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VerfGBbg, Beschluss vom 18. September 2021 - VfGBbg 42/21 -

 

Verfahrensart: Verfassungsbeschwerde
Hauptsache
entscheidungserhebliche Vorschriften: - LV, Art. 7 Abs. 1; LV, Art. 12 Abs. 1; LV, Art. 12 Abs. 3; LV, Art. 12 Abs. 4
- VerfGGBbg, § 13 Abs. 1; VerfGGBbg, § 45 Abs. 2 Satz 1, VerfGGBbg, § 45 Abs. 2 Satz 2
- VwGO, § 92 Abs. 3 Satz 1
Schlagworte: - Verfassungsbeschwerde unzulässig
- Subsidiarität
- Auslegung und Anwendung einfachen Gesetzesrechts
- Nicht abschließend geklärte Sach- und Rechtslage
- Vorabentscheidung
- Im verfassungsgerichtlichen Verfahren nicht erreichbares Ziel
Zitiervorschlag: VerfGBbg, Beschluss vom 18. September 2021 - VfGBbg 42/21 -, https://verfassungsgericht.brandenburg.de

VERFASSUNGSGERICHT
DES LANDES BRANDENBURG

VfGBbg 42/21




IM NAMEN DES VOLKES

B e s c h l u s s

VfGBbg 42/21

In dem Verfassungsbeschwerdeverfahren

H.,

Beschwerdeführerin,

wegen

Unterlassen des Ergreifens geeigneter Maßnahmen durch den Landkreis Barnim; Beschluss des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 28. April 2021 - L 15 SO 83/21 B ER u. a.

hat das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg

am 18. September 2021

durch die Verfassungsrichterinnen und Verfassungsrichter Möller, Dresen, Dr. Finck, Heinrich-Reichow, Müller, Richter, Sokoll und Dr. Strauß

beschlossen: 

Das Verfahren wird hinsichtlich der Beschlüsse des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 16. Dezember 2020 ‌‑ S 7 SO 154/20 ER ‑‌, vom 9. April 2021 ‌‑ S 7 SO 55/21 ER ‑‌, und vom 22. April 2021 ‌‑ S 7 SO 29/21 ER ‑‌ sowie der Beschlüsse des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 13. April 2021 ‌‑ L 15 SO 11/21 B ER ‑‌, vom 28. April 2021 ‌‑ L 15 SO 83/21 B ER ‑ und vom 9. Juni 2021 ‌‑ L 23 SO 98/21 B ER ‑ eingestellt.

Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde verworfen.

Gründe:

A.

Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin gegen die Behandlung ihrer Anträge auf Leistungen der Eingliederungshilfe durch den Landkreis Barnim als Träger der Eingliederungshilfe im Sinne des Neunten Buchs des Sozialgesetzbuchs - Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen (SGB IX).

Der Verfassungsbeschwerde liegt die zwischen Beschwerdeführerin und Landkreis streitige Frage zugrunde, ob der Landkreis Barnim im Rahmen der Bedarfsermittlung von Leistungen der Eingliederungshilfe nach §§ 13, 118 Abs. 1 Satz 1 SGB IX zusätzlich zu einem medizinischen Gutachten auch eine sozialpädagogische Begutachtung verlangen kann, nachdem das Land Brandenburg zum 1. Januar 2020 den sog. Integrierten Teilhabeplan (ITP) als neues Bedarfsermittlungsinstrument in Brandenburg eingeführt hat (vgl. § 1 Brandenburgische Verordnung über das Instrument zur Bedarfsermittlung nach § 118 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (BbgBedarfV).

I.

Die Beschwerdeführerin leidet seit ihrer Kindheit an Beeinträchtigungen aufgrund der Erkrankung Osteogenesis imperfecta, der sog. Glasknochenkrankheit, die sich bei ihr in einer hohen Knochenbrüchigkeit verbunden mit erheblichem Minderwuchs zeigt. Sie ist schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 100. Zusätzlich ist das Vorliegen der Voraussetzungen der Merkzeichen G (erhebliche Beeinträchtigungen in der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr), aG (außergewöhnliche Gehbehinderung), H (Hilfslosigkeit) und B (Berechtigung für eine ständige Begleitperson) festgestellt worden.

Ihren Lebensunterhalt bestreitet die Beschwerdeführerin von Pflegegeld, Erwerbsunfähigkeitsrente und Leistungen der Grundsicherung. Sie nutzt ein von der Agentur für Arbeit finanziertes, für sie umgebautes Kraftfahrzeug.

Unter dem 10. Januar 2020 stellte die Beschwerdeführerin einen Antrag auf Eingliederungshilfe, d. h. Leistungen zur Teilhabe und Mobilität (§ 76 Abs. 2 Nr. 7, § 83 SGB IX), für den Betrieb, die Instandhaltung und Reparaturen ihres Kraftfahrzeuges. Sie trug vor, dass sie wegen einer schweren Form der Glasknochenkrankheit schwerbehindert (GdB 100 mit den Merkzeichen G, aG, H und B) und auf einen Rollstuhl sowie ständige Assistenz bzw. Begleitung angewiesen sei. Die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel sei ihr aufgrund ihrer Behinderung und Erkrankung nicht möglich. Selbst ohne äußere Einflüsse wie Erschütterungen oder Stöße könne es bei ihr zu spontanen Knochenbrüchen kommen. Die Implantate, die eigentlich ihren Knochen Stabilität bringen sollten, lösten sich, da die Festigkeit ihrer Knochen mit steigenden Alter abnehme. Die Schrauben, mit denen die Implantate am Knochen befestigt seien, fänden keinen Halt mehr; das Implantat reibe an der Knochenhaut, was extrem schmerzhaft sei. Bei jeder Erschütterung verspüre sie Schmerzen. Busse könne sie in ihrem Wohnort gar nicht nutzen, da nicht rollstuhlgerechte Busse eingesetzt würden. Fern- oder Regionalzüge könne sie auch nicht benutzen, da trotz Anmeldung niemand erscheine, um ihr beim Einsteigen behilflich zu sein. Ohnehin befürchte sie, bei der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel schwere oder tödliche Verletzungen zu erleiden. Auch die Nutzung von Sonderfahrdiensten stelle für sie keine Alternative dar, um in ausreichendem Maße am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Sie habe in der Vergangenheit aufgrund mangelnder Sach- und Fachkenntnisse der Dienste beim Ein- und Ausladen, Sichern und riskanter Fahrmanöver bereits Verletzungen erlitten. Abhängigkeit und extreme Einschränkungen ihrer Tagesplanungen könne sie durch die Nutzung ihres eigenen Kraftfahrzeugs vermeiden. Die kostenaufwendigen Reparaturen und Instandhaltungen des Kraftfahrzeugs, für die sie nur Kostenvoranschläge herreichen könne, könne sie nicht mehr selbst tragen, da sie und ihr Ehemann auf staatliche Unterstützung angewiesen seien. Mit dem Betrieb des Kraftfahrzeugs verbunden seien Kosten der Versicherung (437,67 Euro) und für einen Pkw-Stellplatz (22,50 Euro). Um am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben, fahre sie monatlich ca. 699 km (u. a. Besuche ihres Kleingartenvereins, von Freunden und Familie, Kultur- und Freizeitveranstaltungen, die die Beschwerdeführerin im Einzelnen auflistet). Dazu kämen monatlich 58 Assistenzstunden.

Eine sozialmedizinische Begutachtung der Beschwerdeführerin fand am 28. Juli 2020 statt. Der Landkreis hielt ferner ein sozialpädagogisches Gutachten für erforderlich. Die Beschwerdeführerin lehnte die sozialpädagogische Begutachtung ab und verweigerte dem Sozialarbeiter an dem zuvor angekündigten Begutachtungstermin den Zutritt zur Wohnung. Weitere Begutachtungstermine sagte sie ab und meldete sich auf Schreiben des Landkreises zwecks Begutachtung nicht zurück. Stattdessen begehrte sie die Feststellung ihres Rehabilitationsbedarfs allein mittels des Integrierten Teilhabeplans (ITP). Leistungen der Eingliederungshilfe durch den Landkreis blieben aus. In der Folgezeit stellte die Beschwerdeführerin erneut verschiedene Anträge auf Eingliederungs- und Mobilitätshilfen.

Unter Berufung darauf, dass der Landkreis nicht über ihre Anträge entscheide, strengte die Beschwerdeführerin mehrere Eilverfahren vor dem Sozialgericht Frankfurt (Oder) an. Sie brachte vor, der Landkreis bearbeite ihren Antrag auf Eingliederungshilfe nicht ordnungsgemäß, da er ihren Rehabilitationsbedarf nicht feststelle. Der Landkreis weigere sich, zu entscheiden, solange ihm ein sozialpädagogisches Gutachten nicht vorliege. Ein solches Gutachten erscheine ihr überholt. Sie vertrat die Ansicht, dass der Landkreis die Bedarfsermittlung statt mit dem Instrument des Integrierten Teilhabeplans mit Hilfe eines sozialpädagogischen Gutachtens durchführen möchte. Das sei rechtswidrig.

Der Landkreis wandte ein, der Umstand, dass bis dato keine Entscheidung über die Anträge getroffen worden sei, beruhe allein auf der fehlenden Mitwirkung der Beschwerdeführerin. Der sozialpädagogische Teil des Gutachtens sei erforderlich, um zu prüfen, ob die Zugangsvoraussetzungen für die Eingliederungshilfe gegeben seien. Es diene dazu, die Anspruchsvoraussetzungen und die in den Anträgen geschilderten Gegebenheiten und Lebensumstände der Beschwerdeführerin zu prüfen. Dies sei nicht mit dem Bedarfsermittlungsinstrument Integrierter Teilhabeplan (ITP) möglich, da mit diesem nicht die Anspruchsvoraussetzungen laut Gesetz überprüft würden, sondern - in einem zweiten Schritt - der daraus resultierende Bedarf festgestellt werde.

Mit ihrem Begehren, den Landkreis im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes zu Leistungen der Eingliederungshilfe (Geldleistung von 1.250,00 Euro für Mobilitätshilfe und Assistenzstunden; Ersatz von Kfz-Wartungskosten i. H. v. 1.414,30 Euro) sowie zur Feststellung des Rehabilitationsbedarfs zu verpflichten, drang sie vor dem Sozialgericht Frankfurt (Oder) nicht durch. Die jeweiligen Beschwerden zum Landessozialgericht hatten keinen Erfolg. Ihre Beschwerde gegen die Entscheidung des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 16. Dezember 2020 ‌‑ S 7 SO 154/20 ER ‑‌ ist mit Beschluss des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 13. April 2021 ‌‑ L 15 SO 11/21 B ER ‑‌ zurückgewiesen worden, die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 9. April 2021 ‌‑ S 7 SO 55/21 ER ‑‌ mit Beschluss des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 28. April 2021 ‌‑ L 15 SO 83/21 B ER ‑‌ sowie die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 22. April 2021 ‌‑ S 7 SO 29/21 ER ‑‌ mit Beschluss des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 9. Juni 2021 ‌‑ L 23 SO 98/21 B ER.

Mit Schreiben vom 27. Mai 2021 erhob die Beschwerdeführerin Anhörungsrüge, wegen der Verletzung des rechtlichen Gehörs in dem Verfahren L 15 SO 11/21 B ER und beantragte, der Vorsitzenden des 15. Senats des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg das Verfahren wegen Verletzung rechtlichen Gehörs und Befangenheit zu entziehen sowie die Wiederaufnahme der Verfahren L 15 SO 11/21 B ER und L 15 SO 83/21 B ER unter anderer Gerichtsbesetzung.

Der Landkreis Barnim hatte inzwischen mit Bescheiden vom 23. und 29. April 2021, vom 15. und 18. Mai 2021 sowie vom 3. Juni 2021 die beantragten Eingliederungshilfen bzgl. der Kostenübernahmen im Zusammenhang mit dem Kraftfahrzeug wegen fehlender Mitwirkung der Beschwerdeführerin bei der Antragstellung versagt. Es bestünde weiterhin die Möglichkeit, einen Termin zur sozialpädagogischen Begutachtung zu vereinbaren.

II.

Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung ihrer Grundrechte auf Menschenwürde aus Art. 7 LV und auf Gleichheit aus Art. 12 LV durch die sachwidrige und willkürliche Bearbeitung ihres Antrages auf Eingliederungshilfe vom 10. Januar 2020 durch den Landkreis Barnim. Sie beruft sich diesbezüglich ferner auf Art. 1 und Art. 3 Grundgesetz (GG) sowie Art. 1, Art. 2, Art. 3 und Art. 6 UN‑Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und stützt sich auf § 90 SGB IX und § 3 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG).

Sie besitze nach der UN-Behindertenrechtskonvention ein uneingeschränktes und selbstverständliches Recht auf Teilhabe. Durch die Hindernisse, die ihr der Landkreis bei der Bearbeitung ihres Antrags auf Eingliederungshilfe vom 10. Januar 2020 in den Weg lege, verhindere er, dass sie eine Lebensführung unterhalten könne, die der Würde des Menschen entspreche. Damit verstoße er unter anderem gegen Art. 7 LV. Es sei Aufgabe der Eingliederungshilfe, Leistungsberechtigten eine individuelle Lebensführung zu ermöglichen, die der Würde des Menschen entspreche, und die volle wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern. Die Leistungen sollten sie befähigen, ihre Lebensplanung und -führung möglichst selbstbestimmt und eigenverantwortlich wahrnehmen zu können (§ 90 Abs. 1 SGB IX). Mit dem Hinweis auf die „Würde des Menschen“ betone der Gesetzgeber die besondere Bedeutung dieses verfassungsrechtlichen Gebots (Art. 7 Abs. 1 LV bzw. Art. 1 Abs. 1 GG) für die Eingliederungshilfe. Daraus lasse sich ableiten, dass Menschen mit Behinderung, denen der Zugang zur Eingliederungshilfe verwehrt werde, möglicherweise kein menschenwürdiges Leben führen könnten.

Die zu rügende Ungleichbehandlung ergebe sich daraus, dass der Landkreis Barnim für die Erkennung und Ermittlung ihres Rehabilitationsbedarfs nicht das gesetzlich vorgeschriebene Instrument zur Bedarfsermittlung anwenden wolle. Es gebe keinen sachlichen Grund für die Ungleichbehandlung durch den Landkreis, was zugleich ein Verstoß gegen Art. 12 LV bedeute. Der Landkreis Barnim diskriminiere sie aufgrund ihrer Behinderung. Art. 2 UN-BRK definiere den Begriff Diskriminierung als jede Unterscheidung, Ausschließung oder Beschränkung aufgrund von Behinderung, die zum Ziel oder zur Folge hat, dass das auf die Gleichberechtigung mit anderen gegründete Anerkennen, Genießen oder Ausüben aller Menschenrechte und Grundfreiheiten im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, bürgerlichen oder jedem anderen Bereich beeinträchtigt oder vereitelt wird. Sie umfasse alle Formen der Diskriminierung, einschließlich der Versagung angemessener Vorkehrungen.

Aufgrund ihrer Behinderung sei sie bei Aktivitäten von der Assistenz durch ihren Ehemann abhängig. Gerade diese Abhängigkeit widerspreche Art. 6 UN-BRK, der ihr die volle Entfaltung und die Stärkung ihrer Autonomie als Frau garantieren solle. Dieser Zustand unterlaufe Art. 12 LV im Allgemeinen und dessen Abs. 3 im Speziellen, der laute: „Frauen und Männer sind gleichberechtigt. Das Land ist verpflichtet, für die Gleichstellung von Frau und Mann in Beruf, öffentlichem Leben, Bildung und Ausbildung, Familie sowie im Bereich der sozialen Sicherung durch wirksame Maßnahmen zu sorgen.“ Geeignete Maßnahmen seien im Allgemeinen alle angemessenen Vorkehrungen, notwendigen und geeigneten Änderungen und Anpassungen, die keine unverhältnismäßige oder unbillige Belastung darstellten und die, wenn sie in einem bestimmten Fall erforderlich sind, vorgenommen werden, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderung gleichberechtigt mit Anderen alle Menschenrechte und Grundfreiheiten genießen oder ausüben können (Art. 2 UN-BRK). Wirksame Maßnahmen seien die Feststellung ihres Rehabilitationsbedarfs, die Bearbeitung ihres Antrages auf Eingliederungshilfe vom 10. Januar 2020 und die Erbringung von Eingliederungshilfeleistungen. Dem Landkreis Barnim gelinge es nicht, für die Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen von Menschen mit und ohne Behinderung zu sorgen. Darin liege ein Grundrechtsverstoß gegen Art. 12 Abs. 4 LV.

Die Beschwerdeführerin vertieft ihr Vorbringen aus den fachgerichtlichen Eilverfahren zur einfachgesetzlichen Rechtslage bzgl. des Verfahrens der Bedarfsermittlung, u. a. zu §§ 13, 118 SGB IX. Sie meint, der Landkreis Barnim habe die Bedarfsermittlung anhand des ITP Brandenburg durchzuführen. Ein sozialpädagogisches Gutachten zur Bedarfsermittlung einzusetzen, um anschließend die Bedarfsermittlung mit dem ITP Brandenburg durchzuführen, der die gleichen und mehr Daten erfasse, sei unverhältnismäßig, nicht zielführend und stelle eine doppelte Datenerhebung dar.

Ihre Verfassungsbeschwerde sei zulässig. Der Rechtsweg zu den Fachgerichten sei erschöpft, da diese im Eilverfahren abschließend entschieden hätten. Der Landkreis Barnim verletze seit Jahren ihre Grundrechte massiv. Sie könne nicht auf jahrelange Streitigkeiten vor den Sozialgerichten verwiesen werden, bei denen für eine Instanz mit etwa drei Jahren bis zu einer Entscheidung zu rechnen sei. Die Beschreitung des Instanzenzugs hätte zur Folge, dass sie in der Zwischenzeit ihre grundrechtlichen Freiheiten nicht wahrnehmen könne und sei eine nicht hinnehmbare Einschränkung und ein tiefer Eingriff in ihre Würde und Autonomie. Es handele sich um einen dringlichen Fall. Sie müsse ihre Teilhabebedürfnisse von ihrem am Existenzminimum orientierten Grundsicherungsleistungen bestreiten, was zu einer erheblichen Unterdeckung dieser Leistungen führe, und einen eklatanten Verstoß gegen Art. 28 UN-BRK unter dem Gesichtspunkt „angemessener Lebensstandard und sozialer Schutz“ darstelle. Sie werde in eine Armutsspirale gedrängt, um ihre Zustimmung zu dem sozialpädagogischen Gutachten zur Bedarfsermittlung zu erzwingen. Der Landkreis lege das Gesetz zweckwidrig aus. Sie könne sich keine Bekleidung und ihrer Erkrankung entsprechende Lebensmittel mehr leisten, es sei denn, sie verzichte auf ihre Mobilität. Sie müsse dann zusätzlich auf eine angemessene medizinische Versorgung nach Art. 25 EU-BRK verzichten, denn Spezialisten für ihre seltene Krankheit (Ärzte, Physiotherapien, usw.) befänden sich nicht in ihrem Wohnumfeld und die Mobilität mit ihrem eigenen behindertengerecht umgebauten Kraftfahrzeug sei alternativlos.

Mit der am 28. Juni 2021 erhobenen Verfassungsbeschwerde hat sich die Beschwerdeführerin ursprünglich auch gegen den Beschluss des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 28. April 2021 ‌‑ L 15 SO 83/21 B ER ‑‌ gewandt. Nachdem das Verfassungsgericht die Beschwerdeführerin mit dem ihr am 12. Juli 2021 zugestellten Schreiben vom 6. Juli 2021 darauf hingewiesen hat, dass ein erfolglos durchgeführtes Anhörungsrügeverfahren im Falle einer Gehörsrüge grundsätzlich als Zugangsvoraussetzung angesehen wird, hat die Beschwerdeführerin mit dem am 21. Juli 2021 eingegangenen Schreiben erklärt, ihre Verfassungsbeschwerde teilweise zurückzunehmen, und zwar hinsichtlich der Entscheidungen des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg zu den Aktenzeichen L 15 SO 11/21 B ER, L 15 SO 11/83 B ER, L 23 SO 98/21, L 15 SO 129/21 B ER RG, L 15 SF 145/21 AB, L 15 SO 130/21 B ER RG und L 15 148/21 AB (Anhörungsrüge) sowie den Vorinstanzen. In Bezug auf den Landkreis Barnim halte sie die Verfassungsbeschwerde und ihre Anträge aufrecht.

Sie beantragt sinngemäß,

1.    den Landkreis Barnim wegen der Verletzung der Menschenwürde der Beschwerdeführerin gemäß Art. 7 Verfassung des Landes Brandenburg (LV), des Verstoßes gegen die Gleichheit und wegen Diskriminierung gemäß Art. 12 LV zu verurteilen.

2.    den Landkreis Barnim zu verurteilen, alle geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um jede Unterscheidung, Ausschließung oder Beschränkung aufgrund von Behinderung, die zum Ziel oder zur Folge hat, dass das auf die Gleichberechtigung mit anderen gegründete Anerkennen, Genießen oder Ausüben aller Menschenrechte und Grundfreiheiten im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, bürgerlichen oder jedem anderen Bereich beeinträchtigt oder vereitelt wird. Geeignete Maßnahmen sind:

-       den Antrag der Beschwerdeführerin auf Eingliederungshilfe vom 10. Januar 2020 zu bearbeiten,

-       den Rehabilitationsbedarf der Beschwerdeführerin anhand der Instrumente zur Bedarfsermittlung nach § 13 SGB IX festzustellen und

-       Leistungen der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung zu erbringen.

3.    eine mündliche Verhandlung zur Erörterung der Sach- und Rechtslage durchzuführen.

4.    dem Landkreis Barnim die Kosten des Verfahrens und die außergerichtlichen Kosten der Beschwerdeführerin aufzuerlegen.

B.

1. Das Verfahren war gemäß § 13 Abs. 1 Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg (VerfGGBbg) in Verbindung mit § 92 Abs. 3 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung einzustellen, soweit es sich gegen die Beschlüsse des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 16. Dezember 2020 ‌‑ S 7 SO 154/20 ER ‑‌, vom 9. April 2021 ‌‑ S 7 SO 55/21 ER ‑‌, und vom 22. April 2021 ‌‑ S 7 SO 29/21 ER ‑‌ sowie die Beschlüsse des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 13. April 2021 ‌‑ L 15 SO 11/21 B ER ‑‌, vom 28. April 2021 ‌‑ L 15 SO 83/21 B ER ‑ und vom 9. Juni 2021 ‌‑ L 23 SO 98/21 B ER ‑ richtet, nachdem die Beschwerdeführerin die Verfassungsbeschwerde mit Schriftsatz vom 20. Juli 2021 diesbezüglich zurückgenommen hat.

2. Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen die Verfahrensweise des Landkreises Barnim im Zusammenhang mit ihrem Antrag vom 10. Januar 2020 richtet, ist sie nach § 21 Satz 1, § 50 Abs. 1 Satz 1 VerfGGBbg zu verwerfen. Sie ist unzulässig, da sie dem Grundsatz der Subsidiarität nicht gerecht wird.

a. Nach dem aus § 45 Abs. 2 Satz 1 VerfGGBbg abgeleiteten Grundsatz der Subsidiarität hat ein Beschwerdeführer vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde über die formale Erschöpfung des Rechtswegs hinaus alle ihm zur Verfügung stehenden und zumutbaren Möglichkeiten zu ergreifen, um eine etwaige Grundrechtsverletzung in dem unmittelbar mit ihr zusammenhängenden Verfahren zu verhindern oder zu beheben (Beschluss vom 19. März 2021 - VfGBbg 11/21 ‑‌, Rn. 18, https://verfassungsgericht.brandenburg.de). Das ist Ausdruck der Zuständigkeitsverteilung und Aufgabenzuweisung zwischen den Fachgerichten und der Verfassungsgerichtsbarkeit. Nach der in der Verfassung angelegten Kompetenzverteilung obliegt es zuvörderst den Fachgerichten, die Grundrechte zu wahren, zu schützen und durchzusetzen. Zweck des Subsidiaritätsprinzips ist dabei nicht allein der vorrangige individuelle Grundrechtsschutz durch die Fachgerichte. Durch die geforderte fachgerichtliche Vorbefassung soll sichergestellt werden, dass sich die verfassungsgerichtliche Prüfung auf möglichst umfassend geklärte Tatsachen stützen kann und auch die Rechtslage durch die Fachgerichte vorgeklärt und aufbereitet worden ist (Beschlüsse vom 19. Februar 2021 ‌‑ VfGBbg 15/19 ‑‌, Rn. 19; vom 5. Mai 2020 ‌‑ VfGBbg 5/20 EA -, Rn. 10, und vom 21. Februar 2020 - VfGBbg 72/18 -, Rn. 17, https://verfassungsgericht.‌brandenburg.de).

aa. Zwar hat die Beschwerdeführerin vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde verschiedentlich Eilrechtsschutz beim Sozialgericht nachgesucht und auch diesbezüglich den Instanzenzug erschöpft. Die von der Beschwerdeführerin aufgeworfenen Fragen der Erforderlichkeit eines sozialpädagogischen Gutachtens, zu dessen Verhältnis zum ITP und zu Bestehen und Umfang von Ansprüchen auf Eingliederungshilfen betreffen allerdings zuvörderst die Auslegung und Anwendung einfachen Gesetzesrechts.

bb. Die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den Einzelfall sind grundsätzlich der Nachprüfung durch das Verfassungsgericht entzogen. Vielmehr obliegt ihm, die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts zu korrigieren (Beschluss vom 19. Februar 2021 - VfGBbg 49/20 -, Rn. 37, https://verfassungsgericht.brandenburg.de).

cc. Das Sozialgericht hat die von der Beschwerdeführerin aufgeworfenen Fragen in den vorgelegten Eilentscheidungen ausdrücklich offen gelassen. Es hat deutlich gemacht, dass im einstweiligen Rechtsschutz nicht geklärt werden kann, ob die geltend gemachten Ansprüche der Beschwerdeführerin bestehen, da Feststellungen hinsichtlich der Notwendigkeit der Gewährung von Eingliederungsleistungen und weiterer medizinischer Ermittlungen notwendig seien (vgl. Sozialgericht Frankfurt (Oder), Beschluss vom 22. April 2021 ‌‑ S 7 SO 29/21 ER ‑, Seite 4) und die Frage, ob Rehabilitationsbedarf auf eine bestimmte Art und Weise zu ermitteln wäre, im Rahmen des (Hauptsache-)Sachbegehrens geltend zu machen sei. Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg hat zwar im Beschluss vom 13. April 2021 ‌‑ L 15 SO 11/21 B ER ‑‌, Seite 3, erkennen lassen, dass die Auffassung der Beschwerdeführerin, die Einholung eines sozialpädagogischen Gutachtens sei dem Landkreis Barnim verwehrt, da ausschließlich das Instrument des ITP anzuwenden sei, im Gesetz keine Stütze finde. Damit ist die Sach- und Rechtslage jedoch nicht abschließend geklärt worden.

dd. Es ist nicht ersichtlich, dass die Beschwerdeführerin eine Untätigkeitsklage zum Sozialgericht hinsichtlich des Antrags vom 10. Januar 2020 erhoben hat bzw. wegen der verschiedenen Bescheide des Landkreises Barnim aus April, Mai und Juni 2021 Hauptsacheverfahren angestrengt hätte, in denen die Sozialgerichte die zu bedenkenden Sach- und Rechtsfragen geklärt und gewürdigt haben.

b. Die Voraussetzungen einer Vorabentscheidung liegen nicht vor. Gemäß § 45 Abs. 2 Satz 2 VerfGGBbg kann das Verfassungsgericht im Ausnahmefall über eine vor Erschöpfung des Rechtswegs eingelegte Verfassungsbeschwerde zwar sofort entscheiden, wenn sie von allgemeiner Bedeutung ist oder wenn dem Beschwerdeführer ein schwerer und unabwendbarer Nachteil entstünde, falls er zunächst auf den Rechtsweg verwiesen wird. Die Ausgestaltung des § 45 Abs. 2 Satz 2 VerfGGBbg macht jedoch deutlich, dass auch bei Vorliegen der darin genannten Voraussetzungen eine Vorabentscheidung des Verfassungsgerichts nur unter besonderen Umständen in Betracht kommt und bereits nach dem Wortlaut der Norm die Ausnahme bleibt. In dieser Hinsicht ist § 45 Abs. 2 Satz 2 VerfGGBbg noch strenger als die Regelung des § 90 Abs. 2 Satz 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz, die eine solche Einschränkung nicht enthält. Letztlich setzt eine Vorabentscheidung nach § 45 Abs. 2 Satz 2 VerfGGBbg voraus, dass eine Grundrechtsverletzung im Raum steht, die auch nur zeitweise hinzunehmen ganz und gar unerträglich wäre (vgl. Beschlüsse vom 15. Februar 2019 ‌‑ VfGBbg 4/19 -, vom 30. September 2010 ‑ VfGBbg 31/10 - und vom 21. Dezember 2006 ‑ VfGBbg 20/06 -, Beschluss vom 20. Juni 2014 ‌‑ VfGBbg 51/13 ‑, juris). Dass die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 2 VerfGGBbg im vorliegenden Fall erfüllt sind, ist nicht ersichtlich.

Zwar dürfte der Beschwerdeführerin eine Teilnahme am gesellschaftlichen Leben nach ihrem Vorstellungsbild, in dessen Lage die begehrten Eingliederungshilfen sie versetzen könnten, versagt sein. Es ist insbesondere denkbar, dass die Beschwerdeführerin die Kosten von Reparaturen des Kraftfahrzeugs oder für Fahrten im begehrten Umfang nicht wird aufbringen können. Aufgrund des faktischen Zeitablaufs wird auch eine Nachholung nicht möglich sein.

Allerdings wird die Beschwerdeführerin auch im verfassungsgerichtlichen Verfahren nicht erreichen können, dass ihr die Eingliederungshilfen im beantragten Umfang gewährt werden oder die Bedarfsermittlung auf die von ihr gewünschte Art und Weise vorgenommen wird. Gemäß § 50 Abs. 2 Satz 1 VerfGGBbg stellt das Verfassungsgericht bei Stattgabe der Verfassungsbeschwerde fest, welche Vorschrift der Verfassung und durch welche Handlung oder Unterlassung sie verletzt wurde, was ihrem Begehren nicht zum Erfolg verhelfen würde.

Zur Erreichung ihres Ziels steht der Beschwerdeführerin gegen die für verfassungswidrig gehaltenen Versagungsbescheide des Landkreises Barnim bzgl. der beantragten Eingliederungshilfen der Rechtsweg zu den Sozialgerichten offen. Dass sich die Dauer eines sozialgerichtlichen Verfahrens für die Beschwerdeführerin vor dem Erfordernis der gebotenen Sachaufklärung als unzumutbar erweisen würde, steht nicht fest. Die angemessene Verfahrensdauer lässt sich nicht generell und abstrakt, sondern nur nach den besonderen Umständen des einzelnen Falles bemessen. Es verbietet sich, bereits im Vorhinein von einem verfassungswidrigen überlangen Verfahren durch das zuständige Fachgericht auszugehen (Beschluss vom 20. Januar 2012 ‌‑ VfGBbg 55/11 ‑‌, https://verfassungsgericht.‌brandenburg.de).

C.

Der Beschluss ist einstimmig ergangen. Er ist unanfechtbar.

 

 

 

Möller

Dresen

Dr. Finck

Heinrich-Reichow

Müller

Richter

Sokoll

Dr. Strauß