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VerfGBbg, Beschluss vom 18. November 2022 - VfGBbg 13/22 EA -

 

Verfahrensart: Verfassungsbeschwerde
EA
entscheidungserhebliche Vorschriften: - LV, Art. 9, Abs. 1 Satz 1; LV, Art. 52 Abs. 3 Alt. 1
- VerfGGBbg, § 20 Abs. 1 Satz 2; VerfGGBbg, § 46
- StGB, § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1; StGB, § 56f Abs. 2

Schlagworte: - Eilantrag, abgelehnt
- Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung
- Widerruf der Bewährung
- Bewährung
- Bewährungswiderruf
- Bindungswirkung der Sozialprognose des Tatgerichts für das Vollstreckungsgericht
- Enttäuschung der mit der Bewährungsaussetzung verbundenen besonderen Erwartungen
- Sozialprognose
Zitiervorschlag: VerfGBbg, Beschluss vom 18. November 2022 - VfGBbg 13/22 EA -, https://verfassungsgericht.brandenburg.de

VERFASSUNGSGERICHT
DES LANDES BRANDENBURG

VfGBbg 13/22 EA




IM NAMEN DES VOLKES

B e s c h l u s s

VfGBbg 13/22 EA

In dem verfassungsgerichtlichen Verfahren

R.,

Antragstellerin,

Verfahrensbevollmächtigter:             Rechtsanwalt
                                                                R.,

 

beteiligt:

  1. Präsidentin
    des Landgerichts Potsdam,
    Jägerallee 10-12,
    14469 Potsdam,
  2. Direktor
    des Amtsgerichts Rathenow,
    Bahnhofstraße 19,
    14712 Rathenow,

 

wegen

Antrag auf den Erlass einer einstweiligen Anordnung; Aussetzung der Vollstreckung der mit dem Urteil des Amtsgerichts Rathenow vom 25. Juni 2019 (2 Ls 490 Js 22005/17 (1/18)) verhängten Freiheitsstrafe

hat das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg

am 18. November 2022

durch die Verfassungsrichterinnen und Verfassungsrichter Möller, Dresen, Dr. Finck, Kirbach, Müller, Sokoll und Dr. Strauß

beschlossen: 

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

 

Gründe:

A.

Die Antragstellerin begehrt mit dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung die vorläufige Aussetzung der Vollstreckung der mit Urteil des Amtsgerichts Rathenow vom 25. Juni 2019 (2 Ls 490 Js 22005/17 (1/18)) verhängten Freiheitsstrafe bis zur Entscheidung über ihre Verfassungsbeschwerde, mit der sie sich gegen den Widerruf der ihr bewilligten Strafaussetzung zur Bewährung wendet.

I.

Die mehrfach u. a. wegen Betrugsdelikten vorbestrafte Antragstellerin war durch Urteil des Amtsgerichts Rathenow vom 25. Juni 2019 (2 Ls 490 Js 22005/17 (1/18)) wegen Betrugs in Tateinheit mit Urkundenfälschung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt worden. Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Das Amtsgericht ordnete zudem ein Berufsverbot an. Der Antragstellerin wurde für die Dauer von drei Jahren verboten, den Beruf der Altenpflegerin oder einen Beruf, der die Alten- oder Seniorenpflege zum Gegenstand hat, auszuüben.

Nach den Feststellungen des Amtsgerichts Rathenow hatte die Antragstellerin das freundschaftliche, auf der beruflichen Beziehung beruhende Verhältnis zu einer von ihr als Altenpflegerin Betreuten („die Geschädigte“) ausgenutzt und eine gefälschte Urkunde gebraucht, um die Auszahlung eines Bankkredits in Höhe von 10.000,00 Euro auf ein Konto der Geschädigten zu erreichen, über das die Antragstellerin verfügte und von dem sie in der Folge Beträge für sich abhob.

Bei der Strafzumessung stellte das Amtsgericht Rathenow unter anderem zu Gunsten der Antragstellerin ihr umfassendes Geständnis und das angeordnete Berufsverbot ein. Zu Lasten der Antragstellerin sei u. a. der besonders schwere, auf dem Ausnutzen des entstandenen freundschaftlichen Verhältnisses beruhende Vertrauensbruch gegenüber der Geschädigten zu bedenken. Die Tat zeuge von erheblicher krimineller Energie. Die Antragstellerin sei bereits in der Vergangenheit mehrmals, und zwar überwiegend wegen Betrugs, in Erscheinung getreten und habe sich nicht einmal von einer teilweise verbüßten Freiheitsstrafe wegen Betrugs von neuen Straftaten abhalten lassen und diese während der laufenden Bewährungszeit begangen.

Trotz einiger Bedenken könne der Antragstellerin Strafaussetzung zur Bewährung gewährt werden. Die Sozialprognose sei als noch günstig zu bezeichnen. Das Gericht erwarte, dass die Antragstellerin sich die Verurteilung zur Freiheitsstrafe zur Warnung dienen lassen und künftig ohne Einwirkung des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen werde. Dem Gericht sei bewusst, dass die Antragstellerin eine Bewährungsversagerin sei, so dass gewichtige Gründe gegen die Annahme der günstigen Sozialprognose sprächen. Dabei habe es auch bedacht, dass die Allgemeinheit zwar vor der Antragstellerin im Bereich der Altenpflege geschützt werden müsse, jedoch hierfür das Berufsverbot für die Dauer von drei Jahren ausreichend und erforderlich sei, indem der Antragstellerin damit die Möglichkeit des Ausnutzens ihres Berufs als Altenpflegerin für die Begehung ähnlicher Straftaten auf längere Zeit verwehrt sei.

Das Amtsgericht Rathenow bestimmte mit Beschluss ebenfalls vom 25. Juni 2019 (2 Ls 490 Js 22005/17 (1/18)) die Bewährungszeit auf fünf Jahre und bestellte der Antragstellerin einen Bewährungshelfer.

Die Antragstellerin nahm zum 1. Januar 2020, etwa zweieinhalb Monate nach Rechtskraft der Anordnung des Berufsverbots durch das Amtsgericht Rathenow, eine Beschäftigung als Altenpflegerin in P. auf. Wegen Verstoßes gegen das Berufsverbot wurde die Antragstellerin durch Urteil des Amtsgerichts Potsdam vom 18. Oktober 2021 (75 Ds 4133 Js 53703/20) zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt, die nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde.

Auf die dagegen eingelegte Berufung der Antragstellerin änderte das Landgericht Potsdam („Berufungsgericht“) mit Berufungsurteil vom 5. Mai 2022 (27 Ns 184/21) das Urteil des Amtsgerichts Potsdam vom 18. Oktober 2021 dahingehend ab, dass die Vollstreckung der darin verhängten Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die Kammer sei aufgrund des von der Antragstellerin und ihrer Lebenssituation gewonnenen Eindrucks in der Lage, ihr eine positive Legalprognose zu attestieren. Das Berufungsgericht würdigte, dass die Antragstellerin ihr Verhalten hinterfrage, ihre derzeitige Lebenssituation reflektiere, gewillt sei, sich fortzubilden und berufsbegleitend ein Studium im Bereich Pflegemanagement aufzunehmen, sich eigenständig in psychotherapeutische Behandlung begeben habe, in einer stabilen Beziehung lebe und zu ihrem Bewährungshelfer vertrauensvollen Kontakt halte.

Das Amtsgericht Rathenow („Vollstreckungsgericht“) widerrief durch Beschluss vom 18. August 2022 (2 BRs 4/20) die durch Urteil des Amtsgerichts Rathenow vom 25. Juni 2019 (2 Ls 490 Js 22005/17 (1/18)) gewährte Strafaussetzung zur Bewährung. Die Antragstellerin habe in der bis zum 20. Oktober 2024 laufenden Bewährungszeit eine neue Straftat begangen und dadurch gezeigt, dass die Erwartung, die der Strafaussetzung zugrunde lag, sich nicht erfüllt habe, § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Strafgesetzbuch (StGB). Mit der während der Bewährungszeit begangenen Straftat habe sie gegen ein mit dem Urteil gemäß § 70 StGB angeordnetes Berufsverbot verstoßen. Die Bewährung sei daher dem Antrag der Staatsanwaltschaft entsprechend zu widerrufen. Mildere Maßnahmen reichten nicht aus. Dem stehe auch nicht entgegen, dass das Berufungsgericht die Vollstreckung der Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt habe. Die von dem Berufungsgericht im Zusammenhang mit der erneuten Strafaussetzung angestellten Erwägungen seien für die zu treffende Entscheidung ohne jeden Belang. Das ergebe sich aus Folgendem: Mit seinem Urteil vom 25. Juni 2019 habe das Amtsgericht Rathenow ‑ Schöffengericht - gegen die Antragstellerin wegen Betrugs in Tateinheit mit Urkundenfälschung eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren verhängt, also eine Freiheitsstrafe in oberster bewährungsfähiger Höhe. Diese Straftat habe die Antragstellerin in ihrer Eigenschaft als Altenpflegerin begangen. Nach den Feststellungen des Schöffengerichts sei die Tatbegehung mit einem besonders schweren Vertrauensbruch zum Nachteil der zu pflegenden Person verbunden gewesen, was zur Verhängung eines Berufsverbots von drei Jahren Anlass gegeben habe. Im Rahmen der Strafzumessung habe das Schöffengericht die Verhängung dieses Berufsverbots als strafmildernd bewertet. Zudem habe es eine fortdauernde Gemeingefahr der Antragstellerin im Zusammenhang mit der besagten Berufstätigkeit prognostiziert. Es sei dann gerade einmal ein gutes halbes Jahr vergangen, bis die Antragstellerin eine abhängige Beschäftigung als Altenpflegerin aufgenommen und so strafrechtlich relevant gegen die angeordnete Maßregel verstoßen habe. Hätte das Schöffengericht vorausgesehen, dass die Antragstellerin prompt gegen das als strafmildernd bewertete Berufsverbot verstoßen würde, hätte es eine bewährungsfähige Freiheitstrafe, also eine Freiheitsstrafe von nicht mehr als zwei Jahren, gar nicht verhängen können. Allein aus diesem Grund sei die Strafaussetzung zu widerrufen.

Ihre hiergegen eingelegte sofortige Beschwerde begründete die Antragstellerin u. a. mit der Unverhältnismäßigkeit des Widerrufs der Strafaussetzung. Aufgrund der positiven Kriminalprognose im Urteil des Berufungsgerichts vom 5. Mai 2022 könne ausreichend mit weiteren Auflagen oder Weisungen im Sinne des § 56f Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StGB reagiert werden. Insbesondere komme auch eine weitere Verlängerung der Bewährungszeit nach § 56f Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StGB in Betracht. Das Vollstreckungsgericht verkenne, dass der sach- und zeitnäheren Prognose des letzten Tatgerichts eine erhebliche Bedeutung zukomme, wenn sie die maßgeblichen prognoserelevanten Umstände berücksichtige und zu einem schlüssigen Ergebnis gelange. Dem stehe auch nicht entgegen, dass das Amtsgericht Rathenow in seinem Urteil vom 25. Juni 2019 bei der Strafzumessung auch das gegen die Antragstellerin verhängte Berufsverbot berücksichtigt habe. In unzulässiger Weise unterstelle das Vollstreckungsgericht, dass das Schöffengericht eine bewährungsfähige Freiheitsstrafe nicht mehr ausgesprochen hätte, wenn es vorausgesehen hätte, dass die Antragstellerin zeitnah gegen das Berufsverbot verstoßen würde. Zum Verstoß gegen das Berufsverbot hätten der finanzielle Druck und die alleinige Erziehung und Unterhaltung zweier minderjähriger Kinder geführt. Der Widerruf der Strafaussetzung werde dem beruflichen Neuanfang der Antragstellerin, die nunmehr als Qualitätsbeauftragte für eine Einrichtung für pflegebedürftige Menschen tätig sei, ein jähes Ende setzen. Dies sei nicht mehr verhältnismäßig und nachvollziehbar und widerspreche in diesem Einzelfall völlig dem der Strafvollstreckung zugrunde liegenden Resozialisierungsgedanken.

Das Landgericht Potsdam wies die sofortige Beschwerde mit Beschluss vom 23. September 2022 (21 Qs 52/22), dem Verfahrensbevollmächtigten am 28. September 2022 zugestellt, zurück. Dabei nahm es Bezug auf die vom Vollstreckungsgericht aufgeführten Gründe, die es für zutreffend halte und die auch durch die Beschwerde nicht erschüttert würden. Die Kammer merkte lediglich ergänzend an, dass eingedenk der Vielzahl an Vorstrafen, des früheren Bewährungsverhaltens, der hohen und progredienten Rückfallgeschwindigkeit und der sonstigen prognoserelevanten individuellen Verfahrenstatsachen - entgegen der kaum nachvollziehbaren und sich nicht hinlänglich mit dem Rückfall auseinandersetzenden Entscheidung des Berufungsgerichts vom 5. Mai 2022 (27 Ns 184/21) - mildere Mittel als der Widerruf der Aussetzung der Strafvollstreckung zur Bewährung im Sinne des § 56f Abs. 2 StGB unzulänglich seien. Denn die Bewährungszeit der zweijährigen Freiheitsstrafe sei bereits auf fünf Jahre festgesetzt und die Antragstellerin der Leitung und Aufsicht eines Bewährungshelfers unterstellt worden, ohne dass sie dies beeindruckt und von der neuerlichen berufsbezogenen Straftat abgehalten habe.

II.

Mit der am 27. Oktober 2022 eingegangenen Verfassungsbeschwerde wendet sich die Antragstellerin ausschließlich gegen den Beschluss des Landgerichts Potsdam vom 23. September 2022 (21 Qs 52/22).

Dieser verletze ihr Grundrecht auf Freiheit der Person aus Art. 9 Verfassung des Landes Brandenburg (LV). Ferner stelle der Beschluss eine Verletzung des Willkürverbots und der Verhältnismäßigkeit dar. Das Landgericht habe bei seiner Entscheidung die Bedeutung und Tragweite „dieses Grundrechts“ verkannt. Ferner habe es in seiner Entscheidung die gesetzliche Norm des § 56f Abs. 1 Nr. 1 StGB willkürlich angewandt, nämlich in einer Art und Weise, die nicht mit dem allgemeinen Verständnis dieser Bestimmung in Einklang zu bringen sei. Zur Begründung trägt sie im Wesentlichen vor:

Aus dem mit einem besonderen Rang ausgestatteten Grundrecht der Freiheit der Person aus Art. 9 Abs. 1 Satz 2 LV ergäben sich in Hinsicht auf eine durch einen Bewährungsbruch veranlassten vollstreckungsgerichtlichen Entscheidung über den Widerruf einer Strafaussetzung nach § 56f Abs. 1 StGB besondere verfassungsrechtliche Anforderungen. Das Vollstreckungsgericht sei gehalten, die grundsätzlich bestehende Entscheidungsprärogative des Tatgerichts zu beachten, welches die Strafe trotz des Bewährungsbruchs erneut nach § 56 Abs. 1 StGB zur Bewährung ausgesetzt habe. Dieses Gericht besitze aufgrund des in der mündlichen Verhandlung gewonnenen unmittelbaren Eindrucks von der Erscheinung, dem Verhalten und der Persönlichkeit des Straftäters die besseren Erkenntnismöglichkeiten. Neue Straftaten in der Bewährungszeit stellten dabei grundsätzlich ein Indiz dafür dar, dass sich die bei der vorherigen Verurteilung gehegte Erwartung, der Täter werde sich schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und auch ohne Einwirkung des Strafvollzugs einen rechtstreuen Lebenswandel führen, nicht erfüllt habe. Sie führten jedoch nicht zwingend zum Widerruf der Strafaussetzung und stünden einer günstigen Prognose nicht durchweg entgegen. Die Pflicht des Vollstreckungsgerichts, sich der Prognose des Tatgerichts anzuschließen und somit dessen Beurteilungsprärogative zu beachten, bestehe gleichwohl nur grundsätzlich. Ein Vollstreckungsgericht könne insbesondere von der Entscheidung eines Tatgerichts dann abweichen, wenn diese Entscheidung selbst an Mängeln leide, das Tatgericht etwa ganz ohne Begründung seiner Prognose entschieden habe, hinsichtlich dieser Prognose selbst erhebliche Bedenken geäußert, diese aber zurückgestellt oder wesentliche Gesichtspunkte nicht oder unzureichend bewertet habe, was insbesondere dann der Fall sei, wenn das Gericht sich mit den Vorstrafen und den der älteren Aussetzungsentscheidung zugrunde liegenden Erwägungen gar nicht auseinandergesetzt habe; gleiches gelte auch, wenn das Tatgericht offensichtlich unzutreffende oder nicht nachvollziehbare Erwägungen zugrunde gelegt habe.

Das Vollstreckungsgericht sei ferner aufgrund des streng zu beachtenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auch verpflichtet, mit besonderer Sorgfalt zu prüfen und zu würdigen, ob weniger einschneidende Maßnahmen als ein Widerruf der Strafaussetzung ausreichten.

Der angegriffene Beschluss des Landgerichts Potsdam vom 23. September 2022 genüge den dargelegten verfassungsrechtlichen Anforderungen, die Vollstreckungsgerichte bei Abweichungen von tatgerichtlichen Entscheidungen zu beachten hätten, nicht. Auf jeden Fall habe das Landgericht Potsdam die Bedeutung und die Tragweite des Grundrechts der Freiheit der Person hinsichtlich der Frage verkannt, ob nicht aufgrund der beruflichen Tätigkeit und des aufgenommenen berufsbegleitenden Studiums auch ein milderes Mittel als der Widerruf der Strafaussetzung in Betracht komme. Auch habe das Landgericht nicht gewürdigt, dass die Antragstellerin noch ein minderjähriges Kind (15 Jahre) betreue. Entgegen dieser Anforderung habe das Gericht lediglich ausgeführt, mildere Maßnahmen als der Bewährungswiderruf gemäß § 56f Abs. 2 StGB seien unzulänglich, und habe auf die Entscheidung des Amtsgerichts Rathenow ‑ Vollstreckungsgericht - verwiesen. Die Entscheidung des Berufungsgerichts halte es pauschal und lapidar für kaum nachvollziehbar.

III.

Mit dem in der Verfassungsbeschwerdeschrift gestellten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt die Antragstellerin,

die Vollstreckung der Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Rathenow vom 25. Juni 2019 (2 Ls 490 Js 22005/17 (1/18)) bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde der Antragstellerin auszusetzen.

Zur Begründung trägt sie im Wesentlichen vor: Die Verfassungsbeschwerde sei weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Eine Verletzung des Grundrechts der Antragstellerin aus Art. 9 LV sei nicht ausgeschlossen. Ein Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung nach § 56f Abs. 1 StGB dürfe nicht gegen das Grundrecht der Freiheit einer Person verstoßen. Dass der angegriffene Beschluss den verfassungsrechtlichen Anforderungen Rechnung trage, sei aus den in der Verfassungsbeschwerdeschrift genannten Gründen nicht offensichtlich. Vielmehr erscheine naheliegend, dass es dem Widerruf an der verfassungsrechtlich gebotenen Verhältnismäßigkeit fehle. Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich später die Verfassungsbeschwerde aber als begründet, würde die Antragstellerin ihre nichtselbstständige Tätigkeit und ihr berufsbegleitendes Studium bei Strafantritt mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht fortsetzen können, ihr würde das Arbeitsverhältnis fristlos gekündigt, sie könne den Schaden der durch den Betrug Geschädigten nicht weiter begleichen, der Verlust ihres sozialen Status würde sie psychisch schwer treffen, zudem könnte sie sich nicht mehr um die Erziehung ihres minderjährigen, 15-jährigen Sohnes kümmern, der unter Umständen während der Haftzeit in einem Heim untergebracht würde und damit sein vertrautes Lebensumfeld verlöre.

IV.

Die Äußerungsberechtigten haben von einer Stellungnahme abgesehen.

B.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg.

1. Gemäß § 30 Abs. 1 Gesetz über das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg (VerfGGBbg) kann das Verfassungsgericht einen Zustand durch eine einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Ob die Voraussetzungen des § 30 Abs. 1 VerfGGBbg vorliegen, ist grundsätzlich, soweit sich das Begehren in der Hauptsache nicht als offensichtlich unzulässig oder unbegründet darstellt, nach Maßgabe einer Folgenabwägung zu beurteilen (st. Rspr., Beschlüsse vom 26. Juli 2022 ‌‑ VfGBbg 9/22 EA ‑‌, Rn. 39, vom 11. März 2022 ‌‑ VfGBbg 1/22 EA ‑‌, Rn. 24, und vom 18. Februar 2022 ‌‑ VfGBbg 26/21 EA ‑‌, Rn. 11, https://verfassungsgericht.‌brandenburg.de).

Ist absehbar, dass der Antrag in der Hauptsache keinen Erfolg haben kann, dann ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht geboten (st. Rspr., vgl. Beschlüsse vom 29. September 2021 ‌‑ VfGBbg 19/21 EA ‑‌, Rn. 16, vom 25. Oktober 2021 ‌‑ VfGBbg 17/21 EA ‑‌, Rn. 16, und vom 18. Juni 2021 ‌‑ VfGBbg 12/21 EA ‑‌, Rn. 12, https://verfassungsgericht.brandenburg.de).

2. Eine einstweilige Anordnung kann danach nicht ergehen. Es ist schon jetzt absehbar, dass die Verfassungsbeschwerde unbegründet ist. 

Der Beschluss des Landgerichts Potsdam verletzt die Antragstellerin erkennbar nicht in ihrem Freiheitsgrundrecht aus Art. 9 Abs. 1 Satz 1 LV.

Die Beschwerdekammer hat bei der Auslegung und Anwendung des § 56f StGB weder den Inhalt und die Tragweite des Freiheitsgrundrechts aus Art. 9 Abs. 1 Satz 1 LV verkannt, noch ist sie objektiv unvertretbar oder willkürlich.

a. Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz (GG) bzw. Art. 9 Abs. 1 Satz 1 LV und der Grundsatz des fairen, rechtsstaatlichen Verfahrens verlangen im Strafvollstreckungsverfahren ein Mindestmaß an zuverlässiger Wahrheitserforschung (Beschluss vom 20. Mai 2021 ‌‑ VfGBbg 3/21 ‑‌, Rn. 24 m. w. N., https://verfassungsgericht.‌brandenburg.de). Zudem ist der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der Freiheit der Person durch erhöhte Anforderungen an die Begründungstiefe gerichtlicher Entscheidungen Rechnung zu tragen. Eine tragfähig begründete Entscheidung über einen Bewährungswiderruf setzt daher eine auf zureichender Sachaufklärung beruhende, in sich schlüssige und nachvollziehbare Feststellung der Widerrufsvoraussetzungen voraus; die bloße Wiedergabe des Gesetzeswortlauts genügt insoweit nicht (Beschluss vom 29. September 2021 ‌‑ VfGBbg 19/21 EA ‑‌, Rn. 19, https://verfassungsgericht.‌brandenburg.de).

b. Gemäß § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB widerruft das Gericht die Strafaussetzung, wenn die verurteilte Person in der Bewährungszeit eine Straftat begeht und dadurch zeigt, dass die Erwartung, die der Strafaussetzung zugrunde lag, sich nicht erfüllt hat. Die Auslegung und Anwendung des einfachen Gesetzesrechts obliegen bei der nach § 56f StGB zu treffenden Entscheidung den Strafgerichten, denen hierbei eine Einschätzungsprärogative zusteht (vgl. Beschlüsse vom 20. Mai 2021 ‌‑ VfGBbg 3/21 ‑‌, Rn. 24 m. w. N., und vom 17. Dezember 2009 ‌‑ VfGBbg 51/09 ‑‌, https://verfassungsgericht.‌brandenburg.de). Die verfassungsgerichtliche Überprüfung erstreckt sich lediglich darauf, ob die gerichtliche Entscheidung objektiv unvertretbar ist oder die verfassungsrechtliche Bedeutung und Tragweite des durch Art. 2 Abs. 2 GG bzw. Art. 9 Abs. 1 Satz 1 LV verbürgten Freiheitsrechts verkennt (Beschluss vom 20. Mai 2021 ‌‑ VfGBbg 3/21 ‑‌, Rn. 24 m. w. N., https://verfassungsgericht.‌brandenburg.de).

Die rechtskräftige Verurteilung wegen einer neuen Straftat ist ein zur Überzeugungs-bildung des für § 56f StGB zuständigen Gerichts ausreichendes, aber nicht bindendes Indiz für das entsprechende Bewährungsversagen (Groß/Kett‑Straub, in: MüKoStGB, 4. Aufl. 2020, StGB § 56f Rn. 40).

Bei neuen Straftaten des Probanden ist die Reaktion anderer Gerichte hierauf, soweit es um Strafaussetzung geht, für das Vollstreckungsgericht nicht präjudiziell. Dieses ist also nicht daran gehindert, die Strafaussetzung zu widerrufen, obwohl das Gericht, das über die neue Straftat zu urteilen hat, von einer unbedingten Freiheitsstrafe abgesehen hat (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. April 1985 ‌‑ 2 BvR 1269/84, NStZ 1985, 357; Groß/Kett‑Straub, in: MüKoStGB, 4. Aufl. 2020, StGB § 56f Rn. 40).

Das Vollstreckungsgericht ist zwar grundsätzlich gehalten, sich bei seiner Prognoseentscheidung der sach- und zeitnäheren Prognose eines Tatgerichts anzuschließen, das über die letzte, während der Bewährungszeit begangene Straftat geurteilt hat (Groß/ Kett‑Straub, in: MüKoStGB, 4. Aufl. 2020, StGB § 56f Rn. 30). Durchbrechungen dieses Grundsatzes sind allerdings möglich und jedenfalls nicht von Verfassungs wegen ausgeschlossen (BVerfG, Beschluss vom 19. April 1985 ‌‑ 2 BvR 1269/84, NStZ 1985, 357).

Die befassten Vollstreckungsgerichte können auf der Grundlage der ihnen vorliegenden Urteile und Bewährungshefte auf ausreichender Tatsachenbasis eine eigene Sachentscheidung treffen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2007 ‌‑ 2 BvR 1092/07 ‑‌, Rn. 4, juris). Ein Vollstreckungsgericht kann insbesondere von der Entscheidung eines Tatgerichts dann abweichen, wenn diese Entscheidung selbst an Mängeln leidet, wenn etwa das Tatgericht hinsichtlich seiner Prognose selbst erhebliche Bedenken geäußert, diese aber zurückgestellt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2007 ‌‑ 2 BvR 1092/07 ‑‌, Rn. 4, juris) oder wesentliche Gesichtspunkte nicht oder unzureichend bewertet hat, was insbesondere dann der Fall ist, wenn das Gericht sich mit den Vorstrafen und den der älteren Aussetzungsentscheidung zugrundeliegenden Erwägungen nicht auseinandergesetzt hat (vgl. Beschluss vom 25. Mai 2012 ‌‑ VfGBbg 20/12 ‑‌, https://verfassungsgericht.brandenburg.de).

Gleiches gilt auch, wenn das Tatgericht offensichtlich unzutreffende oder nicht nachvollziehbare Erwägungen zugrunde gelegt hat (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2007 ‌‑ 2 BvR 1092/07 ‑‌, Rn. 4, juris; vgl. ThürVerfGH, Beschluss vom 3. Mai 2017 ‌‑ 52/16 ‑‌, Rn. 64, juris; Groß/Kett‑Straub, in: MüKoStGB, 4. Aufl. 2020, StGB § 56f Rn. 30). Hat das Gericht mit der Aussetzung zur Bewährung besondere Erwartungen verbunden, die es später als enttäuscht ansieht, ist von Verfassungs wegen nichts dagegen zu erinnern, dass unter den Voraussetzungen des § 56f StGB der Widerruf ausgesprochen wird (BVerfG, Beschluss vom 19. April 1985 ‌‑ 2 BvR 1269/84, NStZ 1985, 357).

c. Daran gemessen ist die Entscheidung des Landgerichts Potsdam in verfassungsrechtlicher Hinsicht nicht zu beanstanden.

Die Beschwerdekammer des Landgerichts Potsdam hat sich im Beschluss vom 23. September 2022 (21 Qs 52/22) die Begründung des Widerrufsbeschlusses durch das Vollstreckungsgericht zu eigen gemacht, indem es auf dessen als zutreffend befundene Gründe Bezug genommen hat. Das Vollstreckungsgericht hat sich erkennbar auf die enttäuschte Erwartung des Amtsgerichts Rathenow gestützt, welche das Amtsgericht im Urteil vom 25. Juni 2019 (2 Ls 490 Js 22005/17 (1/18)) mit der angeordneten Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung verbunden hatte. Das Vollstreckungsgericht hat nachvollziehbar aufgezeigt, dass der amtsgerichtlichen Aussetzungsentscheidung vom 25. Juni 2019 (2 Ls 490 Js 22005/17 (1/18)) ein Gesamtkonzept (Strafzumessung, Berufsverbot, Bewährungskonzept) zugrunde lag, das auf der Beachtung des Berufsverbots durch die Antragstellerin aufbaute. Dass das Vollstreckungsgericht diese Erwartungshaltung als enttäuscht betrachtete, nachdem die Antragstellerin nur wenige Monate nach der Urteilsverkündung gegen das Berufsverbot verstieß, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

Seine den Widerruf bestätigende Entscheidung hat das Landgericht zusätzlich zu den Gründen des Vollstreckungsgerichts darauf gestützt, dass die vom Berufungsgericht eingestellten Erwägungen kaum nachvollziehbar seien; sie setzten sich nicht hinlänglich mit dem Rückfall auseinander. Dabei hat die Beschwerdekammer des Landgerichts die für sie ausschlaggebenden Tatsachen angeführt ‑ die Vielzahl an Vorstrafen, das frühere Bewährungsverhalten, die hohe progrediente Rückfallgeschwindigkeit und die berufsbezogene Straftat. Mildere Mittel als der Widerruf seien eingedenk dessen unzulänglich, zumal die Bewährungszeit bereits auf fünf Jahre festgesetzt worden und die Antragstellerin einem Bewährungshelfer unterstellt worden sei, ohne dass diese Mittel sie beeindruckt und von einer neuerlichen berufsbezogenen Straftat abgehalten hätten.

Auch diese nachvollziehbaren zusätzlichen Feststellungen tragen die der Antragstellerin vom Landgericht Potsdam attestierte negative Sozialprognose. Das Landgericht hat auch mildere Mittel in den Blick genommen und im Ergebnis verworfen, indem es festgestellt hat, dass sich die in § 56 Abs. 2 StGB vorgesehene Bewährungshilfe und verlängerte Bewährungszeit bereits als unzulänglich erwiesen hätten. Es ist gemäß dem aufgezeigten Maßstab verfassungsgerichtlich nicht zu beanstanden, dass die mit den Bewährungsurteilen und -unterlagen vertrauten Vollstreckungsgerichte mit einer plausiblen Begründung zu einem vom Tatgericht abweichenden Ergebnis kommen. Ein Verstoß gegen das Willkürverbot liegt darin nicht.

C.

Der Beschluss ist einstimmig ergangen. Er ist unanfechtbar.

 

 

 

 

 

 

 

Möller

Dresen

Dr. Finck

Kirbach

Müller

Sokoll

Dr. Strauß