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Bericht über die Arbeit des Verfassungsgerichts des Landes Brandenburg im Jahre 2017

Fundstelle der Erstveröffentlichung: LKV 4/2018, S. 159 ff.

RiSG Jörg Pösse (Michendorf)*

 

  1. Allgemeines

 

Im Jahr 1992 wurde die Brandenburgische Verfassung als erste Landesverfassung der neuen Bundesländer in einem Volksentscheid mit großer Mehrheit angenommen. 25 Jahre später luden Verfassungsgerichtspräsident Jes Möller, Landtagspräsidentin Britta Stark und Ministerpräsident Dietmar Woidke zu einem gemeinsamen Festakt in den Potsdamer Nikolaisaal. Zu den Gästen zählten neben zahlreichen ehemaligen und aktiven Landtags- und Bundestagsabgeordneten, ehrenamtlich engagierten Bürgerinnen und Bürgern auch der frühere Ministerpräsident Manfred Stolpe und der einstige Verfassungsgerichtspräsident Rüdiger Postier. Nach einem Rückblick auf den Entstehungsprozess der Verfassung, der vom Bestreben nach parteiübergreifenden Kompromissen geprägt war (sog. „Brandenburger Weg“), warf Verfassungsgerichtspräsident Möller auch ein Schlaglicht auf den gegenwärtigen Zustand der Justiz im Land Brandenburg.

 

Anlässlich eines Arbeitsbesuchs im Rahmen des deutsch-chinesischen Richteraustausches in Zusammenarbeit mit der Robert-Bosch-Stiftung und der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit informierte sich eine chinesische Delegation über die Arbeit und rechtliche Stellung des Verfassungsgerichts und erhielt Einblick in dessen fallbezogene Tätigkeit. Der Präsident des Gerichts nahm an einer Fachtagung der Deutschen Stiftung für Internationale Rechtliche Zusammenarbeit im Dialog mit dem belarussischen Verfassungsgericht zum Thema „Schutz der Grundrechte durch das Verfassungsgericht“ in Minsk teil und erläuterte dabei den direkten und indirekten Weg des Bürgers zum Verfassungsgericht und dessen Rolle nach deutschem Recht sowie die Erfahrungen mit der Individualverfassungsbeschwerde. Nicht zuletzt wurde im Rahmen eines Arbeitstreffens der kollegiale Austausch mit dem Verfassungsgerichtshof Berlin gepflegt.

 

Auf Grundlage des bereits im Vorjahr an den Landtag gerichteten Entwurfs für eine Änderung des Brandenburgischen Verfassungsgerichtsgesetzes[1] haben die Fraktionen der SPD, DIE LINKE, CDU und BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN nunmehr einen gemeinsamen Gesetzentwurf in den Landtag eingebracht[2].

 

Die Entscheidungssammlung des BbgVerfG wurde im Berichtszeitraum fortgeführt. Entscheidungen von inhaltlicher Relevanz werden unter der Internetadresse „www.verfassungsgericht.brandenburg.de“ zeitnah zu den jeweiligen Beratungen des Gerichts veröffentlicht und sind dort kostenfrei abrufbar. Derzeit umfasst die Datenbank etwa 1260 Entscheidungen in anonymisierter Form. Zudem findet sich in Band 27 der Entscheidungssammlung der Verfassungsgerichte der Länder (LVerfGE), die fortlaufend die wichtigsten Entscheidungen des BbgVerfG sowie zwölf weiterer Landesverfassungsgerichte dokumentiert, eine Auswahl der Entscheidungen des BbgVerfG aus dem Jahr 2016.

 

 

  1. Statistik

 

Im Jahr 2017 sind 210 Verfahren (198 Hauptsacheverfahren und 12 Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung) beim BbgVerfG eingegangen. Wie bereits in den Vorjahren entfiel auch in 2017 der weit überwiegende Teil der Verfahren auf Individualverfassungsbeschwerden (192 Hauptsache- und alle Eilverfahren). Neu eingegangen sind im Berichtszeitraum fünf Kommunalverfassungsbeschwerden und ein Organstreit. Im Vergleich zum Vorjahr hat sich die Zahl der Eingänge damit mehr als verdoppelt, was - mit Ausnahme des durch die damalige Gemeindegebietsreform beeinflussten Jahres 2003 - zum höchsten Stand seit Errichtung des Gerichts im Jahre 1993 führte.

 

Zwar steht den gestiegenen Eingängen mit insgesamt 97 abgeschlossenen Verfahren auch eine erhebliche Steigerung erledigter Verfahren gegenüber, jedoch konnte ein deutlicher Anstieg offener Verfahren im Vergleich zum Vorjahr dadurch nicht verhindert werden. Die durchschnittliche Verfahrensdauer der erledigten Verfahren war bei den Individualverfassungsbeschwerden mit 6 Monaten in den Hauptsacheverfahren und einem Monat in den Eilverfahren erneut niedrig. Anträge auf Erlass einstweiliger Anordnungen, die mit (letztlich erfolglosen) Verfassungsbeschwerden verbunden wurden, wurden überwiegend mit diesen zusammen entschieden und teilten deren rechtliches Schicksal.

 

Mit sieben (teil-)erfolgreichen Individualverfassungsbeschwerden war die Zahl erfolgreicher Verfahren außergewöhnlich hoch. Sieben Individualverfassungsbeschwerden wurden nach Rücknahme durch die Beschwerdeführenden eingestellt. Bis auf eine Ausnahme nahmen die erfolgreichen Verfassungsbeschwerden jeweils ihren Ausgang im Bereich der Sozialgerichtsbarkeit. Dies dürfte unter anderem auf die seit der Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe durch das Vierte Gesetz zur Modernisierung des Arbeitsmarktes („Hartz-IV“) im Jahr 2005 andauernde Überbelastung der Sozialgerichte zurückzuführen sein. Im Hinblick auf die nunmehr ebenfalls Besorgnis erregenden Bestände in der Verwaltungsgerichtsbarkeit als Folge der rasant angestiegenen Asylverfahrenszahlen bereitet auch hier der weitere Ausblick erhebliche Sorgen.

 

Eine Kommunalverfassungsbeschwerde war erfolgreich, eine weitere mit demselben Gegenstand wurde nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts eingestellt.

 

Anhängig ist – neben drei Kommunalverfassungsbeschwerden – auch ein Organstreitverfahren, das im Jahr 2018 zu entscheiden sein wird. Daneben bilden Verfahren aus der Sozialgerichtsbarkeit bei den zahlreichen anhängigen Individualverfassungsbeschwerden einen Schwerpunkt der Arbeit des Verfassungsgerichts im laufenden Jahr. In insgesamt 123 Verfahren wenden sich die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer gegen entsprechende Entscheidungen des Sozialgerichts im Kostenerinnerungsverfahren, die im Wesentlichen inhaltsgleich bereits Gegenstand von erfolgreichen Verfassungsbeschwerden im Berichtszeitraum waren.

 

 

III. Rechtsprechung

 

Auch die weit überwiegende Anzahl der im Berichtszeitraum gefassten Beschlüsse betraf Individualverfassungsbeschwerden. Hier hat sich an dem Befund aus den Vorjahren nichts Wesentliches geändert. Noch immer scheitert ein Großteil der (auch anwaltlich vertretenen) Beschwerdeführer daran, den sich aus den §§ 20 Abs. 1, 46 VerfGGBbg ergebenden Anforderungen an die Begründung der Verfassungsbeschwerde zu genügen. Zusammen mit den Verfahren, die aus anderen Gründen, beispielsweise wegen mangelnder Erschöpfung des Rechtsweges oder infolge nicht fristgerechter Erhebung der Verfassungsbeschwerde, an der Zulässigkeit scheiterten, wurden insgesamt 72 Individualverfassungsbeschwerden verworfen, nur eine als unbegründet zurückgewiesen.

 

  1. Ausgesuchte verfassungsprozessual relevante Entscheidungen

Eine Verfassungsbeschwerde des Kreisverbandes Havelland der Piratenpartei, die das Erfordernis von Unterstützungsunterschriften für die Wahl zur Gemeindevertretung betraf[3],

hat das BbgVerfG neben weiteren nicht erfüllten Zulässigkeitsvoraussetzungen in Bezug auf eine Entscheidung des Landeswahlausschusses insoweit als unzulässig verworfen, wie die Verfassungsbeschwerde nicht durch den satzungsmäßigen Vertreter erhoben worden ist.

Die Einleitung oder Erweiterung eines Verfassungsrechtsstreits einer politischen Partei gehört grundsätzlich zu der dem Vorstand einer Partei obliegenden Geschäftsführung[4]. Der Vorstand vertritt den Gebietsverband gemäß § 11 Abs. 3 Satz 2 Parteiengesetz in Verbindung mit § 26 Abs. 1 Satz 2 und 3 BGB gerichtlich und außergerichtlich, soweit nicht die Satzung eine abweichende Regelung trifft. Nach der hier maßgeblichen Satzung des Kreisverbandes der Piratenpartei wird der Vorstand jedoch nach innen und außen von mindestens zwei Vorstandsmitgliedern gemeinsam vertreten.[5] Die durch ergänzenden Schriftsatz zusätzlich angegriffene Entscheidung des Landeswahlausschusses war zwar durch den Vorsitzenden, nicht jedoch zugleich von den übrigen Mitgliedern des Parteivorstandes unterzeichnet worden.

 

Das BbgVerfG hatte erneut Anlass, seine Rechtsprechung zu den Anforderungen auch im Hinblick auf die Einhaltung der Verfassungsbeschwerdefrist zu schärfen. Die Beschwerdebegründung erfordert in dieser Hinsicht ausreichende Darlegungen durch die Beschwerdeführer. Liegen zwischen dem Datum der letzten Entscheidung des Ausgangsgerichts (hier: der die Anhörungsrüge zurückweisende Beschluss) und dem Datum der Erhebung der Verfassungsbeschwerde mehr als 2 Monate[6], so muss der Beschwerdeführer in der Begründung darlegen, wann ihm die fachgerichtliche Entscheidung zugegangen ist. Ansonsten kann das Verfassungsgericht die Einhaltung der Beschwerdefrist nicht eigenständig prüfen. Fehlen diese Angaben, so ist die Verfassungsbeschwerde mangels ausreichender Begründung unzulässig. Dabei kann eine nach Fristablauf eingehende weitere Begründung nur Berücksichtigung finden, soweit sie sich als Ergänzung oder Vertiefung zu einem Vortrag darstellt, der seinerseits den Anforderungen der § 20 Abs. 1 Satz 2, § 46 VerfGGBbg entspricht.[7] Nach Fristablauf erfolgende Begründungen, in diesem Fall eine anwaltliche Versicherung über das Zustellungsdatum der maßgeblichen Entscheidung, oder beim Verfassungsgericht eingereichte Unterlagen können – so das Gericht - eine ursprünglich mangels ausreichender Begründung unzulässige Verfassungsbeschwerde nicht mehr zulässig machen. Die betroffene Verfassungsbeschwerde wurde dementsprechend als unzulässig verworfen.[8] Eine dagegen gerichtete weitere Verfassungsbeschwerde hat das BVerfG ohne weitere Begründung nicht zur Entscheidung angenommen.[9]

 

Mit der Verfassungsbeschwerde wandte sich ein Beschwerdeführer gegen die Entscheidungen der Verwaltungsgerichte, mit der die Umbettung seiner verstorbenen Ehegattin in ein anderes Grab in Wohnortnähe verweigert wurde.[10] Die gegen die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg auf den Antrag auf Zulassung der Berufung gerichtete Verfassungsbeschwerde hatte keinen Erfolg. Sie genügte dem Grundsatz der materiellen Subsidiarität nicht. Dieser verlangt insbesondere dann die Geltendmachung eines Grundrechtsverstoßes bereits im fachgerichtlichen Verfahren, wenn das einfache Verfahrensrecht rechtliche Darlegungen zur Richtigkeit der angegriffenen Entscheidung im Rechtsmittelverfahren (hier beim Antrag auf Zulassung der Berufung) erfordert. Daran fehlte es hier insbesondere deshalb, weil der vom Beschwerdeführer geltend gemachte Umbettungsanspruch nur dann Aussicht auf Erfolg haben konnte, wenn verfassungsrechtliche Erwägungen zuvor bereits in das fachgerichtliche Verfahren eingeführt worden wären. Dies ist insbesondere dann zu fordern, wenn eine bestimmte Normauslegung angestrebt wird, die ohne verfassungsrechtliche Erwägungen nicht begründbar ist, oder wenn der Ausgang des Verfahrens von der Verfassungswidrigkeit einer Vorschrift abhängt[11]. Da der Beschwerdeführer den Umbettungsanspruch unter anderem damit begründete, es solle damit eine „Familienzusammenführung“, also das wohnortnahe Begräbnis der verstorbenen Ehefrau zum Zwecke der Ausübung der Totenfürsorge erreicht werden, hätte es zu Begründung der Verfassungsbeschwerde jedenfalls eines umrisshaften Vortrages dahingehend bedurft, dass das bisherige, herrschende Verständnis von den an eine Umbettung zu stellenden Voraussetzungen Grundrechten des überlebenden Ehegatten nicht angemessen Rechnung trägt und daher einer Korrektur bedürfe. Daran scheiterte die Verfassungsbeschwerde letztlich, da die wesentlichen grundrechtlichen Erwägungen erstmals mit der Beschwerdeschrift vorgenommen wurden, jedoch keinen Eingang in den Antrag auf Zulassung der Berufung gefunden hatten. Die gewichtigen mit der Verfassungsbeschwerde aufgeworfenen Fragen des Grundrechtsschutzes im Bestattungsrecht konnte das BbgVerfG daher nicht mehr entscheiden.

 

 

 

  1. Weitere Verfahren

 

  1. a) Einsicht in Unterlagen der Brandenburgischen Mindestlohnkommission

In einem Organstreitverfahren eines Mitgliedes des Landtages begehrte der Abgeordnete die Feststellung, die Landesregierung habe ihm unter Verstoß gegen sein Recht auf Akteneinsicht aus Art. 56 Abs. 3 Satz 2 BbgVerf die Einsichtnahme in ein Votum der Kommission zur Anpassung des Entgeltsatzes nach dem Brandenburgischen Vergabegesetz zur Anpassung des Mindestlohns i.S.d. § 3 Abs. 3 BbgVergG (Mindestlohnkommission) wiedergebende „Leitungsvorlage“ des zuständigen Ministeriums verweigert.[12] Der Antrag blieb im Wesentlichen ohne Erfolg. Die Landesregierung war jedenfalls bis zum Abschluss des kabinettsinternen Willensbildungsprozesses befugt, die Einsicht in die Leitungsvorlage zu verweigern.

 

Das Gericht zeichnete dabei zunächst seine bisherige Rechtsprechung zum Inhalt und zur Reichweite des Akteneinsichtsrecht der Abgeordneten nach Art. 56 Abs. 3 Satz 2 BbgVerf nach[13]. Dieses Recht sei jedoch seinerseits nicht schrankenlos gewährt und im Lichte anderer Verfassungsbestimmungen zu betrachten. Insbesondere sei der „Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung“ der parlamentarischen Ausforschung nicht zugänglich und beschränke das Akteneinsichtsrecht unabhängig davon, ob Akteneinsicht vom Parlament, einem Ausschuss oder einem einzelnen Abgeordneten begehrt werde. Ausgehend davon bestehe schon grundsätzlich vor einer Befassung des Kabinetts mit der Angelegenheit kein Akteneinsichtsrecht des Abgeordneten. Daran ändere sich auch nichts dadurch, dass es im vorliegenden Fall um solche Unterlagen gehe, die nicht unmittelbar dem Bereich der Landesregierung, sondern einem Gremium zuzuordnen seien, das aufgrund eines Gesetzes und mit dem Zweck eingerichtet worden sei, einen Vorschlag für eine gesetzliche Regelung des Mindestlohns zu unterbreiten. Organisationsrechtlich und funktionell sei die Mindestlohnkommission der Landesregierung zuzuordnen. Besondere Bedeutung erlangte dabei der Umstand, dass das Dokument, in das Akteneinsicht begehrt wurde, von einer Mitarbeiterin des zuständigen Ministeriums in dienstlicher Funktion als sog. Leitungsvorlage erstellt worden war. Das Gericht hat sich auch mit der Frage befasst, ob die Befassung der Mindestlohnkommission wie ein extern erstelltes Gutachten zu behandeln gewesen wäre. Das BbgVerfG verneinte dies und hält die Mindestlohnkommission für eine der Landesregierung zugeordnete Einrichtung, die dem Anwendungsbereich von Art. 56 Abs. 3 BbgVerf unterfällt.

 

Die Landesregierung ist im Hinblick auf die Begründung ihrer ablehnenden Entscheidung jedenfalls bis zum Abschluss der regierungsinternen Willensbildung nur gehalten, die Gründe darzustellen, aus denen heraus die angeforderten Dokumente (noch) diesem Willensbildungsprozess zuzuordnen sind.[14]

 

Erfolgreich war der Antrag lediglich im Hinblick auf die nach Abschluss der Kabinettbefassung verweigerte Einsichtnahme in die Leitungsvorlage. Die dafür von der Landesregierung herangezogene Begründung genügte nach Auffassung des BbgVerfG verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht. Das Gericht betonte in diesem Zusammenhang, die Landesregierung müsse eine gewissenhafte Abwägung des Geheimhaltungsinteresses mit dem Informationsinteresse des Abgeordneten vornehmen. Dabei seien die wesentlichen Gesichtspunkte, die die Verweigerung der Aktenvorlage objektiv tragen, zu benennen und in die Überlegungen einzubeziehen. Daraus ergäben sich konkrete Anforderungen an die Bezugnahme auf die konkreten Umstände des Falls und die Darstellung überprüfbarer Anknüpfungstatsachen, so dass dem die Akteneinsicht beantragenden Abgeordneten die Möglichkeit eröffnet sei, die ablehnende Entscheidung auf ihre Tragfähigkeit sowie Plausibilität zu überprüfen. Das Gericht hielt diese Anforderungen im Hinblick auf die der Kabinettfassung zeitlich nachfolgende Entscheidung für nicht erfüllt.

 

In einem Sondervotum des Verfassungsrichters Dr. Becker vertritt dieser die Auffassung, die Landesregierung sei auch vor Kabinettbefassung nicht berechtigt gewesen, die Einsicht in die Unterlagen der Mindestlohnkommission zu verweigern. Diese sei kein der Landesregierung zuzuordnendes Gremium. Der Vorschlag der Kommission lasse sich von der Meinungsbildung der Landesregierung trennen. Daran ändere sich auch nichts dadurch, dass das Kommissionsvotum Teil einer Leitungsvorlage eines Ministeriums sei.

 

 

  1. b) Ordnungsruf für ein Mitglied des Brandenburgischen Landtages

Den Antrag eines Mitglieds des Brandenburgischen Landtages in einem weiteren Organstreitverfahren hat das Gericht durch einstimmigen Beschluss als unbegründet zurückgewiesen. Die Präsidentin des Landtages hatte dem Abgeordneten für seine Äußerung, die Mitglieder der Fraktion DIE LINKE seien „überwiegend Lügner“ einen Ordnungsruf nach Art. 35 der Geschäftsordnung des Landtages Brandenburg (GO-LT) erteilt. Dies ist nach der Entscheidung des BbgVerfG verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.[15] Das in Art. 56 Abs. 2 Satz 1 BbgVerf verbürgte Rederecht des Abgeordneten werde nicht schrankenlos gewährt, sondern durch die vom Parlament innerhalb der ihm zustehenden Geschäftsordnungsautonomie aufgestellten Regeln begrenzt. Die in der Geschäftsordnung enthaltenen Interventionsmaßnahmen der Präsidentin seien für sich genommen verfassungsrechtlich unbedenklich, da die Möglichkeit, Ordnungsmaßnahmen zu verhängen, nicht mit den Abgeordnetenrechten schlechthin unvereinbar ist. Der Begriff der parlamentarischen Ordnung stelle einen unbestimmten, ausfüllungsbedürftigen Rechtsbegriff dar. Ob eine Ordnungsverletzung gegeben sei, unterliege der Beurteilung durch die jeweilige Sitzungsleitung. Die Prüfung des Verfassungsgerichts habe dabei dem Prinzip der Parlamentsautonomie Rechnung zu tragen und sei darauf beschränkt, ob bei der Erteilung des Ordnungsrufes bestehende Verfahrensbestimmungen eingehalten worden sind, nicht von einem erkennbar fehlsamen Verständnis der relevanten anzuwendenden Rechtsbegriffe ausgegangen und ein zutreffender Sachverhalt zugrunde gelegt worden sei, ob die allgemein gültigen Wertungsmaßstäbe eingehalten und das Willkürverbot nicht verletzt worden sei. Im Übrigen sei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Daran gemessen war nach Auffassung des BbgVerfG nicht zu erkennen, dass die Erteilung eines Ordnungsrufs für die Äußerung, die Mitglieder einer anderen Fraktion seien „überwiegend Lügner“ gegen die Landesverfassung verstößt. Das Gericht entnahm der Entscheidung der Sitzungsleitung die erkennbar zutage getretene Einschätzung, durch die Wortwahl des Antragstellers komme eine Haltung zum Ausdruck, nach der den angesprochenen Parlamentariern der Fraktion DIE LINKE durch die Zuschreibung bewusst unwahrer Aussagen in der Vergangenheit das Mindestmaß an Achtung und Rücksicht zu versagen sei. Vor diesem Hintergrund sei ein Ordnungsruf verfassungsrechtlich vertretbar. Ein Vergleich mit in der Vergangenheit sanktionierten Äußerungen dieser Art in anderen Parlamenten lege nahe, dass die Bezeichnung als Lügner grundsätzlich als Verletzung der parlamentarischen Ordnung angesehen werden könne. Unverhältnismäßig sei der Ordnungsruf auch vor dem Hintergrund der politischen Auseinandersetzung über das konkrete Thema innerhalb der Debatte nicht. Im Hinblick auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip habe sich die Präsidentin des Landtages auch nicht auf eine formlose, von der Geschäftsordnung des Landtages auch nicht ausdrücklich vorgesehene Rüge beschränken müssen.

 

  1. c) Konnexitätsprinzip

Mit Urteil vom 20. Oktober 2017[16] hat das BbgVerfG die kommunale Verfassungsbeschwerde von vier kreisfreien Städten Brandenburgs gegen verschiedene Vorschriften der Kostenerstattung für Aufwendungen betreffend die Gewährung von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung im brandenburgischen Ausführungsgesetz zum SGB XII (Sozialhilfe) zurückgewiesen.

Die Kommunen hatten diese Vorschriften am Maßstab des Konnexitätsprinzips in der Fassung des Art. 87 Abs. 3 Satz 2 und 3 BbgVerf in der Fassung vom 7. April 1999 zur Überprüfung gestellt. Sie machten insbesondere geltend, die im Gefolge verschiedener Änderungen des Bundesrechts neu strukturierten landesrechtlichen Vorschriften bewirkten eine erstmalige Aufgabenübertragung auf die örtlichen Träger der Sozialhilfe. Die gesetzliche Neuregelung führe trotz steigender Erstattungen der Zweckkosten durch den Bund zu einer anwachsenden Mehrbelastung der örtlichen Träger mit Verwaltungskosten, ohne dass das Gesetz den verfassungsrechtlich zwingend gebotenen Mehrbelastungsausgleich gewährleiste. Auch genüge die bloße Weiterleitung der Bundesbeteiligung ohne Begründung einer Leistungspflicht des Landes nicht den an einen Mehrbelastungsausgleich zu stellenden Anforderungen. Die Kommunalverfassungsbeschwerde hatte keinen Erfolg. Das BbgVerfG konnte eine konnexitätsrelevante Mehrbelastung durch die Aufgabenübertragung nicht erkennen, so dass nach Auffassung des Gerichts bereits der Tatbestand von Art. 97 Abs. 3 LV nicht erfüllt sei. Zunächst bestätigte das BbgVerfG seine ständige Rechtsprechung, dass eine erneute, die bisherige Aufgabenzuweisung ablösende Aufgabenübertragung auch dann anzunehmen ist, wenn eine neue Rechtsgrundlage für eine schon vorher wahrgenommene Aufgabe geschaffen wird. Dies war vorliegend schon deshalb anzunehmen, weil der Gesetzgeber die bisherige, auf bundesrechtlicher bzw. verordnungsrechtlicher Grundlage bestehende Zuständigkeit der Kreise und kreisfreien Städte für die Aufgaben der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsunfähigkeit nunmehr auf eine landesgesetzliche Grundlage gestellt und dabei auch die Art der Aufgabe einer Veränderung unterzogen hatte.

 

Im Ergebnis – so das Gericht – fehle es jedoch daran, dass die beschwerdeführenden kreisfreien Städte einer finanziellen Mehrbelastung ausgesetzt seien. Entscheidend sei insoweit, ob den Kommunen aufgrund der ursächlich auf die Aufgabenzuweisung zurückzuführenden Kosten trotz der zutreffenden Kostendeckungsregelung eine höhere finanzielle Belastung verbleibe, die zu einer Verringerung des den Gemeinden zur Erfüllung ihrer Selbstverwaltungsangelegenheiten zur Verfügung stehenden finanziellen Spielraums führen würde.[17] Bei der Bestimmung der nach Art. 97 Abs. 3 Satz 2 BbgVerf erforderlichen Kostendeckungsregelung stehe dem Gesetzgeber ein weitgehender Gestaltungsspielraum, insbesondere hinsichtlich der Methode der Kostendeckung zu, im Ergebnis seien jedoch die Auswirkungen der Aufgabenüberbürdung zu neutralisieren. Darauf bezogen sei ein fehlender Kostenausgleich im Bereich der Geldleistungen für Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nicht ersichtlich. Die Zweckausgaben seien durch die Weiterleitung von Bundesmitteln, die Inanspruchnahme freigesetzter kommunaler Mittel und einem verminderten Aufwand gedeckt. Auch die vom Landesgesetzgeber vorgenommene Kostenfolgeschätzung war nach Auffassung des BbgVerf verfassungsrechtlich unbedenklich. Bereits eine überschlägige Betrachtung des in diesem Ausnahmefall gegebenen Dreiecksverhältnisses von Bund, Land und Kommune ergebe, dass die in den Blick genommenen Finanzierungsinstrumente sowohl im Hinblick auf die Sach- als auch auf die Verwaltungskosten evident auskömmlich seien. An der auf längere Sicht bestehenden Kontrollpflicht im Hinblick auf die Einhaltung der Kostendeckung hielt das BbgVerfG jedoch auch in dieser Entscheidung fest.

 

 

  1. d) Vertretung amtsangehöriger Gemeinden in kommunalen Zweckverbänden

Mit der Kommunalverfassungsbeschwerde haben drei amtsangehörige Gemeinden den neugefassten § 19 Abs. 3 des Gesetzes über die kommunale Gemeinschaftsarbeit im Land Brandenburg (BbgGKG)[18] zur Mitgliedschaft und Stimmabgabe in der Verbandsversammlung von Zweckverbänden angegriffen und einen Verstoß gegen das ihnen durch Art. 97 Abs. 1, 3 BbgVerf garantierte kommunale Selbstverwaltungsrecht (in Form der Kooperationshoheit) geltend gemacht. Dieser liege darin begründet, dass es ihnen nach der Neuregelung verwehrt sei, einen Vertreter aus den Reihen ihrer Vertretungskörperschaft in die Verbandsversammlungen der Zweckverbände (zur Wasserversorgung und Abwasserentsorgung) zu entsenden, wie dies auf Grundlage der zuvor geltenden Gesetzeslage der Fall gewesen sei. Nunmehr bestimme § 19 Abs. 3 BbgGKG, dass die Vertretung amtsangehöriger Gemeinden durch den Hauptverwaltungsbeamten, den Amtsdirektor, zu erfolgen habe. Hierdurch würden die ihnen von Verfassungs wegen zustehenden Mitsprache- und Entscheidungsrechte beeinträchtigt, ohne dass es hinreichend gewichtige Sachgründe zur Rechtfertigung dieses Eingriffs gebe.

 

Die Kommunalverfassungsbeschwerde war erfolgreich. Die kommunale Selbstverwaltungsgarantie enthalte die Befugnis, darüber zu befinden, ob eine bestimmte Aufgabe eigenständig oder gemeinsam mit anderen Verwaltungsträgern wahrgenommen wird und ob zu diesem Zweck gemeinsame Institutionen, etwa ein Zweckverband, gegründet werden (Organisations- und Kooperationshoheit). Bei Einschränkungen dieser Befugnis sei daher zwischen Regelungen zu unterscheiden, die die äußeren Grundstrukturen und solchen, die den inneren Verwaltungsaufbau betreffen[19]. Seien – wie hier – Fragen des inneren Verwaltungsaufbaus betroffen, müsse der Gemeinde grundsätzlich ein Spielraum vorbehalten sein, im Rahmen des vorgezeichneten Grundorganisationsschemas ihre innere Organisation eigenständig zu regeln[20]. Belasse der Gesetzgeber den Gemeinden in diesem Bereich einen solchen Raum zu selbstverantwortlichen Maßnahmen, finde eine verfassungsgerichtliche Kontrolle dahin, ob die von ihm getroffenen Organisationsentscheidungen auf hinreichend gewichtigen Zielsetzungen beruhen, grundsätzlich nicht statt. Hätten die Gemeinden zu geringe Entfaltungsmöglichkeiten, unterliege er einem spezifischen Rechtfertigungsbedarf für seine Normierung; die gesetzlichen Regelungen müssten dann von hinreichend gewichtigen Gründen getragen sein.[21] Daran gemessen hielt das BbgVerfG § 19 Abs. BbgGKG für mit der Verfassung nicht vereinbar. Zwar regele diese Vorschrift zunächst nur die innere Organisation des Zweckverbandes, darüber hinaus werde für die amtsangehörigen Gemeinden aber auch zwingend die Besetzung ihrer mitgliedschaftlichen Vertretung im Zweckverband festgelegt und damit in die innere Organisation der Gemeinde übergegriffen. Daraus, dass die Vorschrift der Gemeinde nicht mehr die Möglichkeit gebe, den Vertreter im Zweckverband selbst zu wählen, sondern zwingend den Amtsdirektor zu entsenden, eröffne die Regelung der Gemeinde keinen hinreichende organisatorischen Spielraum innerhalb dessen ihnen die von Verfassungs wegen gewährleistete Berücksichtigung der örtlichen Gegebenheiten möglich wäre. Ein Weisungsrecht gegenüber dem Amtsdirektor ändere daran nichts.

 

Dieser Eingriff sei verfassungsrechtlich auch nicht gerechtfertigt. Bei der konkret wahrgenommenen Aufgabe der Wasser- und Abwasserversorgung handele es sich um eine (pflichtige) Selbstverwaltungsaufgabe, so dass nur gewichtige Gründe zur Rechtfertigung herangezogen werden könnten, insbesondere deshalb, weil der Gesetzgeber eine Änderung der Vorschriften über die Vertretung in der Verbandsversammlung erst zu einem Zeitpunkt vorgenommen habe, als die Gemeinde die Entscheidung über das „Ob“ der Aufgabenübertragung auf den Zweckverband bereits getroffen habe. Weder die Gesetzesbegründung noch die Stellungnahme der Landesregierung im Beschwerdeverfahren ließen hinreichend gewichtige Gründe dafür erkennen. Sachliche Mängel bei der Aufgabenwahrnehmung könnten ebenso wenig als ausschlaggebend herangezogen werden wie vermeintlich bestehende Unklarheiten bei der Auslegung der vormals bestehenden Rechtslage. Die nicht auf sachlich-inhaltlichen Überlegungen fußenden gesetzgeberischen Ziele einer besseren Übersichtlichkeit der in § 135 Abs. 4 Brandenburgische Kommunalverfassung (BbgKVerf) geregelten Vertretungsbefugnisse durch Bereinigung einer vermeintlich bestehenden Ausnahme sei dazu jedenfalls von vorneherein ungeeignet.

 

Der durch das BbgVerfG auferlegten Pflicht zur Neuregelung der Vertretungsbefugnis bis zum 1. Dezember 2017 ist der Gesetzgeber mit der Änderung von § 19 Abs. 3 BbgGKG durch das Erste Gesetz zur Änderung des Gesetzes über kommunale Gemeinschaftsarbeit im Land Brandenburg[22] nachgekommen.

 

 

  1. e) Kommunalwahlrechtliche Inkompabilitätsvorschriften

Die Vereinbarkeit kommunalwahlrechtlicher Vorschriften mit dem passiven Wahlrecht aus Art. 22 Abs. 1 BbgVerf war Gegenstand einer weiteren Individualverfassungsbeschwerde[23]. Der Beschwerdeführer erstrebte die Feststellung, dass § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 des Brandenburgischen Kommunalwahlgesetzes (BbgKWahlG) mit der Verfassung nicht vereinbar sei, weil ihm als hauptamtlichem Verbandsvorsteher eines Wasser- und Abwasserverbandes die Mitgliedschaft in der Vertretungskörperschaft einer Mitgliedsgemeinde versagt werde. Die nach Erschöpfung des Rechtsweges gegen die kommunalwahlrechtliche Entscheidung erhobene Verfassungsbeschwerde hatte jedoch keinen Erfolg. Nach Auffassung des BbgVerfG sei der Eingriff in das passive Wahlrecht verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Art. 22 Abs. 5 Satz 3 BbgVerf ermächtige den Landesgesetzgeber zum Erlass von Unvereinbarkeitsregelungen. § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BbgKWahlG halte sich in diesem Rahmen. Es bleibe den vom Tatbestand der Vorschrift erfassten Personen offen, sich zur Wahl zu stellen und im Erfolgsfall zwischen der Ausübung des kommunalrechtlichen Mandats oder der hauptamtlichen Tätigkeit zu entscheiden, so dass kein Fall der Ineligibilität geregelt werde. Zwar komme die Unvereinbarkeit faktisch einem Ausübungsverbot gleich, da sich die Betroffenen regelmäßig gegen die Aufgabe des hauptberuflichen Dienstverhältnisses entscheiden müssten, gleichwohl sei dies im Hinblick auf die Vermeidung von Interessenkonflikten gerechtfertigt. Dem Gesetzgeber stehe dabei ein Einschätzungsspielraum zu, welche Tätigkeiten grundsätzlich einen Interessenkonflikt in sich tragen könnten. Diese seien im vorliegenden Fall auch nicht auszuschließen, da der Verbandsvorsteher als Leiter der Verwaltung des Zweckverbandes, dem insbesondere die Führung der Geschäfte der laufenden Verwaltung, die Vorbereitung und Ausführung der Beschlüsse der Verbandsversammlung sowie die Vertretung des Zweckverbandes in Rechts- und Verwaltungsgeschäften obliegen, in dieser Tätigkeit mittelbar der Kontrolle durch die Gemeindevertretung der Mitgliedsgemeinden unterliege. Der Gesetzgeber müsse auch nicht auf andere rechtliche Instrumente, insbesondere die Vorschriften über den Ausschluss aufgrund Befangenheit zurückgreifen. Eine sachwidrige Differenzierung zwischen unterschiedlichen Beschäftigten vermochte das BbgVerfG nicht zu erkennen.

 

 

  1. g) Sonstiges

Erfolgreich war eine Verfassungsbeschwerde, mit der die Beschwerdeführerin die Nichtzulassung der Berufung in einem Verkehrsunfallrechtsstreit rügte.[24] Nach einem Parkplatzunfall, bei dem die Beschwerdeführerin die Fahrzeugtür gegen ein in eine freie Parklücke einfahrendes Fahrzeug gestoßen und dabei einen Schaden verursacht hatte, verurteilte das Amtsgericht diese zum Schadensersatz, wobei eine Haftungsquote von 70 Prozent festgestellt wurde. Die Berufung wurde nicht zugelassen. Bezüglich der Rechtsmittelentscheidung hat das BbgVerfG die Entscheidung aufgehoben. Das Amtsgericht habe zu Unrecht angenommen, dass die Berufung nicht zuzulassen gewesen sei. Vielmehr sei es von einem bestehenden Rechtssatz abgewichen, indem es annahm, es gebe keine gleich hohen Anforderungen an die Sorgfalt des Fahrers eines Fahrzeugs, der auf einem öffentlich zugänglichen Parkplatz in eine rechtwinklig zur Durchfahrtrichtung angeordnete Parklücke einparken wolle, sowie an die Sorgfalt des Fahrers oder Mitfahrers eines neben dieser Parklücke abgestellten weiteren Fahrzeugs beim Aussteigen, so dass „in der Regel“ bei einer Kollision des einparkenden Fahrzeugs mit einer teilweise geöffneten Fahrzeugtür eines geparkten Fahrzeugs eine hälftige Schadensaufteilung angemessen erscheine. Vielmehr ergebe sich die Haftungsverteilung allein aus den konkreten Umständen. Damit lag jedoch nach Auffassung des BbgVerfG eine Abweichung von obergerichtlicher Rechtsprechung vor.[25] Durch die Nichtzulassung der Berufung bei einem Streitwert unterhalb von 600,00 Euro habe das Amtsgericht somit das Recht auf effektiven Rechtsschutz im Sinne von Art. 10 BbgVerf i. V. m. dem Rechtsstaatsgebot verletzt.

 

Wegen eines Verstoßes gegen den gesetzlichen Richter hat das BbgVerfG eine Entscheidung des Sozialgerichts Cottbus in einem Kostenfestsetzungsverfahren aufgehoben[26]. Der für die Kostenerinnerung zuständige Richter war zuvor von dem Beschwerdeführer wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt worden, verwarf das Befangenheitsgesuch jedoch selbst als unzulässig und entschied sodann unmittelbar auch über die Kostenerinnerung. Beide Entscheidungen verstießen gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter gem. Art. 52 Abs. 1 2. Var. BbgVerf. Das Gericht stellte zunächst klar, dass eine Selbstentscheidung des abgelehnten Richters eine Ausnahme darstelle, die nur dann in Betracht komme, wenn es sich um völlig untaugliche oder rechtsmissbräuchliche Ablehnungsgesuche handele. Es müsse jedenfalls eine Selbstbefassung des abgelehnten Richters mit den vorgetragenen Ablehnungsgründen verhindert werden. Vorauszusetzen sei auch eine vollständige und richtige Erfassung des Inhalts des Ablehnungsgesuchs. Da das Ablehnungsrecht den Prozessbeteiligten zustehe, könne das Gericht dieses nicht deshalb als unzulässig verwerfen, weil der Bevollmächtigte in zahlreichen Verfahren (anderer Mandanten) die gleichen Ablehnungsgründe vorgetragen habe. Daraus lasse sich gerade keine rechtsmissbräuchliche Wiederholung eines früheren Ablehnungsgesuchs ableiten. Infolge dieses Verstoßes gegen den gesetzlichen Richter erwies sich auch die zugleich angefochtene Entscheidung in der Sache als verfassungswidrig und wurde aufgehoben. Diese Entscheidung hat erhebliche Auswirkungen auf die konkrete Praxis des betroffenen Sozialgerichts, da neben dem entschiedenen Verfahren noch eine erhebliche Anzahl weiterer Verfassungsbeschwerden gegen ähnliche Entscheidungen im Kostenfestsetzungsverfahren anhängig sind.  

 

In einem weiteren Verfahren vor dem Sozialgericht Cottbus[27] hat sich das BbgVerfG mit den Anforderungen an die Auslegung von Prozesserklärungen und der Anwendung von Vorschriften über die Erstattung außergerichtlicher Kosten im sozialgerichtlichen Verfahren beschäftigt.

Den Ausgangspunkt stellte ein Kostenfestsetzungsbeschluss der Urkundsbeamtin dar, mit dem die außergerichtlichen Kosten des vorangegangenen Rechtsstreits in der Höhe festgesetzt wurden, wie das beklagte Jobcenter in seiner Antragserwiderung aufgeführt hatte und die Beschwerdeführerin dazu nicht mehr Stellung genommen hatte. Die Urkundsbeamtin führte in dem angegriffenen Beschluss aus, dass die Kosten entsprechend dem „Kostenangebot der Beklagten“ festzusetzen seien, da die Beschwerdeführerin diesem nicht entgegen getreten sei. Der Bevollmächtigte der Beschwerdeführerin reichte sodann einen Schriftsatz beim Sozialgericht ein, der das Aktenzeichen des Ausgangsklageverfahrens angab und die Formulierung enthielt „In Sachen St ./. … lege ich gegen den Kostenfestsetzungsbeschluss Erinnerung ein“. Das Sozialgericht wies diese Erinnerung als unzulässig zurück.

 

Das Verfassungsgericht hat die Vorgehensweise des Sozialgerichts für nicht im Einklang mit dem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutzes (Art. 6 Abs. 1 BbgVerf) gehalten. Die Auslegung des anwaltlichen Schriftsatzes, mit dem Erinnerung gegen die Kostenfestsetzung eingelegt worden ist, verletze dieses Grundrecht, da das Gericht eine nicht mehr vertretbare Auslegung des Wortlauts der Erklärung vorgenommen habe. Dies schloss das BbgVerfG aus der Annahme des Sozialgerichts, die Erinnerung sei nicht deutlich erkennbar im Namen und in Vollmacht des Mandanten erfolgt und die die Wendung „lege ich (...) Erinnerung ein“ mache deutlich, dass die Erinnerung im eigenen Namen des Bevollmächtigten geführt worden sei. Demgegenüber vertritt das BbgVerfG die Auffassung, dass auch die in einem Anwaltsschriftsatz abgegebenen Prozesserklärungen unter Zuhilfenahme ihrer Begründung auslegbar seien. Im Zweifel sei dasjenige gewollt, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der wohlverstandenen Interessenlage entspreche[28]. Daran, dass der Bevollmächtigte im vorliegenden Fall eine Erklärung für die Mandantin abgeben wollte, durfte das Sozialgericht nach Auffassung des BbgVerfG insbesondere vor dem Hintergrund, dass die bereits im Hauptsacheverfahren erteilte Prozessvollmacht auch im Kostenfestsetzungsverfahren Wirkung entfaltet, nicht zweifeln. Jedenfalls hätte das Gericht auf den von ihm angenommenen Mangel der Erklärung hinweisen und darauf hinwirken müssen, dass diese von ihm erstmalig angenommene Unklarheit beseitigt wird. Der Kos­ten­festsetzungsbeschluss sei willkürlich, weil die Bezugnahme auf das sog. „Kostenangebot“ des Beklagten dem Wesen der Kostenfestsetzung widerspreche. Bei den im Sozialgerichtsverfahren festzusetzenden Betragsrahmengebühren obliege es dem Gericht, zu prüfen, in welcher Höhe ein geltend gemachter Anspruch des Kostengläubigers besteht. Der gemäß § 197 Abs. 1 Satz 1 SGG zuständige Urkundsbeamte der Geschäftsstelle habe daher eigenständig zu prüfen, ob die Kosten im Rahmen des maßgebenden Rechtsstreits tatsächlich entstanden sind und ob die Aufwendungen nach Maßgabe des § 193 Abs. 2 und 3 SGG zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung bzw. -verteidigung notwendig waren. Da die Gebühren nach Maßgabe von § 14 Abs. 1 RVG innerhalb des eingeräumten Rahmens durch den Rechtsanwalt nach billigem Ermessen bestimmt werden, obliege es der Kostenbeamtin, die Unbilligkeit der Gebührenbestimmung festzustellen und ggf. eine angemessene Gebührenbestimmung vorzunehmen. Der angegriffene Beschluss verkenne dies, indem er ausschließlich auf die Ausführungen der Beklagten verweise und nicht erkennen lasse, inwieweit die Kostenbeamtin aufgrund eigener Prüfung zu ihrem Ergebnis gekommen sei. Darüber hinaus verstieß der Beschluss auch insoweit gegen das Willkürverbot, wie dort eine geringere als die gesetzlich vorgesehene Mindestterminsgebühr festgesetzt wurde.

 

Das Verfahren belegt eindrucksvoll die Folgen einer über Jahre andauernden Überbelastung der Sozialgerichte, die durch standardisierte Entscheidung der Verfahrensflut Herr zu werden versuchen. Das BbgVerfG betont in diesem Zusammenhang zu Recht die dem Gericht obliegende Pflicht zur eigenständigen Prüfung des zugrunde liegenden (Kosten-)Rechts und die hinter der Tätigkeit des Prozessbevollmächtigten stehenden Verfahrensrechte der Klägerinnen und Kläger.

 

 

  1. Ausblick Das BbgVerfG wird sich in 2018 – wie bereits dargestellt - mit einer Vielzahl weiterer Verfahren aus dem Bereich der Sozialgerichtsbarkeit zu befassen haben.

 

Darüber hinaus steht ein Organstreitverfahren zur Entscheidung an. Dabei wendet sich ein Mitglied des Landtages Brandenburg gegen einen von der Präsidentin des Landtages verhängten Sitzungsausschluss. Der Abgeordnete hatte gegenüber einem anderen Mitglied des Landtages am Rande einer Plenardebatte geäußert, ein Teil von dessen zuvor gehaltener Rede sei „Goebbels für Arme“ gewesen[29].

 

Im Wege der Kommunalverfassungsbeschwerde wenden sich mehrerer Landkreise gegen Vorschriften der Brandenburgischen Bauordnung[30]. Geltend gemacht wird ein Verstoß gegen das Konnexitätsprinzip des Art. 97 Abs. 3 Satz 2 und 3 BbgVerfG dadurch, dass das Gesetz keine Bestimmung über einen entsprechenden Ausgleich der finanziellen Mehrbelastungen enthalte, die den Landreisen und kreisfreien Städten aus ihrer Tätigkeit als untere Bauaufsichtsbehörden entstehen[31]. Gegenstand einer weiteren Kommunalverfassungsbeschwerde ist die Dritte Verordnung zur Änderung der Brandenburgischen Baugebührenordnung[32]. In diesem Verfahren[33] wird sich das BbgVerfG auch mit der Frage zu beschäftigen haben, ob im Rahmen der Kommunalverfassungsbeschwerde der Grundsatz der Rechtswegerschöpfung zu beachten ist. Die beschwerdeführenden Kommunen haben gegen die Baugebührenordnung parallel Normenkontrolle vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg erhoben, über die zum Zeitpunkt der Erhebung der Verfassungsbeschwerde noch nicht entschieden war. Ebenfalls mit der Kommunalverfassungsbeschwerde wendet sich ein Landkreis gegen Vorschriften des Gesetzes über die Zuweisungen des Landes Brandenburg an die Gemeinden und Landkreise im Haushaltsjahr 2004. Der Beschwerdeführer bezieht sich auf das Konnexitätsprinzip des Art. 97 Abs. 1, Abs. 3 Satz 1 BbgVerf in der Fassung vom 20. August 1992 durch die Übertragung der Aufgaben der unteren Wasserbehörde gem. § 124 Abs. 1 Nr. 3, § 126 Abs. 1 Brandenburgisches Wassergesetz auf die Landkreise[34].

 

Das Gericht wird in diesem Jahr zum letzten Mal vollständig in seiner bisherigen Zusammensetzung tagen. Bei vier der insgesamt neun Verfassungsrichter endet ihre Amtszeit im Januar 2019, zwei weitere scheiden im Juli 2019 aus dem Amt. Bei den anstehenden Neuwahlen werden auch die Ämter von Präsident und Vizepräsidentin neu zu besetzen sein.

 

 

 

*Der Verfasser ist Richter am Sozialgericht Cottbus und derzeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an das BbgVerfG abgeordnet.

[1] vgl. dazu Iwers, LKV 2017, 106.

[2] LT-Drs. 6/8215; https://www.parldok.brandenburg.de/starweb/LBB/ELVIS/parladoku/w6/drs/ab_8200/8215.pdf

[3] Beschluss vom 15. Juni 2017 - VfGBbg 38/16.

[4] vgl. BVerfGE 24, 300, 331; 135, 259, 279

[5] https://wiki.piratenbrandenburg.de/Kreisverband_HVL/Satzung, abgerufen am 22. Februar 2018

[6] vgl. § 47 Abs. 1 Satz 1 VerfGGBbg.

[7] vgl. Beschluss vom 20. Januar 2012 - VfGBbg 67/11, VfGBbg 8/11 EA -, www.verfasssungsgericht.brandenburg.de; Beschluss vom 16. Mai 2002 - VfGBbg 71/02 - LKV 2002, 467 zur kommunalen Verfassungsbeschwerde.

[8] Beschluss vom 15. Juni 2017 - VfGBbg 6/17

[9] BVerfG, Beschluss vom 15. August 2017 -  2 BvR 1750/17.

[10] Beschluss vom 24. März 2017 - VfGBbg 68/15.

[11] BVerfGE 112, 50, 62; BVerfGK 10, 234, 242 f; vgl. auch BVerfGE 71, 305, 336; 74, 69, 74 f; 74, 102, 114.

[12] VerfGBbg 21/16.

[13] VfGBbg 6/04 -, LVerfGE 15, 124, 129 f; bestätigt durch Urteil vom 15. März 2006 - VfGBbg 42/06 -, LVerfGE 18, 141, 146 f.

[14] vgl. VerfGHNW, Urteil vom 15. Dezember 2015 - 12/14 -, Juris Rn. 128; Herbeck, DVBl 2015, 471, 474; Cancik, ZParl 2014, 885, 900: kein Kernbereichseinwand „ins Blaue hinein“; vgl. zur eingeschränkten Begründungspflicht nach Art. 56 Abs. 4 BbgVerf im Falle des Akteneinsichtsbegehrens eines nicht der Parlamentarischen Kontrollkommission angehörenden Abgeordneten in Unterlagen des Verfassungsschutzes Urteil vom 9. Dezember 2004 - VfGBbg 6/04 -, LVerfGE 15, 124, 139 f.

[15] Beschluss vom 20. Oktober 2017 - VerfGBbg 46/16.

[16] Urteil vom 20. Oktober 2017 - VfGBbg 63/15; DÖV 2018, 80 ff.

[17] so auch StGH Baden-Württemberg, Urteil vom 5. Oktober 1998 - GR 4/97 -, LVerfGE 9, 3, 14; LVerfG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 30. Juni 2015 - LVG 3/14 -, LVerfGE 26, 271, 295 f; Ammermann, Das Konnexitätsprinzip im kommunalen Finanzverfassungsrecht, 2007, S. 126; Hermes, Maßstab und Grenzen der Übertragung staatlicher Aufgaben auf Gemeinden und Landkreise, 2007, S. 188; Schoch, FS v. Arnim, 2004, S. 411, 421 ff.; Schoch, DVBl 2016, 1007, 1010; Kluth, LKV 2009, 337, 341; Kaplonek, SächsVBl 2007, 277, 281; Lange, DÖV 2014, 793, 794; Schwarz, NWVBl 2013, 81, 89 f)

[18] Beschluss vom 20.01.2017 - VfGBbg 90/15; NVwZ-RR 2017, 394 ff.

[19] Urteil vom 15. April 2011 - VfGBbg 45/09 -.; vgl. auch Kühne, in: Frank/Langrehr (Hrsg.), Die Gemeinde, Festschrift zum 70. Geburtstag von Heiko Faber, 2007, S. 35, 46.

[20] Stern, in: Bonner Kommentar, Art. 28 GG (Zweitbearbei­tung) Rn. 102.

[21] vgl. Urteil vom 15. April 2011 - VfGBbg 45/09 -, a. a. O.; BVerfGE 91, 228, 241; NVwZ 2001, 317 f

[22] GVBl I Nr. 25 vom 28. November 2017

[23] Beschluss vom 20. Januar 2017 - VfGBbg 90/15

[24] Beschluss vom 17. Februar 2017 - VfGBbg 97/15.

[25] vgl. OLG Frankfurt, Urteil vom 9. Juni 2009 - 3 U 211/08 -, NJW 2009, 3038 ff.

[26] Beschluss vom 15. September 2017 - VfGBbg 43/16.

[27] Beschluss vom 20. Oktober 2017 - VfGBbg 16/17.

[28] vgl. BVerfG NJW 2016, 2018, 2020; BGH NJW 2011, 1455, 1456.

[29] VfGBbg 31/17. Vgl. Plenarprotokoll 6/38 - https://www.parldok.brandenburg.de/starweb/LBB/ELVIS/parladoku/w6/plpr/38-015.pdf

[30] GVBl I Nr. 14 vom 19. Mai 2016.

[31] VfGBbg 34/17.

[32] GVBI. II Nr. 53 vom 5. Oktober 2016.

[33] VfGBbg 76/17.

[34] VfGBbg 197/17.