidungen der Fachgerichte durch ein Landesverfassungsgericht die Zuständigkeit des Bundes gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 Grundgesetz (GG) zur Regelung der Rechts- und Bestandskraft gerichtlicher Entscheidungen berührt. Raum für eine landesrechtliche Regelung verbleibt deshalb nur insoweit, als diese zur Erreichung des Zwecks der Landesverfassungsbeschwerde unerläßlich ist (BVerfG, Beschluß vom 15. Oktober 1997 - 2 BvN 1/95 -, S. 35 ff. des Entscheidungsumdrucks). Die insoweit erforderlichen Voraussetzungen im Sinne der genannten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, der sich das erkennende Gericht anschließt, sind hier gegeben.

1. Der brandenburgische Gesetzgeber hat - in näherer Ausgestaltung des Art. 6 Abs. 2 der Landesverfassung (LV) - die Erhebung der Landesverfassungsbeschwerde gemäß § 45 Abs. 2 Satz 1 Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg (VerfGGBbg) erst nach - hier erfolgter - Erschöpfung des Rechtswegs zugelassen. Diese ausdrückliche Zulässigkeitsvoraussetzung ist nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Gerichts um den - über das Gebot der Rechtswegerschöpfung im engeren Sinne hinausgehenden - Grundsatz der Subsidiarität zu ergänzen, wonach der Beschwerdeführer gehalten ist, alles im Rahmen seiner Möglichkeiten Stehende zu unternehmen, um eine etwaige Grundrechtsverletzung zu beseitigen oder zu verhindern (vgl. etwa Beschluß vom 21. November 1996 - VfGBbg 17/96, 18/96 und 19/96 -, LVerfGE 5, 112, 118 ff. m.w.N.). Auch diese Voraussetzung ist hier erfüllt. Damit ist dem Umstand hinreichend Rechnung getragen, daß die Aufhebung einer gerichtlichen Entscheidung durch ein Landesverfassungsgericht regelmäßig erst dann “unerläßlich” ist, wenn feststeht, daß durch fachgerichtlichen Rechtsschutz eine Beseitigung der behaupteten Grundrechtsverletzung nicht mehr zu erreichen ist und auch nicht hätte erreicht werden können (vgl. BVerfG, a.a.O., S. 36 f.).

Inwieweit die durch Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG begrenzte Kompetenz des Landesgesetzgebers darüber hinaus eine besonders restriktive Auslegung der Voraussetzungen verlangt, unter denen Landesrecht (hier § 45 Abs. 2 Satz 2 VerfGGBbg) eine Entscheidung vor Erschöpfung des Rechtswegs ausnahmsweise zuläßt (vgl. zur weitgehend entsprechenden Regelung des § 27 Abs. 2 Satz 2 SächsVerfGHG wiederum BVerfG, a.a.O., S. 37), bedarf aus Anlaß dieses Falles, bei dem eine solche Vorabentscheidung nicht in Rede steht, keiner Klärung.

2. Weiter beruht die behauptete Beschwer der Beschwerdeführer auf der Entscheidung eines Gerichts des Landes Brandenburg; ein Bundesgericht war nicht befaßt (vgl. hierzu abermals BVerfG a.a.O.).

3. Die als verletzt gerügten Landesgrundrechte bzw. grundrechtsgleichen Gewährleistungen sind ferner inhaltsgleich mit den entsprechenden Rechten des Grundgesetzes (vgl. zu dieser Voraussetzung ebenfalls BVerfG, a.a.O., S. 37 ff.). Der Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 52 Abs. 3 LV entspricht insoweit Art. 103 Abs. 1 GG. Das ebenfalls in Art. 52 Abs. 3 LV verankerte Willkürverbot entspricht dem aus Art. 3 Abs. 1 GG abzuleitenden Verbot willkürlicher gerichtlicher Entscheidungen (vgl. hierzu etwa BVerfGE 74, 102, 127 m.w.N.). Das auf Landesverfassungsebene ausdrücklich normierte Gebot des fairen Verfahrens (Art. 52 Abs. 4 LV) ergibt sich auf Bundesverfassungsebene als Ableitung aus dem Rechtsstaatsprinzip (vgl. hierzu etwa BVerfGE 78, 123, 126). Die genannten Rechte sind jeweils “inhaltsgleich”, denn sie führen im konkreten Fall, wie sogleich dargelegt, zu demselben Ergebnis.

II.

Die von den Beschwerdeführern angeführten Landesgrundrechte (und die ihnen entsprechenden Rechte des Grundgesetzes) sind durch das Urteil des Amtsgerichts Bad Freienwalde vom 30. September 1997 nicht verletzt worden.

1. Das angegriffene Urteil verstößt nicht gegen den als verletzt gerügten Grundsatz rechtlichen Gehörs nach Art. 52 Abs. 3 LV, 103 Abs. 1 GG. Diese Verfassungsnormen gewähren den Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens zwar ein Recht darauf, sich zu den entscheidungserheblichen Fragen vor Erlaß der Entscheidung zu äußern. Sie verpflichten das Gericht aber nicht, die Verfahrensbeteiligten von sich aus auf alle entscheidungserheblichen Umstände hinzuweisen oder solche Hinweise gar zu wiederholen. Erst wenn das Gericht in der Entscheidung auf einen Aspekt abstellt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozeßvertreter nicht zu rechnen braucht, kann dies als “Überraschungsurteil” eine Verletzung des rechtlichen Gehörs begründen (vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Beschluß vom 16. Oktober 1997 - VfGBbg 25/97 -, Seite 12 des Entscheidungsumdrucks; vgl. auch BVerfG, NJW 1996, 454).

Daran gemessen ist das angegriffene Urteil nicht zu beanstanden. Die Beschwerdeführer wußten aufgrund des richterlichen Hinweises in der Ladungsverfügung, daß das Gericht die Klage für unschlüssig hielt. Sie hatten danach Gelegenheit, zur Passivlegitimation der Beklagten schriftsätzlich und in der mündlichen Verhandlung weiter vorzutragen. Damit war dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs Genüge getan. Das Gericht war nicht verpflichtet, die anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer erneut auf den Aspekt der Passivlegitimation hinzuweisen. Es durfte davon ausgehen, daß der Prozeßbevollmächtigte der Beschwerdeführer aufgrund des Hinweises in seinem nachfolgenden Schriftsatz und in der mündlichen Verhandlung nunmehr alles ihm erforderlich Erscheinende zu dieser Frage geltend machen würde.

2. Die Verfahrensweise des Amtgerichts begründet aus demselben Grunde auch keinen Verstoß gegen den ebenfalls als verletzt gerügten Grundsatz des fairen Verfahrens (Art. 52 Abs. 4 LV; 20 Abs. 3 GG). Das Vorgehen des Gerichts entsprach insoweit den Verfahrensvorschriften.

3. Das angegriffene Urteil verstößt ferner nicht gegen das Willkürverbot der Art. 52 Abs. 3 LV, 3 Abs. 1 GG. Willkürlich ist eine Entscheidung erst dann, wenn sie unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt vertretbar ist und sich deshalb der Schluß aufdrängt, sie beruhe auf sachfremden Erwägungen (ständige Rechtsprechung des Verfassungsgerichts des Landes Brandenburg, vgl. etwa Beschluß vom 20. Januar 1997 - VfGBbg 45/96 -, NJ 1997, 307 m.w.N.; vgl. auch BVerfGE 89, 1, 13 f.). So liegen die Dinge hier jedoch nicht. Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen, weil die Beschwerdeführer nicht schlüssig vorgetragen hätten, daß die Beklagte die Vermieterin der Wohnung sei, und auch die Beklagte selbst eine solche Vermieterstellung nicht schlüssig behauptet habe. Über diese fachrichterliche Wertung des Parteivortrags mag sich freilich streiten lassen. Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 11. September 1997 immerhin vorgetragen, nach ihrer Praxis der Betriebskostenabrechnung verführen alle Großvermieter und so verfahre auch sie gegenüber ihren Mietern. Darin könnte das Eingeständnis gesehen werden, selbst Vermieterin zu sein. Hätte das Amtsgericht dies so gewürdigt, hätte sich die dann naheliegende Prüfung anschließen müssen, ob die Beschwerdeführer sich diesen Vortrag der Beklagten durch ihr weiteres prozessuales Verhalten, insbesondere den Schriftsatz ihres Prozeßbevollmächtigten vom 25. September 1997, zu eigen gemacht haben. Jedenfalls wäre es dem Amtsgericht in einer solchen Situation nicht verwehrt gewesen und hätte es ggfls. sogar nahegelegen, nochmals nach der Vermieterstellung der Beklagten zu fragen, um sich insoweit Klarheit zu verschaffen.

Gleichwohl liegt noch kein Verfassungsverstoß vor. Willkürlich ist eine Entscheidung nach dem oben Dargelegten erst dann, wenn sie - jenseits der richtigen Anwendung des einfachen Rechts - ganz und gar unverständlich erscheint und das Recht in einer Weise falsch anwendet, die jeden Auslegungs- oder Bewertungsspielraum überschreitet (vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Beschluß vom 14. August 1996 - VfGBbg 23/95 -, LVerfGE 5, 67, 72 m.w.N.). Dies ist stets eine Frage des Einzelfalls. Insoweit ist hier zu berücksichtigen, daß der Vortrag der Beklagten zur Praxis der Betriebskostenabrechnung, wenn auch in diesem Sinne auslegbar, jedenfalls nicht klar und eindeutig die Behauptung enthielt, selbst Vermieterin zu sein, wie es von einer anwaltlich vertretenen Partei erwartet werden kann. Die Vermieterstellung verstand sich auch nicht ohne weiteres von selbst, da die Beklagte in Mietprozessen vor dem Amtsgericht Bad Freienwalde teils als Vermieterin, teils als Verwalterin aufgetreten ist. Auch die Vorlage des Grundbuchauszugs mußte das Amtsgericht angesichts des komplizierten rechtlichen Schicksals des kommunalen Wohnungsbestands im Zuge der deutschen Wiedervereinigung und des gerade deshalb möglichen Auseinanderfallens von Eigentümer- und Vermieterstellung nicht notwendigerweise in diesem Sinne werten. Zu berücksichtigen ist ferner, daß die Beschwerdeführer selbst auf den Hinweis des Gerichts hin von sich aus nichts Substantielles zur Passivlegitimation vorgetragen, sondern auf die - hier erkennbar unproblematische - Partei- und Prozeßfähigkeit der Beklagten abgehoben haben. Sie haben schließlich ihre ursprüngliche Behauptung, die Beklagte sei Verwalterin, nicht - jedenfalls nicht ausdrücklich - zurückgenommen und statt dessen eine Vermieterstellung der Beklagten behauptet, sondern sich auf eine zwar in diesem Sinne auslegbare (s.o.), aber eben doch nicht unmißverständliche Formulierung zurückgezogen. Insgesamt erscheint dem Verfassungsgericht deshalb die fachgerichtliche Wertung nicht eklatant fehlerhaft und somit nicht willkürlich. Die Verantwortung für die Richtigkeit des Urteils bleibt damit beim Amtsgericht.

Dr. Macke Dr. Dombert
Prof. Dr. Harms-Ziegler Dr. Knippel
Prof. Dr. Mitzner Prof. Dr. Schöneburg
Prof. Dr. Schröder Weisberg-Schwarz
Prof. Dr. Will