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VerfGBbg, Beschluss vom 17. Februar 2023 - VfGBbg 10/21 -

 

Verfahrensart: abstrakte Normenkontrolle
Hauptsache
entscheidungserhebliche Vorschriften: - LV, Art. 2 Abs. 1; LV, Art. 2 Abs. 4; LV, Art. 80 Satz 2; LV, Art. 113 Nr. 2
- VerfGGBbg, § 20 Abs. 1 Satz 2; VerfGGBbg, § 32 Abs. 7 Satz 2; VerfGGBbg, § 39 Nr. 1; VerfGGBbg, § 41 Satz 1
- BbgKomNotG, § 2
Schlagworte: - abstrakte Normenkontrolle, begründet
- Begründungsanforderungen
- Bestimmtheit
- Bestimmtheitsanforderungen
- Gesetzesändernde Rechtsverordnung
- Gewaltenteilung
- Corona
- COVID-19
- Delegation
- Demokratieprinzip
- kommunale Selbstverwaltung
- Kommunalverfassung, Brandenburgische
- Kommunalverfassung, Strukturprinzipien
- Notlage
- objektives Klarstellungsinteresse
- Öffentlichkeitsgrundsatz
- Pandemie
- Präsenzsitzungen
- Rechtverordnung
- Rechtsverordnung, gesetzesändernde
- Regelungstechnik
- Repräsentationsprinzip
- Verlagerung von Rechtssetzungsbefugnissen
- Verordnungsermächtigung
- Wesentlichkeitsgrundsatz
nichtamtlicher Leitsatz: 1. Das objektive Klarstellungsinteresse bezüglich der Geltung von § 2 BbgKomNotG ist nicht dadurch entfallen, dass das Gesetz inzwischen außer Kraft getreten ist (Rn. 37). Eine Ausnahme gilt lediglich dann, wenn von der zur Prüfung gestellten Norm unter keinem denkbaren Gesichtspunkt mehr Rechtswirkungen ausgehen können (Rn. 39). Angesichts der Breite der von der Abweichungsbefugnis betroffenen Rege-lungskreise sind Rechtsstreitigkeiten, für die es auf die Vereinbarkeit der Verord-nungsermächtigungen in § 2 BbgKomNotG mit der Landesverfassung ankommen könnte, nicht von vornherein auszuschließen (Rn. 40).

2. Der Gesetzgeber hat mit der Regelung des § 2 BbgKomNotG dem Verordnungsgeber eine Ermächtigung zum Erlass gesetzesändernder Rechtsverordnungen erteilt (Rn. 44).

3. Für eine gesetzesändernde Rechtsverordnung ergeben sich aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 2 Abs. 4 LV) Grenzen. Dies gilt insbesondere bei Ausformung der Grundprinzipien des demokratischen Gemeinwesens auch für die kommunale Ebene, die grundsätzlich ein Handeln des Parlamentsgesetzgebers erfordert (Rn. 44).

4. Ermöglicht der Gesetzgeber per Verordnungsermächtigung - wie mit § 2 Abs. 3 BbgKomNotG geschehen - Abweichungen von einem maßgeblich durch Parla-mentsgesetze ausgeformten und durch die Verfassung garantierten Regelungsbe-reich, wie es das Kommunalverfassungsrecht ist, so darf dies nicht in einer Weise ge-schehen, die dem Verordnungsgeber die normsetzende Gewalt über das Bild der ver-fassungsrechtlich garantierten kommunalen Selbstverwaltung überlässt. Vielmehr müssen die Voraussetzungen feststehen, unter denen Regelungen in Kraft treten sollen, die isoliert oder in summa das Bild kommunaler Selbstverwaltung wesentlich abändern. Andernfalls ist von einem unzulässigen Verzicht des Gesetzgebers auf seine Rechtsetzungsbefugnisse auszugehen (Rn. 53).

5. Die durch § 2 BbgKomNotG dem Verordnungsgeber eröffnete Möglichkeit, durch freie Entscheidung über das Außerkraftsetzen wesentlicher Vorschriften der Kommunal-verfassung (BbgKVerf) weitreichende Veränderungen des gesetzlich ausgeformten Bilds kommunaler Selbstverwaltung zu bewirken, hat zu einer nicht mehr mit der Landesverfassung zu vereinbarenden Gewichtsverschiebung zwischen gesetzge-bender und exekutiver Gewalt geführt (Rn. 86-94).

6. Mit der umfangreichen Übertragung der Befugnis auf den Verordnungsgeber, die Anwendung gesetzlicher Regelungen der BbgKVerf außer Kraft zu setzen, hat der Gesetzgeber zudem nicht den Bestimmtheitsanforderungen des Art. 80 Satz 2 LV ge-nügt, wonach Inhalt Zweck und Ausmaß der Ermächtigung in der gesetzlichen Rege-lung bestimmt sein müssen (Rn. 103).

7. § 2 BbgKomNotG war angesichts seines Außerkrafttretens und zugunsten der Be-standskraft von Folgerechtsakten nicht für nichtig, sondern für unvereinbar mit der Landesverfassung zu erklären; Rechtsakte, die direkt oder indirekt auf dem BbgKomNotG und der darauf erlassenen Rechtsverordnung beruhen, gelten fort (Rn. 105).
Zitiervorschlag: VerfGBbg, Beschluss vom 17. Februar 2023 - VfGBbg 10/21 -, https://verfassungsgericht.brandenburg.de

VERFASSUNGSGERICHT
DES LANDES BRANDENBURG

VfGBbg 10/21




IM NAMEN DES VOLKES

B e s c h l u s s

VfGBbg 10/21

In dem abstrakten Normenkontrollverfahren

der Mitglieder des Landtags Brandenburg

Sabine Barthel, Dr. Hans-Christoph Berndt, Birgit Bessin, Peter Drenske, Lena Kotré, Andreas Galau, Lars Günther, Michael Hanko, Dennis Hohloch, Rolf‑Peter Hooge, Lars Hünich, Steffen John, Andreas Kalbitz, Steffen Kubitzki, Daniel Freiherr von Lützow, Wilko Möller, Daniel Münschke, Kathleen Muxel, Volker Nothing, Lars Schieske, Marianne Spring-Räumschüssel, Felix Teichner,

Alter Markt 1, 14467 Potsdam,

Antragsteller,

Verfahrensbevollmächtigter               Prof. Dr. E.,

 

 

beteiligt:

  1. Landtag Brandenburg,
    vertreten durch die Präsidentin,
    Alter Markt 1,
    14467 Potsdam,
  2. Landesregierung Brandenburg
    - Staatskanzlei -,
    Heinrich-Mann-Allee 107,
    14473 Potsdam,
  3. Städte- und Gemeindebund Brandenburg,
    vertreten durch den Geschäftsführer,
    Stephensonstraße 4,
    14482 Potsdam,
  4. Landkreistag Brandenburg e.V.,
    vertreten durch den Geschäftsführer,
    Jägerallee 25,
    14469 Potsdam,

 

wegen

Gesetz zur Sicherstellung der Handlungsfähigkeit der brandenburgischen Kommunen in außergewöhnlicher Notlage vom 15. April 2020 in der Fassung (GVBl.I/20, [Nr. 14]) in der Fassung des Ersten Gesetzes zur Änderung des Brandenburgischen kommunalen Notlagegesetzes vom 25. September 2020 (GVBl.I/20, [Nr. 27]), am 30. Juni 2021 außer Kraft getreten

hat das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg

am 17. Februar 2023

durch die Verfassungsrichterinnen und Verfassungsrichter Möller, Dresen, Dr. Finck, Heinrich-Reichow, Kirbach, Müller, Richter, Sokoll und Dr. Strauß

beschlossen: 

1.    § 2 des Gesetzes zur Sicherstellung der Handlungsfähigkeit der brandenburgischen Kommunen in außergewöhnlicher Notlage vom
15. April 2020 (GVBl.I/20, [Nr. 14]) in der Fassung des Ersten Gesetzes zur Änderung des Brandenburgischen kommunalen Notlagegesetzes vom 25. September 2020 (GVBl.I/20, [Nr. 27]), außer Kraft getreten am 30. Juni 2021, war mit Artikel 2 Abs. 4, Artikel 80 Satz 2 Verfassung des Landes Brandenburg unvereinbar.

Im Übrigen wird der Antrag verworfen.

2.    Auslagen werden nicht erstattet.

Gründe:

A.

Der Normenkontrollantrag richtet sich gegen das Gesetz zur Sicherstellung der Handlungsfähigkeit der brandenburgischen Kommunen in außergewöhnlicher Notlage (Brandenburgisches kommunales Notlagegesetz - BbgKomNotG) vom 15. April 2020 (GVBl.I/20, [Nr. 14]), geändert durch Gesetz vom 25. September 2020 (GVBl.I/20, [Nr. 27]). Das BbgKomNotG ermächtigte den Verordnungsgeber während einer vom Landtag festgestellten Notlage, durch den Erlass von Rechtsverordnungen von Vorschriften der Kommunalverfassung des Landes Brandenburg (BbgKVerf) abzuweichen.

I.

Der Landtag Brandenburg beschloss in seiner 12. (Sonder-)Sitzung am 15. April 2020 das BbgKomNotG, das am selben Tag im Gesetzblatt verkündet wurde. Das Gesetzgebungsverfahren des BbgKomNotG wurde unter dem Eindruck der am 11. März 2020 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Pandemie erklärten Verbreitung der Atemwegserkrankung COVID-19 angestoßen. Vor dem Hintergrund eines sich in ganz Deutschland ausbreitenden Infektionsgeschehens traten am 22. März 2020 Kontaktbeschränkungen in Brandenburg in Kraft, die Mitte April verschärft und verlängert wurden.

Das BbgKomNotG enthält folgende Regelungen:

§ 1

Notlage

Der Landtag stellt aufgrund der sich ausbreitenden Pandemie SARS-CoV-2 eine landesweite außergewöhnliche Notlage fest.

§ 2

Verordnungsermächtigung

(1) Aufgrund der festgestellten außergewöhnlichen Notlage wird der Minister des Innern und für Kommunales zum Zweck der Aufrechterhaltung der Handlungsfähigkeit der kommunalen Organe ermächtigt, im Einvernehmen mit dem Ausschuss für Inneres und Kommunales des Landtages und nach Anhörung der kommunalen Spitzenverbände eine Verordnung zur Abweichung von Vorschriften der Kommunalverfassung des Landes Brandenburg vom 18. Dezember 2007 (GVBl. I S. 286), die zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 19. Juni 2019 (GVBl. I Nr. 38) geändert worden ist, zu erlassen.

(2) Die Verordnungsermächtigung und die aufgrund dieses Gesetzes erlassene Verordnung unterliegen einer Befristung. Sie treten mit dem Außerkrafttreten dieses Gesetzes außer Kraft.

(3) Von folgenden Regelungen in der Kommunalverfassung des Landes Brandenburg werden Abweichungen aufgrund der Notlage nach Absatz 1 ermöglicht:

1.   von dem Verbot der Übertragung von Entscheidungskompetenzen in der Allzuständigkeit der Gemeindevertretung auf den Hauptausschuss,

2.   von der Pflicht, Sitzungen der Gemeindevertretung und des Hauptausschusses als Präsenzsitzungen durchzuführen,

3.   von dem Verbot, im schriftlichen Umlaufverfahren Beschlüsse der Gemeindevertretung und des Hauptausschusses zu fassen,

4.   von der Pflicht, bei Präsenzsitzungen unmittelbare Sitzungsöffentlichkeit zu gewährleisten,

5.   von der Pflicht, bereits festgelegte kommunale Wahlen und nach gesetzlicher Vorschrift festzusetzende oder festgesetzte Bürgerentscheide vor dem Außerkrafttreten dieses Gesetzes nach § 3 durchzuführen,

6.   von dem Verbot, noch nach der konstituierenden Sitzung weitere Stellvertreter unter Berücksichtigung des Spiegelbildlichkeitsgrundsatzes für die Mitglieder des Hauptausschusses zu bestellen,

7.   von der Pflicht, die Erheblichkeits- und Wesentlichkeitsgrenzen gemäß § 65 Absatz 2 Satz 1 Nummer 5, § 68 Absatz 2 Satz 2 und § 70 Absatz 1 Satz 4 in einer Nachtragssatzung zu ändern,

8.   von der Pflicht, dass überplanmäßige und außerplanmäßige Aufwendungen und Auszahlungen nur zulässig sind, wenn die Deckung gewährleistet ist.

(4) Inhalt und Ausmaß der Verordnungsermächtigung werden wie folgt begrenzt:

1.   Die Eilentscheidungsmöglichkeiten des Hauptverwaltungsbeamten im Einvernehmen mit dem Vorsitzenden der Gemeindevertretung nach § 58 der Kommunalverfassung des Landes Brandenburg bleibt unberührt.

2.   Im Falle der Übertragung von Entscheidungskompetenzen nach Absatz 3 Nummer 1 ist eine Weiterdelegation auf den Hauptverwaltungsbeamten unzulässig.

3.   Die öffentliche Bekanntgabe der Beschlüsse oder deren wesentlichen Inhalts der Gemeindevertretung und des Hauptausschusses bleiben unberührt.

4.   Dem Grundsatz der Öffentlichkeit ist weiterhin Rechnung zu tragen. Alternativ zur Öffentlichkeit bei Präsenzsitzungen kann die Öffentlichkeit auch dadurch sichergestellt werden, dass Sitzungen von Gemeindevertretung und Hauptausschuss über eine Internetseite der Kommune für jedermann als Livestream verfolgt werden können.

5.   Sollte eine Kommune von der Möglichkeit nach Absatz 3 Nummer 2 Gebrauch machen, so ist technisch zur Herstellung der Öffentlichkeit mindestens dafür Sorge zu tragen, dass die interessierte Öffentlichkeit in einem gesonderten öffentlich zugänglichen Raum der Verwaltung die Sitzung zeitgleich verfolgen kann.

(5) In der Verordnung ist eine Regelung vorzusehen, wonach die Kommunen in geeigneter Weise öffentlich darüber informieren, welche Abweichungsmöglichkeiten des Kommunalverfassungsrechts sie für sich in Anspruch nehmen.

(6) Die Absätze 1 bis 5 sind für Zweckverbände nach dem Gesetz über kommunale Gemeinschaftsarbeit im Land Brandenburg vom 10. Juli 2014 (GVBl. I Nr. 32 S. 2), das zuletzt durch Artikel 2 des Gesetzes vom 19. Juni 2019 (GVBl. I Nr. 38) geändert worden ist, entsprechend anwendbar.

§ 3

Inkrafttreten, Außerkrafttreten

Dieses Gesetz tritt am Tag nach der Verkündung in Kraft und am 30. September 2020 außer Kraft.

Das BbgKomNotG beruht auf einer am 1. April 2020 in den Landtag eingebrachten Gesetzesvorlage der Fraktionen von SPD, CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (LT‑Drs. 7/991 (Neudruck)). Die Begründung des Gesetzentwurfs führt an: Aufgrund der Pandemie SARS-CoV-2 sei zweifelsfrei eine außergewöhnliche Notlage gegeben. Momentan fänden faktisch keine Sitzungen der kommunalen Vertretungskörperschaften statt. Präsenzsitzungen und notwendige Beschlussfassungen der Kollegialorgane könnten überwiegend nicht in gewohnter Art und Weise erfolgen. Bei den kommunalen Entscheidungsträgern bestünden in Anbetracht der Auswirkungen der Pandemie Unsicherheiten hinsichtlich der Durchführung ordnungsgemäßer Sitzungen und Beschlussfassungen.

Ziel des Gesetzentwurfs sei es, die notwendigen Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten der kommunalen Kollegialorgane für den Zeitraum der festgestellten Notlage zu gewährleisten. Zum Zweck der Fassung notwendiger Beschlüsse der kommunalen Kollegialorgane in außergewöhnlichen Notlagen sollten dem Minister des Innern und für Kommunales im Rahmen einer Verordnungsermächtigung eindeutig definierte und zeitlich befristete Abweichungen von der Kommunalverfassung ermöglicht werden. Die Erteilung einer Verordnungsermächtigung trage in dieser besonderen Notlage aufgrund einer voranschreitenden Pandemie dem erforderlichen Gebot der schnellstmöglichen Sicherstellung der Handlungsfähigkeit der Kommunen Rechnung. Die Verordnungsermächtigung solle nur in Anbetracht der gegebenen und akuten außergewöhnlichen Notlage der Pandemie SARS-CoV-2, welche eine potentielle Handlungsunfähigkeit der kommunalen Organe mit sich bringe, entsprechende Handlungsmöglichkeiten eröffnen, die die Brandenburgische Kommunalverfassung nicht enthalte (LT‑Drs. 7/991 (Neudruck), B. zu § 2).

§ 2 Abs. 3 und Abs. 4 BbgKomNotG definierten deshalb Abweichungsmöglichkeiten von kommunalverfassungsrechtlichen Regelungen. Zum einen solle ermöglicht werden, die Öffentlichkeit anders als durch Anwesenheit im Raum der Sitzung selbst herzustellen. Zum anderen werde auch die Möglichkeit geschaffen, Sitzungen in Form von Telefon- oder Videokonferenzen durchzuführen. Auch hier müsse die Öffentlichkeit gewährleistet werden (LT-Drs. 7/991 (Neudruck), B. zu § 2, zu Absatz 3 und 4).

Die Gesetzesbegründung zu § 2 Abs. 3 Nr. 7 BbgKomNotG lautet: Die derzeitige Lage verursache bei den Gemeinden und Gemeindeverbänden erhebliche Änderungen sowohl bei den Erträgen und Einzahlungen als auch bei den Aufwendungen und Auszahlungen, mit denen bei Erstellung und Beschlussfassung der Haushaltssatzungen nicht zu rechnen gewesen sei. Die Gemeinden und Gemeindeverbände müssten auch haushaltswirtschaftlich schnell und möglichst flexibel darauf reagieren können. Mit der Verordnungsermächtigung könne in einer Rechtsverordnung eine Regelung vorgesehenen werden, nach der in der Haushaltssatzung festgesetzte Wesentlichkeits- und Erheblichkeitsgrenzen durch einen gesonderten Beschluss geändert werden könnten. Damit solle den Gemeinden und Gemeindeverbänden ermöglicht werden, auf das sonst erforderliche aufwändige und zeitintensive Verfahren der Änderung über eine Nachtragssatzung zu verzichten. Der Beschluss über die Änderung der Wesentlichkeits- und Erheblichkeitsgrenzen sei grundsätzlich - wie der Beschluss über die Haushaltssatzung - von der Gemeindevertretung zu fassen. In Verbindung mit § 2 Abs. 3 Nr. 1 BbgKomNotG könne die Entscheidung auf den Hauptausschuss übertragen werden (LT-Drs. 7/991 (Neudruck), B. zu § 2, zu Absatz 3 und 4).

Zu § 2 Abs. 3 Nr. 8 BbgKomNotG heißt es in der Gesetzesbegründung: Auf die Voraussetzung gemäß § 70 Absatz 1 Satz 4 BbgKVerf, dass über- und außerplanmäßige Aufwendungen und Auszahlungen nur zulässig sind, wenn die Deckung gewährleistet ist, solle verzichtet werden. Damit dürften unabweisbare Aufwendungen und Auszahlungen während der Geltungsdauer des Gesetzes auch dann getätigt werden, wenn dadurch ein Fehlbetrag entstehe oder sich ein bereits bestehender Fehlbetrag erhöhen werde, welcher zu Lasten des Zahlungsmittelbestandes gehe. Die Gemeinden und Gemeindeverbände würden damit in die Lage versetzt, alle derzeit erforderlichen Maßnahmen einzuleiten und umzusetzen. Die grundsätzlich bestehende Ausgleichsverpflichtung des § 63 Abs. 4 BbgKVerf sei jedoch nicht aufgehoben. Die Gemeinden und Gemeindeverbände müssten weiterhin alles Erforderliche unternehmen, um den Haushaltsausgleich nicht zu gefährden bzw. einen bestehenden Fehlbetrag durch die Leistung über- oder außerplanmäßiger Aufwendungen und Auszahlungen nicht über das zwingend erforderliche Maß hinaus zu erhöhen (LT-Drs. 7/991 (Neudruck), B. zu § 2, zu Absatz 3 und 4).

Nach einer ersten Lesung brachte die AfD-Fraktion einen Änderungsantrag ein, der statt dem BbgKomNotG eine Änderung von § 34, § 36 und § 38 BbgKVerf vorsah (LT‑Drs. 7/1043). Das BbgKomNotG stelle eine vorübergehende, nicht notwendige Maßnahme dar. Der Gesetzesentwurf sei verfassungswidrig, da das Gesetz die Ermächtigung zu einer gesetzesvertretenden oder gesetzesändernden Verordnung enthalte und dadurch den Vorrang des Gesetzes bzw. das Gewaltenteilungsprinzip verletze.

Nach der Überweisung an den Ausschuss für Inneres und Kommunales im Anschluss an die erste Lesung und einer zweiten Lesung empfahl der Ausschuss unter Berücksichtigung schriftlicher Stellungnahmen der kommunalen Spitzenverbände die Annahme des Entwurfs in einer vom Ausschuss geänderten Fassung (LT-Drs. 7/1046). Danach sollte das BbgKomNotG erst am 30. September 2020 außer Kraft treten. Der Gesetzentwurf wurde vom Landtag am 15. April 2020 in der Ausschussfassung angenommen (Landtag, Beschlussprotokoll-Nummer BePr 12/2020) und der Änderungsantrag der AfD-Fraktion damit abgelehnt. Das Gesetz wurde am selben Tag im Gesetz- und Verordnungsblatt des Landes Brandenburg verkündet.

Der Verordnungsgeber erließ auf Grund von § 2 BbgKomNotG die Verordnung zur Aufrechterhaltung der Handlungsfähigkeit der kommunalen Organe in außergewöhnlicher Notlage (Brandenburgische kommunale Notlagenverordnung - BbgKomNotV) vom 17. April 2020 (GVBl.II/20, [Nr. 19]). Diese wurde durch die Verordnungen vom 19. Juni 2020 (GVBl.II/20, [Nr. 53]) und vom 28. September 2020 (GVBl.II/20, [Nr. 89]) geändert. Zu der Verordnung versandte das Ministerium des Innern und für Kommunales Rundschreiben vom 17. und 21. April 2020 und vom 25. Juni 2020 mit Anwendungshinweisen.

Mit dem Ersten Gesetz zur Änderung des Brandenburgischen kommunalen Notlagegesetzes vom 25. September 2020 (GVBl.I/20, [Nr. 27]) verlängerte der Landtag die Geltungsdauer des BbgKomNotG bis zum 30. Juni 2021 (§ 3 BbgKomNotG), mit dessen Ablauf das BbgKomNotG außer Kraft getreten ist.

Kurz vor Außerkraftreten des BbgKomNotG hat der Landtag am 23. Juni 2021 das Gesetz zur Änderung der Kommunalverfassung und weiterer Vorschriften vom 23. Juni 2021 (GVBl.I/21, [Nr. 21]) beschlossen, das gemäß dessen Art. 5 zum 1. Juli 2021 in Kraft getreten ist. Mit dem Artikelgesetz sind unter anderem neue Vorschriften in die Kommunalverfassung eingefügt worden. § 34 Abs. 1 BbgKVerf ist durch einen Absatz 1a ergänzt worden, der Ausnahmen vom Grundsatz der Präsenzsitzung und die Möglichkeit der Sitzungsteilnahme einzelner Gemeindevertreter per Video regelt.

In Abschnitt 3a mit dem Titel „Erhaltung kommunaler Entscheidungsfähigkeit in außergewöhnlichen Notlagen“ wurde § 50a BbgKVerf neu eingefügt. Dieser bestimmt unter besonderen verfahrensrechtlichen Voraussetzungen, dass Sitzungen im Falle einer außergewöhnlichen Notlage insgesamt als Audio- oder Videositzungen durchgeführt werden dürfen, und enthält zudem spezifische Anordnungen zur Wahrung der Öffentlichkeit.

II.

Mit dem am 17. Februar 2021 eingeleiteten Normenkontrollverfahren beantragen die Antragsteller,

das Gesetz zur Sicherstellung der Handlungsfähigkeit der brandenburgischen Kommunen in außergewöhnlicher Notlage vom 15. April 2020, GVBI.I/20, [Nr. 14], zuletzt geändert durch Gesetz vom 25. September 2020, GVBI.I/20, [Nr. 27], für verfassungswidrig und nichtig zu erklären.

Sie beantragen ferner die Erstattung ihrer notwendigen Auslagen.

III.

Die Antragstellerinnen und Antragsteller halten das Gesetz für verfassungswidrig, weil die Ausgestaltung der Kommunalverfassung des Landes Brandenburg eines formellen Gesetzes bedurft habe. Dies folge aus Art. 97 Abs. 5 Verfassung des Landes Brandenburg (LV) wie auch dem Parlamentsvorbehalt. Das Gesetz beachte jedenfalls nicht das aus Art. 80 Satz 2 LV folgende Bestimmtheitsgebot. Im Übrigen sei eine Ausgestaltung der Materie per gesetzesabweichender Verordnungsermächtigung nicht zulässig gewesen.

1. Art. 97 Abs. 5 LV ordne eine Normierung der Kommunalverfassung durch Gesetz an. Der Regelungsauftrag richte sich an den formellen parlamentarischen Gesetzgeber, was auch bedeute, dass sich dieser der Selbstentscheidung über die zu regelnden Gegenstände nicht von vornherein begeben bzw. diese nicht delegieren könne. Dies habe die Landesregierung vormals in der Begründung zum Kommunalrechtsreformgesetz mit den Worten zum Ausdruck gebracht: „Artikel 97 Abs. 5 Verfassung verpflichtet das Land Brandenburg, das Nähere über die Ausgestaltung der kommunalen Selbstverwaltung durch Gesetz zu regeln.“

2. Die antragsgegenständlichen Verordnungsermächtigungen erwiesen sich als eine verfassungswidrige „Selbstentmachtung“ des Gesetzgebers, da sie zu grundlegend in die vom Gesetzgeber selbst in einen verfassungsrechtlichen Ausgleich zu bringenden Grundsätze und systemtragenden Prinzipien des geltenden Kommunalverfassungsrechts eingriffen. Da der Gesetzgeber die Regelungen im Bewusstsein ihrer Bedeutung und ihres Zusammenhangs zu einer kodifizierten Kommunalverfassung zusammengefügt habe, dürfe keiner der Regelungsgegenstände durch eine Verordnungsermächtigung zur Disposition der Exekutive gestellt werden. Die verfassungsmäßige Ordnung überlasse die Wahl der Handlungsformen in der Rechtsetzung nicht einer freien Vereinbarung zwischen Legislative und Exekutive. Vielmehr habe die Legislative in sogenannten „wesentlichen" Fragen eine Selbstentscheidungspflicht, der sie sich nicht begeben könne und dürfe. Die Möglichkeit einer gesetzesabweichenden Verordnungsgebung sei nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur in engen Grenzen und unter engen Voraussetzungen möglich. Zwar stehe es dem Gesetzgeber frei, die Anwendbarkeit einer einzelnen Vorschrift oder auch einer Gruppe von Vorschriften dadurch zu beschränken, dass er ihr Subsidiarität gegenüber bestimmten staatlichen Willensäußerungen niedrigeren Ranges beilege. Es dürfe dabei aber innerhalb des Staatsgefüges nicht zu einer Gewichtsverschiebung zwischen gesetzgebender Gewalt und Verwaltung kommen. Der (einfache) Gesetzgeber könne keinesfalls den Vorrang des Gesetzes als Prinzip beseitigen.

Ermächtigungen zur Gesetzesabweichung durch Verordnung könnten jedenfalls keine Entscheidungsmacht über wesentliche Fragen auf den Verordnungsgeber übertragen. Insofern sei „die legislative Selbstentmachtung“ verfassungsrechtlich unzulässig. Eine spezielle Einschränkung ergebe sich überdies daraus, dass auch die vom Gesetzgeber zunächst aufgrund freier Entscheidung „in ein Gesetz gelegte Systematik“ in diesem Sinne „wesentlich" sei. Eine „Systemabweichung“ könne daher vom Empfänger einer Ermächtigung zur gesetzesabweichenden Verordnungsgebung unter keinen Umständen in verfassungsmäßiger Weise bewirkt werden.

3. Die strikte verfassungsrechtliche Grenze für Delegationen ergebe sich aus Art. 80 Satz 2 LV bzw. Art. 80 Abs. 1 Grundgesetz (GG), deren Sinn es sei, das Parlament daran zu hindern, sich seiner Verantwortung als gesetzgebende Körperschaft zu entäußern. Dieses solle nicht einen Teil seiner Gesetzgebungsmacht der Exekutive übertragen können, ohne die Grenzen dieser Befugnis bedacht und diese nach Tendenz und Programm so genau umrissen zu haben, dass schon aus der Ermächtigung erkennbar und vorhersehbar ist, was dem Bürger gegenüber zulässig sein solle.

Der aus Art. 2 Abs. 5 Satz 2 LV abzuleitende (allgemeine) Gesetzesvorbehalt in Verbindung mit der Wesentlichkeitstheorie erfordere eine Regelung der vorliegend in Rede stehenden Fragen durch förmliches Gesetz.

Nach der Wesentlichkeitstheorie der Verfassungsrechtsprechung seien normative Angelegenheiten von besonderer Wichtigkeit nur einer Regelung durch Parlamentsgesetz zugänglich. Sie unterfielen einer Alleinentscheidungskompetenz der Legislative und statuierten eine „Delegationssperre“. Dies betreffe nicht nur die Frage, ob ein bestimmter Gegenstand überhaupt gesetzlich geregelt werden müsse, sondern auch, wie weit diese Regelungen im Einzelnen zu gehen haben. Welche Rechtsmaterien wesentlich seien und der Regelung durch förmliches Parlamentsgesetz bedürften, sei nicht abschließend festgelegt, sondern nach der Verfassungsrechtsprechung unter Würdigung der die fragliche Materie betreffenden Gesamtumstände festzustellen. Über die Grundrechtsrelevanz hinaus könne sich die Wesentlichkeit auch aus der Bedeutung einer Rechtsmaterie für das Gemeinwesen insgesamt ergeben. Die Intensität der Auswirkungen der Regelung sei einzubeziehen. Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG, dessen Grundsätze auch für die Landesgesetzgebung verbindlich seien, werde als eine spezielle Ausprägung der Wesentlichkeitsrechtsprechung bezeichnet. (Sub-)delegierte Verordnungsmaterien könnten von vornherein nur solche sein, die nicht dem Parlamentsvorbehalt unterfielen, d. h. normative Angelegenheiten von minderer Wichtigkeit. Der Verordnungsgeber dürfe nur „weniger Wesentliches“ regeln. Nach den Grundwerten der Verfassung sollten die Gesetze gerade nicht von der Regierung geschaffen werden, sondern die Gesetze die Regierung binden (Art. 2 Abs. 5 LV).

Hinsichtlich der Verordnungsermächtigung in § 2 Abs. 3 Nr. 1 BbgKomNotG, der eine Abweichung vom Verbot der Übertragung von Entscheidungskompetenzen in der Allzuständigkeit der Gemeindevertretung auf den Hauptausschuss ermögliche, sei zu berücksichtigen, dass kaum eine wesentlichere Angelegenheit für die kommunale Selbstverwaltung vorstellbar sei als Entscheidungsvorbehalte zugunsten der unmittelbar durch das kommunale Teilvolk legitimierten Kommunalvertretung. Auch die Verordnungsermächtigungen der § 2 Abs. 3 Nr. 2 bis Nr. 5 BbgKomNotG beträfen für die Entfaltung der Demokratie auf kommunaler Ebene wesentliche Fragen. Es gehe zum einen um Beratungs-, Verhandlungs- und Entscheidungsformen in einer repräsentativen Demokratie. Zum anderen betreffe die Öffentlichkeit von Beschlussfassungen einen wesentlichen Faktor für die Nachvollziehbarkeit und Überprüfbarkeit des demokratischen Prozesses. Besonders gewichtig sei das demokratische Prinzip durch die dem Verordnungsgeber ermöglichte Verschiebung von Wahlen und Bürgerentscheiden betroffen. Die durch § 2 Abs. 3 Nr. 6 BbgKomNotG zugelassene gesetzesabweichende Verordnungsermächtigung betreffend das Verbot, noch nach der konstituierenden Sitzung weitere Stellvertreter unter Berücksichtigung des Spiegelbildlichkeitsgrundsatzes für die Mitglieder des Hauptausschusses zu bestellen, berühre eine Systementscheidung des Gesetzgebers. Die Wesentlichkeit der in § 2 Abs. 3 Nr. 7 und 8 BbgKomNotG angesprochenen haushaltsrechtlichen Grundsätze liege auf der Hand.

4. Art. 80 Satz 2 LV verpflichte den Parlamentsgesetzgeber, Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung festzulegen. Der Gesetzgeber müsse dem Verordnungsgeber präzise vorordnen, exakt welche Maßnahmen bei Vorliegen exakt welcher Voraussetzungen angeordnet werden können und müssen. Es könne dem Verordnungsgeber nicht überlassen werden, die wesentliche Aufgabe des Ausgleichs zwischen den in der Pandemie im Streit stehenden grundlegenden Verfassungswerten anstelle des Gesetzgebers wahrzunehmen. Der Bestimmtheitsgrundsatz gebiete, dass das Handeln der Exekutive messbar und in gewissem Ausmaß für den Staatsbürger voraussehbar und berechenbar sei. Der vom BbgKomNotG adressierte Verordnungsgeber und auf der zweiten Stufe der Gesetzesadressat könnten hingegen nach Gutdünken über die Einhaltung oder Nichteinhaltung der in § 2 Abs. 3 BbgKomNotG genannten kommunalverfassungsrechtlichen Ge- oder Verbote entscheiden.

Die Normierungspflicht des Gesetzgebers betreffe nicht nur die Frage, ob ein bestimmter Gegenstand überhaupt parlamentsgesetzlich geregelt werden müsse, sondern auch, wie weit diese Regelungen im Einzelnen zu gehen hätten. Vorliegend gehe es bereits um das „Ob“, um die Frage der Geltung oder Nichtgeltung wichtiger Prinzipien der Kommunalverfassung. Zwar liege es grundsätzlich nahe, für die Feststellung eines Notstands eine Entscheidung des Parlaments vorauszusetzen, da es sich dabei nicht um eine einfache Subsumtion handele, die ein Rechtsanwender vornehmen könne. Vielmehr handele es sich um eine auch mit staatspolitischen Elementen behaftete Entscheidung, in die ggf. widerstreitende Verfassungsfaktoren einzustellen und zu einem Ausgleich zu bringen seien. Ein Prognosespielraum dieser Weite und schwerwiegenden Bedeutung könne nur dem Parlament selbst zustehen und müsse auch von diesem selbst wahrgenommen werden. Hierin sei die gesetzgeberische Ausgestaltung des BbgKomNotG jedoch irreführend: Das Parlament treffe gerade nicht etwa eine Entscheidung über eine genauer definierte Lage, bei deren Vorliegen bestimmte Rechtsänderungen zwingend einträten. Vielmehr werde eine durch nichts konkretisierte - und daher auch durch nichts überprüfbare - „Notlage" postuliert mit einem spätestens seit der Gesetzesänderung weit gesteckten Endzeitpunkt, bei deren Vorliegen der Verordnungsgeber und sogar die Regelungsadressaten selbst vom Kommunalverfassungsrecht in durchweg grundlegenden, wesentlichen Fragen abweichen könnten. Die Entscheidung darüber, ob es eine aktuell zu prognostizierende Lage erfordere, dass vom „Urbild der Kommunalverfassung“ in wesentlichen Grundsätzen abgewichen werden müsse, könne aber nur der Gesetzgeber selbst abschließend treffen. Nur dieser verfüge nach den Kriterien der Verfassungsrechtsprechung über hinreichende Entscheidungsspielräume hinsichtlich der hier zu treffenden Prognose. Nur er selbst habe die Kompetenz, die hier nötige Abwägung zwischen widerstreitenden Verfassungswerten im Wege einer praktischen Konkordanz herzustellen. Niemand außer dem Gesetzgeber habe somit zum durch bestimmte äußere Umstände vorgegebenen Entscheidungszeitpunkt verfassungsrechtlich „alle Fäden in der Hand", um eine ggf. notwendige Abweichung aktuell und zeitnah anordnen zu können, nicht der Verordnungsgeber und erst recht nicht der Normadressat.

IV.

1. Die Landesregierung hat zu dem Antrag Stellung genommen.

a. Das BbgKomNotG sei vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie verfasst worden. Mit dem „Lockdown“ am 17. März 2020 hätten sich für die Kommunen grundsätzliche Fragen der Handlungsfähigkeit gestellt. In Anbetracht der steigenden Infektionszahlen hätten viele Gemeindevertreter Bedenken gehabt, an den Sitzungen der Vertretungskörperschaften teilzunehmen. Aufgrund des höheren Durchschnittsalters der Gemeindevertreter des Landes Brandenburg habe Angst um die eigene Gesundheit und die der Familie bestanden, da bekannt gewesen sei, dass Infektionen gerade bei älteren Menschen einen schweren bis tödlichen Verlauf nehmen konnten. In dieser Situation seien Fragen an das Ministerium des Innern und für Kommunales als oberste Kommunalaufsichtsbehörde, aber auch an die kommunalen Spitzenverbände und die Landtagsabgeordneten herangetragen worden, wie die Kommunen in der sich weiter rasch ausbreitenden Pandemielage im Land beschluss- und handlungsfähig bleiben könnten. Aus der kommunalen Ebene sei vernehmbar gewesen, dass Sitzungen der Vertretungskörperschaften nicht mehr stattfänden und stattdessen Eilentscheidungen des Hauptverwaltungsbeamten im Einvernehmen mit dem Vorsitzenden der Vertretungskörperschaft auf Basis von § 58 BbgKVerf getroffen werden sollten. Eilentscheidungen hätten keine Beschlussfassung durch Kollegialorgane ermöglicht und wären dem Öffentlichkeitsgrundsatz nicht gerecht geworden. Es seien Video- und Audiositzungen diskutiert worden; bundesweite Erfahrungen damit habe es zu diesem Zeitpunkt nicht gegeben. Unter dem Eindruck einer Ausnahmesituation hätten die Maßnahmen nicht sogleich in die Kommunalverfassung aufgenommen werden sollen. Deshalb sei die Variante des BbgKomNotG gewählt worden, mit dem der Gesetzgeber vorübergehend grundsätzliche Abweichungen von der Kommunalverfassung zugelassen habe. Da auch nicht abzusehen gewesen sei, ob der Landtag zu weiteren Sitzungen würde zusammenkommen können, und auch, um gegebenenfalls schnell über einen Handlungsspielraum bei der Ausgestaltung des durch den Gesetzgeber eröffneten Rahmens zu verfügen, sei die konkrete Umsetzung im Wege einer Verordnung vorgesehen worden. Von der Verordnungsermächtigung habe der Minister des Innern und für Kommunales umgehend Gebrauch gemacht.

b. Der Antrag sei unbegründet. Das angegriffene Gesetz weise nicht die geltend gemachten Mängel auf.

Art. 97 LV, der das kommunale Selbstverwaltungsrecht regele, gebe keinen strikten parlamentsgesetzlichen Vorbehalt für die gesetzliche Ausgestaltung vor. Es handele sich um einen gesetzlichen Regelungsvorbehalt und -auftrag, dessen Ausgestaltung durch die arbeitsteilige Rechtsetzung von Legislative und Exekutive im Rahmen der hierfür geltenden verfassungsrechtlichen Grenzen zulässig sei. Der Begriff „Gesetze“ in Art. 97 LV umfasse nicht nur Gesetze im förmlichen Sinn, sondern auch Rechtsverordnungen, sofern sie auf einer mit Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG in Einklang stehenden gesetzlichen Ermächtigung beruhten. Ein förmliches Parlamentsgesetz sei nur in Ausnahmefällen, namentlich bei Fragen von wesentlicher Bedeutung, erforderlich.

Dieses Verständnis entspreche der allgemeinen Interpretation verfassungsrechtlicher Regelungs- und Gesetzesvorbehalte vor dem Hintergrund, dass auch die Exekutive über eine eigenständige demokratische Legitimation verfüge und ihr von der Legislative abgeleitete Rechtsetzungsbefugnisse nach Art. 80 LV übertragen werden dürften, soweit nicht ausnahmsweise der Verfassungsgeber ein formelles Gesetz fordere. In dem systematischen Kontext der die Kommunen betreffenden Gesetzgebung verlange der Verfassungsgeber ein formelles Gesetz nur für die Zwangsauflösung von Gemeinden (vgl. Art. 98 Abs. 2 Satz 2 LV) bzw. Landkreisen (vgl. Art. 98 Abs. 3 Satz 2 LV). Vor diesem Hintergrund bestünden keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Zulässigkeit von Regelungen auf der Verordnungsebene, um die kommunale Selbstverwaltung auszugestalten. Die arbeitsteilige Umsetzung gesetzlicher Regelungsaufträge entspreche der unbeanstandeten Staatspraxis, wie sich anhand der Verordnungsermächtigungen in § 3 Abs. 3 Satz 2, § 30 Abs. 4 Satz 5 und § 107 BbgKVerf zeige.

Die dem Minister des Innern und für Kommunales in § 2 BbgKomNotG erteilte Verordnungsermächtigung verstoße auch nicht gegen den Parlamentsvorbehalt. Anhand des Wesentlichkeitsgrundsatzes habe der Gesetzgeber die ihm vorbehaltenen wesentlichen Entscheidungen für die dem Verordnungsgeber gestatteten Abweichungen von Vorschriften der Kommunalverfassung im BbgKomNotG selbst getroffen. Für die dem Verordnungsgeber in diesem Rahmen überlassenen Regelungen greife mithin kein Verbot der Normdelegation.

2. Der Landtag, der Landkreistag Brandenburg e.V. und der Städte- und Gemeindebund Brandenburg e.V. hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.

B.

Der Normenkontrollantrag ist überwiegend zulässig, Art. 113 Nr. 2 LV, § 39 Nr. 1 Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg (VerfGGBbg).

Das nach dem Wortlaut des Antrags vollumfänglich zur Überprüfung gestellte BbgKomNotG in der Fassung, die es durch das Erste Gesetz zur Änderung des Brandenburgischen kommunalen Notlagegesetzes vom 25. September 2020 (GVBl I/20, [Nr. 27]) erhalten hat, ist tauglicher Antragsgegenstand im Sinne des Art. 113 Nr. 2 LV, § 39 VerfGGBbg. Unzulässig ist der Antrag bezüglich § 1 und § 3 BbgKomNotG. Insoweit genügt der Antrag nicht dem - auch im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle geltenden - Begründungserfordernis, § 20 Abs. 1 Satz 2 VerfGGBbg (Urteil vom 25. Mai 2016 ‌‑ VfGBbg 51/15 ‑‌, https://verfassungsgericht.brandenburg.de). Die Antragsteller legen nicht dar, aus welchen rechtlichen Erwägungen sie die (mit) angegriffenen Normen mit höherrangigem Recht für unvereinbar halten. Diesbezüglich fehlt es - anders als hinsichtlich § 2 BbgKomNotG - an einer Begründung.

Die ursprünglich 23 Antragsteller waren antragsberechtigt. Sie erfüllten das erforderliche Quorum von einem Fünftel des 88 Abgeordnete umfassenden Landtags.

Das objektive Klarstellungsinteresse ist hinsichtlich § 2 BbgKomNotG nicht dadurch entfallen, dass das Gesetz inzwischen außer Kraft getreten ist.

Ein objektives Klarstellungsinteresse an der verfassungsgerichtlichen Überprüfung wird durch den Antrag eines Fünftels der Mitglieder des Landtags indiziert (Urteil vom 21. März 1996 ‌‑ VfGBbg 18/95 ‑‌, LVerfGE 4, 114, https://verfassungsgericht.brandenburg.de, m. w. N.). Dies gilt auch, wenn die zum Prüfungsgegenstand erhobene Norm außer Kraft getreten oder auf andere Weise gegenstandslos geworden ist (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 12. Oktober 2010 ‌‑ 2 BvF 1/07 ‑‌, BVerfGE 127, 293, Rn. 100, vom 15. Januar 2008 ‌- 2 BvF 4/05 ‌, BVerfGE 119, 394, Rn. 48, und vom 28. Januar 1998 ‌‑ 2 BvF 3/92 ‑‌, Rn. 78, BVerfGE 97, 198, www.bverfg.de).

Das objektive Klarstellungsinteresse entfällt lediglich, wenn von der zur Überprüfung gestellten Norm unter keinem denkbaren Gesichtspunkt mehr Rechtswirkungen ausgehen können (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Oktober 2010 ‌‑ 2 BvF 1/07 ‑‌, Rn. 100, BVerfGE 127, 293, www.bverfg.de). Im Falle von Verordnungsermächtigungen wäre dies nur der Fall, wenn die Exekutive von der Verordnungsermächtigung gar keinen Gebrauch gemacht hätte und in Zukunft auch keinen Gebrauch mehr machen könnte (vgl. BVerfG, Beschluss vom 18. Juli 2005 ‌‑ 2 BvF 2/01 ‑‌, BVerfGE 113, 167, Rn. 77, www.bverfg.de).

Daran gemessen, besteht in Bezug auf § 2 BbgKomNotG ein Klarstellungsinteresse. Der Verordnungsgeber hat von der Verordnungsbefugnis durch den Erlass der BbgKomNotV Gebrauch gemacht. Rechtsstreitigkeiten, für die es auf die Vereinbarkeit der Verordnungsermächtigungen in § 2 BbgKomNotG mit der Landesverfassung ankommen könnte, sind angesichts der Breite der von der Abweichungsbefugnis betroffenen Regelungskreise nicht von vornherein auszuschließen.

C.

Der Normenkontrollantrag ist, soweit zulässig, auch begründet.

I.

Das BbgKomNotG war formell verfassungsgemäß. Die Gesetzgebungskompetenz des Landes Brandenburg folgt aus seiner Residualkompetenz für das Kommunalrecht, Art. 70 Abs. 1 GG (vgl. Uhle, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Stand: März 2022, Art. 70 Rn. 104). Anhaltspunkte für Fehler im Gesetzgebungsverfahren sind nicht ersichtlich. Die kommunalen Spitzenverbände sind im Gesetzgebungsverfahren nach Art. 97 Abs. 4 LV beteiligt worden.

II.

§ 2 BbgKomNotG war materiell verfassungswidrig.

Die Regelung verstieß gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 2 Abs. 4 LV) und den Bestimmtheitsgrundsatz (Art. 80 Satz 2 LV). Der Gesetzgeber hat mit der Regelung des § 2 BbgKomNotG eine Ermächtigung zum Erlass gesetzesändernder Verordnungen erteilt, für die sich aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung besondere Grenzen ergeben (1). Dies gilt insbesondere bei Ausformung der Grundprinzipien des demokratischen Gemeinwesens, auch für die kommunale Ebene, die grundsätzlich ein Handeln des Parlamentsgesetzgebers erfordert (2). § 2 BbgKomNotG eröffnete dem Verordnungsgeber für die Dauer der festgestellten Notlage die Möglichkeit, durch freie Entscheidung über die Geltung oder Nichtgeltung wesentlicher Vorschriften der Kommunalverfassung weitreichende Veränderungen des gesetzlich ausgeformten Bilds kommunaler Selbstverwaltung zu bewirken (3), wodurch eine erhebliche Gewichtsverschiebung zwischen gesetzgebender und exekutiver Gewalt entstand (4). Dass Rechtsverordnungen nach § 2 Abs. 1 BbgKomNotG nur im Einvernehmen mit dem Ausschuss für Inneres und Kommunales des Landtags ergehen durften, änderte daran nichts (5). Zudem genügte die Vorschrift nicht den Bestimmtheitsanforderungen des Art. 80 Satz 2 LV (6).

1. Bei § 2 BbgKomNotG handelte es sich um eine Verordnungsermächtigung, die es dem Verordnungsgeber ermöglichte, von geltendem Recht - der Brandenburgischen Kommunalverfassung - abzuweichen, mithin Normierungen eines höherrangigen Parlamentsgesetzes durch eine niederrangige Verordnung zu verdrängen. Für Verordnungsermächtigungen, die der Exekutive die Befugnis verleihen, formelle Gesetze zu ändern oder gesetzesabweichende Neuregelungen zu erlassen, gelten besondere Anforderungen. Der Vorrang des formellen Gesetzes steht solchen gesetzesändernden oder gesetzesergänzenden Rechtsverordnungen nur dann nicht entgegen, wenn die gesetzesverdrängende Wirkung auf einem ausdrücklich zugunsten der Rechtsverordnung reduzierten ‑ subsidiären - Geltungsanspruch des Gesetzes beruht, die Rechtsverordnung also nur eine ihr aufgrund der gesetzlichen Ermächtigung gestattete Möglichkeit zur Gesetzesausführung nutzt, und wenn dafür sachliche Gründe bestehen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 4. Mai 1997 ‌‑ 2 BvR 509/96 ‑‌, Rn. 16 f., juris). Die Grenze ist dort erreicht, wo der Gesetzgeber Vorschriften von solcher Bedeutung und in solchem Umfang für subsidiär erklärt, dass sich dadurch innerhalb des Staatsgefüges eine Gewichtsverschiebung zwischen gesetzgebender Gewalt und Verwaltung ergibt (BVerfG, Beschluss vom 6. Mai 1958 ‌‑ 2 BvL 37/56 ‑‌, BVerfGE 8, 155-173, Rn. 88, juris).

Es gehört zu den demokratischen wie zu den rechtsstaatlichen Anforderungen, dass der Parlamentsgesetzgeber prinzipiell selbst für Änderungen seiner Gesetze und deren ordnungsgemäße Inkraftsetzung sorgt. Er muss vor allem auch den Inhalt der geltenden Gesetze in eigener Verantwortung und im Wege der parlamentarischen Willensbildung selbst bestimmen (Robbers, in: Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand: November 2022, Art. 20, Rn. 726).

An die Exekutive delegierte Gesetzgebungsbefugnisse, die zu Abweichungen von geltendem formellen Gesetzesrecht ermächtigen, müssen hinreichend klar erkennen lassen, welche Vorschriften im Einzelnen gelten sollen. Überlässt der Parlamentsgesetzgeber dem Verordnungsgeber die freie Auswahl und Entscheidungsmacht darüber, von welchen in einer Verordnungsermächtigung benannten Gesetzesvorschriften abgewichen wird, kann dies dazu führen, dass er den Inhalt der geltenden Vorschriften nicht mehr in eigener Verantwortung bestimmt und damit der Entscheidung des Verordnungsgebers überlässt. Da aber jede Ordnung eines Lebensbereichs durch objektive Rechtssätze auf eine Willensentschließung der vom Volk bestellten Gesetzgebungsorgane zurückgeführt werden können muss, darf der Gesetzgeber seine vornehmste Aufgabe nicht anderen Stellen innerhalb oder außerhalb der Staatsorganisation zu freier Verfügung überlassen (BVerfG, Beschluss vom 9. Mai 1972 ‌‑ 1 BvR 518/62 ‑‌, BVerfGE 33, 125-171, Rn. 106, juris).

Die in Art. 2 Abs. 4 LV normierte Teilung der Gewalten ist für die Landesverfassung ein tragendes Organisations- und Funktionsprinzip. Die Teilung der Gewalten zielt auch darauf ab, dass staatliche Entscheidungen möglichst richtig, das heißt von den Organen getroffen werden, die dafür nach ihrer Organisation, Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise über die besten Voraussetzungen verfügen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. Juli 1996 ‌‑ 2 BvF 2/93 ‑‌, BVerfGE 95, 1-27, Rn. 42, und Urteil vom 18. Dezember 1984 ‌‑ 2 BvE 13/83 ‑‌, BVerfGE 68, 1-132, Rn. 137, juris). Keine Gewalt darf ein von der Verfassung nicht vorgesehenes Übergewicht über eine andere Gewalt erhalten. Im freiheitlich-demokratischen System der Landesverfassung fällt dem Parlament als Legislative die verfassungsrechtliche Aufgabe der Normsetzung zu. Nur das Parlament besitzt hierfür die demokratische Legitimation. Der Exekutive obliegt die Regierung und die Verwaltung; dazu gehört primär die Vollziehung von Gesetzen im Einzelfall (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. Juli 1996 ‌‑ 2 BvF 2/93 ‑‌, BVerfGE 95, 1-27, Rn. 43 ff., juris). Der exekutiven Rechtsetzung sind daher Grenzen gesetzt.

 

 

Zwar kann der parlamentarische Gesetzgeber dem Verordnungsgeber durch eine Ermächtigung zum Erlass gesetzesändernder Rechtsverordnungen gewisse Auswahlmöglichkeiten einräumen. Dies ist allerdings nur im durch das Demokratieprinzip gesetzten Rahmen möglich, mithin unter Berücksichtigung des Wesentlichkeitsgrundsatzes. Hierbei bedeutet „wesentlich“ zum einen wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte (Urteil vom 24. April 2012 ‌‑ VfGBbg 47/11 ‑‌, https://verfassungsgericht.brandenburg.de). Zum anderen ist der Gesetzgeber zur eigenhändigen Regelung jener Fragen verpflichtet, die für Staat und Gesellschaft von erheblicher Bedeutung sind (vgl. BVerfG, Urteil vom 19. September 2018 ‌‑ 2 BvF 1/15 ‑‌, BVerfGE 150, 1‑163, Rn. 194, www.bverfg.de). Verfassungsrechtliche Anhaltspunkte sind dabei die tragenden Grundsätze der Verfassung, zu denen neben der Wahrung der Grundrechte (Art. 2 Abs. 3 LV) insbesondere die Staatsstrukturprinzipien (Art. 2 Abs. 1, 2 und 4 LV) gehören (vgl. BVerfG, Urteil vom 19. September 2018 ‌‑ 2 BvF 1/15 ‑‌, BVerfGE 150, 1-163, Rn. 193, Beschlüsse vom 21. April 2015 ‌‑ 2 BvR 1322/12 ‑‌, BVerfGE 139, 19-64, Rn. 52, vom 1. April 2014 ‌‑ 2 BvF 1/12 ‑‌, BVerfGE 136, 69-119, Rn. 102, und Urteil vom 14. Juli 1998 ‌‑ 1 BvR 1640/97 ‑‌, BVerfGE 98, 218-264, Rn. 136, www.bverfg.de).

2. Zu jenen tragenden Verfassungsgrundsätzen gehört auch die kommunale Selbstverwaltung, die grundsätzlich einer Ausformung durch den parlamentarischen Gesetzgeber bedarf (Art. 2 Abs. 4 Satz 2, Art. 97 LV). Die kommunale Selbstverwaltung ist ein Grundprinzip des demokratischen Gemeinwesens, dessen einfachgesetzliche  Ausgestaltung durch die Brandenburgische Kommunalverfassung wiederum von verschiedenen Verfassungsgrundsätzen und -prinzipien getragen wird, vor allem durch das Demokratieprinzip (vgl. Urteil vom 20. Januar 2000 ‌‑ VfGBbg 53/98 ‑‌, https://verfassungsgericht.brandenburg.de), welches das Bild der Selbstverwaltung maßgeblich prägt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. Oktober 1994 ‌‑ 2 BvR 445/91 ‑‌, BVerfGE 91, 228-245, Rn. 45, juris). Es findet für die kommunale Ebene seine Verankerung in Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG bzw. Art. 22 Abs. 1 LV, wonach die Gemeinden eine gewählte Vertretung haben (Urteil vom 20. Januar 2000 ‌‑ VfGBbg 53/98 ‑‌, https://verfassungsgericht.brandenburg.de). Die Ausübung von Staatsgewalt bedarf auch auf kommunaler Ebene der demokratischen Legitimation.

Auch im Übrigen ist die kommunale Selbstverwaltung von den Vorgaben des Demokratieprinzips (Art. 2 Abs. 1 LV) durchwirkt. Gemeinden sind im Sinne eines Aufbaus der Demokratie von unten nach oben Keimzellen der Demokratie (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. November 1988 ‌‑ 2 BvR 1619/83 ‑‌, BVerfGE 79, 127-161, Rn. 55, juris). Teilnahme und Mitwirkung der Gemeindebürger, Repräsentation durch gewählte Vertreter und Kontrolle nach demokratischen Prinzipien und demokratische Öffentlichkeit sind Grundsätze, die das Bild kommunaler Selbstverwaltung bestimmen.

Demzufolge hat der Gesetzgeber den ihm in Art. 97 Abs. 5 LV erteilten Ausgestaltungsauftrag zur Entfaltung der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie des Art. 97 Abs. 1, 2 LV unter besonderer Berücksichtigung der Anforderungen des Demokratieprinzips wahrzunehmen. Hierzu gehört es auch, für funktionsfähige Organe der Gemeinde, ihre Bürgermeister und Vertretungen, Sorge zu tragen, die in die Lage versetzt werden müssen, in einer krisenhaften Situation eigenständig und selbstverantwortlich über die Angelegenheiten der Gemeinde entscheiden zu können (vgl. BayVerfGH, Entscheidung vom 29. August 1997 ‌‑ Vf. 8-VII-96 ‑‌, Rn. 71 und Rn. 77, juris). Eine Lähmung der gemeindlichen Aufgabenwahrnehmung muss vermieden werden (BayVerfGH, Entscheidung vom 15. Juli 1999 ‌‑ Vf. 103-VI-97 ‑‌, Rn. 23 m. w. N. juris; Engels, in: Sachs, 9. Aufl. 2021, GG Art. 28 Rn. 54; Mehde, in: Dürig/Herzog/Scholz/Mehde, Stand: Juli 2021, GG Art. 28 Abs. 2 Rn. 68). Es ist grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, bei drohender Gefahr für die Funktionsfähigkeit der Gemeinden die aus seiner Sicht gebotenen Maßnahmen selbst zu ergreifen.

Ermöglicht der Gesetzgeber per Verordnungsermächtigung - wie mit § 2 Abs. 3 BbgKomNotG geschehen - Abweichungen von einem maßgeblich durch Parlamentsgesetze ausgeformten und durch die Verfassung garantierten Regelungsbereich, wie es das Kommunalverfassungsrecht ist, so darf dies nicht in einer Weise geschehen, die dem Verordnungsgeber die normsetzende Gewalt über das Bild der verfassungsrechtlich garantierten kommunalen Selbstverwaltung überlässt, auch dann nicht, wenn dies nur für einen begrenzten Zeitraum geschieht. Vielmehr müssen die Voraussetzungen feststehen, unter denen Regelungen in Kraft treten sollen, die isoliert oder in summa das Bild kommunaler Selbstverwaltung wesentlich abändern. Andernfalls ist von einem unzulässigen Verzicht des Gesetzgebers auf seine Rechtsetzungsbefugnisse auszugehen (vgl. in dem Sinne auch zu dynamischen Verweisungen: BVerfG, Beschluss vom 25. Februar 1988 ‌‑ 2 BvL 26/84 ‑‌, BVerfGE 78, 32-38, Rn. 16, juris).

3. § 2 BbgKomNotG ermöglichte Abweichungen von wesentlichen Strukturprinzipien der Kommunalverfassung und den darin vorgesehenen Entscheidungsprozessen.

 

a. In § 2 Abs. 3 Nr. 1 BbgKomNotG wurde der Verordnungsgeber ermächtigt, eine Übertragung von Entscheidungskompetenzen, die in der Allzuständigkeit der Gemeindevertretung liegen, auf den Hauptausschuss zuzulassen.

Nach § 28 Abs. 1 BbgKVerf ist die Gemeindevertretung für alle Angelegenheiten der Gemeinde zuständig, soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist. § 28 Abs. 2 BbgKVerf enthält einen nicht abschließenden Katalog von Angelegenheiten, deren Entscheidung der Gemeindevertretung vorbehalten sind; diese darf sie ausdrücklich nicht auf andere Organe der Gemeinde übertragen. Dazu zählen neben den allgemeinen Grundsätzen, nach denen die Verwaltung geführt werden soll (§ 28 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BbgKVerf), unter anderem die Hauptsatzung (§ 28 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BbgKVerf), die Wahlen des Bürgermeisters, wenn dieser nicht unmittelbar durch die Bürger gewählt wird, und der Beigeordneten (§ 28 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 BbgKVerf), das allgemeine Satzungsrecht (§ 28 Abs. 2 Satz 1 Nr. 9 BbgKVerf) einschließlich der Haushaltssatzung (§ 28 Abs. 2 Satz 1 Nr. 15 BbgKVerf), Geschäfte über Vermögensgegenstände der Gemeinde (§ 28 Abs. 2 Nr. 17 BbgKVerf), aber auch die Errichtung, Änderung und Auflösung öffentlicher Einrichtungen (§ 28 Abs. 2 Satz 1 Nr. 19 BbgKVerf), Eigenbetriebe (§ 28 Abs. 2 Satz 1 Nr. 20 BbgKVerf) und kommunaler Unternehmen (§ 28 Abs. 2 Satz 1 Nr. 21 BbgKVerf).

Die durch § 28 BbgKVerf bewirkte Zuweisung substantieller Kompetenzen an die Gemeindevertretung folgt aus Art. 22 Abs. 1, Abs. 3 LV, in dem das Repräsentationsprinzip der Gemeindevertretung, ein Leitgedanke der repräsentativen Demokratie, zum Ausdruck kommt. Die konstitutive Anforderung des Art. 22 Abs. 1 Satz 1 LV, dass der Volkswille durch eine kommunale Vertretungskörperschaft vermittelt wird, beinhaltet, dass die demokratisch gewählten Repräsentanten (d. h. die Gemeindevertreter) auf die kommunalen Entscheidungsprozesse einwirken können, und impliziert, dass der Gemeindevertretung entsprechende Kompetenzen zugedacht sind (vgl. zu Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG: Mehde, Neues Steuerungsmodell und Demokratieprinzip, 2000, S. 254). Als von der Verfassung vorgesehenes Volksvertretungsorgan müssen der Gemeindevertretung intrafunktional Kompetenzen in substantiellem Umfang vorbehalten bleiben (vgl. Engels, Die Verfassungsgarantie kommunaler Selbstverwaltung, 2014, S. 375 m. w. N.). Die Gemeindevertretung ist die „zentrale Führungsinstanz der Gemeinde“ (BVerfG, Beschluss vom 15. Februar 1978 ‌‑ 2 BvR 134/76 ‑‌, BVerfGE 47, 253-285, Rn. 46, juris). Sie darf gegenüber den anderen kommunalen Organe nicht völlig marginalisiert werden (Mehde, Neues Steuerungsmodell und Demokratieprinzip, 2000, S. 242 m. w. N.). Ihr müssen substantielle Kompetenzen zugestanden werden, d. h. die wichtigsten Führungs- und Kontrollaufgaben; insoweit verfügt der Landesgesetzgeber über keinen Gestaltungsspielraum (vgl. Ritgen, Kommunalrechtliche Grundordnung und Grundprinzipien nach den Gemeinde- und Kreisordnungen der Länder, S. 157 [182]).

Dennoch ermöglichte § 2 Abs. 3 Nr. 1 BbgKomNotG dem Verordnungsgeber, durch Rechtsverordnung eine vollständige Delegation sämtlicher in der Allzuständigkeit der Vertretung liegenden Angelegenheiten auf den Hauptausschuss zu erlauben. Dies umfasste unterschiedslos alle sogenannten Vorbehaltsaufgaben der Gemeindevertretung (§ 28 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 25 BbgKomNotG), d. h. substantielle Kompetenzen, die nach dem der Kommunalverfassung zugrunde liegenden Selbstverwaltungsbild grundsätzlich der Gemeindevertretung als dem unmittelbar demokratisch legitimierten Organ zugewiesen sind. Da die dem Verordnungsgeber eröffnete Abweichungsbefugnis nicht an weitere materielle Voraussetzungen oder Einschränkungen geknüpft war, wurde ihm die freie Entscheidung über die Geltung eines grundlegenden Prinzips der Kommunalverfassung überlassen, nämlich die Allzuständigkeit der Gemeindevertretung, die Ausprägung des Demokratieprinzips ist.

b. Weiter ermächtigte der Gesetzgeber den Verordnungsgeber in § 2 Abs. 3 Nr. 2 BbgKomNotG, Abweichungen von der Pflicht zuzulassen, Sitzungen der Gemeindevertretung und des Hauptausschusses als Präsenzsitzungen durchzuführen.

Die Abweichungsmöglichkeit zielte darauf ab, Sitzungen ohne körperliche Anwesenheit der Mitglieder der Gemeindevertretung bzw. des Hauptausschusses („Präsenzsitzung“) möglich zu machen. Statt Präsenzsitzungen standen dem Gesetzgeber Sitzungen per Telefon- oder Videokonferenz vor Augen (LT-Drs. 7/991, Begründung, B., zu § 2 Absatz 3 und 4).

Auch bei der Präsenzsitzungspflicht handelt es sich um ein wesentliches, die kommunalverfassungsrechtliche Wirklichkeit substanziell prägendes Prinzip. Zwar schreibt die Kommunalverfassung eine Präsenzsitzungspflicht nicht ausdrücklich vor. Die körperliche Anwesenheit der Gemeindevertreter in Sitzungen wird aber implizit vorausgesetzt. Das ergibt sich aus zahlreichen Normen (vgl. § 31 Abs. 1 Satz 2, § 36 Abs. 2 Satz 4, Abs. 3 Satz 3, § 37 Abs. 2 Satz 2, § 38 Abs. 1 Satz 1 und 3, Abs. 2, Abs. 3 Satz 1 BbgKVerf). Der Gesetzgeber versteht unter „Sitzung“ den Zusammentritt der Gemeindevertreter (vgl. § 34 Abs. 1 Satz 2 BbgKVerf) zur Beratung und Entscheidung an dem in der Ladung angegebenen Ort zur angegebenen Zeit (§ 35 Abs. 1 Satz 2, § 28 Abs. 1, Abs. 3 BbgKVerf). Die Verbindung zwischen bekanntzumachendem Ort, Anwesenheit und Öffentlichkeit der Sitzung in § 36 Abs. 1 und Abs. 2 BbgKVerf lässt das vom Gesetzgeber zugrunde gelegte Bild körperlicher Anwesenheit erkennen (vgl. auch: § 36 Abs. 2 Satz 1, § 34, § 38 Abs. 1 BbgKVerf: „Einberufung“, „zusammentreten“, „anwesende Mitglieder“, § 22 Abs. 4 Satz 1 und Satz 2 BbgKVerf „Sitzungsraum“, § 37 Abs. 2 Satz 2 BbgKVerf „des Raumes verwiesen“).

Verfassungsrechtlich betrachtet, ist die Präsenzsitzung Ausdruck der Repräsentations- und Verantwortungsfunktion der Gemeindevertretung und des mit der Repräsentationsfunktion in engem Zusammenhang stehenden Öffentlichkeitsprinzips.

Sie ermöglicht den Gemeindevertretern die Ausübung ihrer mit dem freien Mandat verbundenen Mitwirkungsrechte. Die Gemeindevertretung repräsentiert die Gemeindebürger, auch wenn sie kein Parlament ist, sondern Organ einer Selbstverwaltungskörperschaft (BayVerfGH, Entscheidung vom 10. Juni 2021 ‌‑ Vf. 25-VII-21 ‑‌, Rn. 37, juris). Die Präsenzsitzung macht den demokratischen Prozess der Entscheidungsfindung sichtbar. Sie sorgt damit für Verantwortungsklarheit und ermöglicht demokratische Kontrolle. Die Präsenzsitzungspflicht steht ferner in engem Zusammenhang mit den aus dem Status des freien Mandats folgenden Rechten des Gemeindevertreters. Der Gemeindevertreter hat das Recht, an den Verhandlungen und Beschlussfassungen des Vertretungsorgans mitzuwirken, insbesondere das Wort zu ergreifen und abzustimmen (Burgi, Kommunalrecht, 3. Aufl. 2010, § 12 Rn. 33 f.). Das Beteiligungsrecht am Geschehen im Plenum und in den Ausschüssen ist das wichtigste Recht eines Mitglieds einer Vertretungskörperschaft (Schmidt, Kommunalrecht, 2. Aufl. 2014, Rn. 419). Präsenzsitzung nach dem Bild der Kommunalverfassung meint eine öffentliche Sitzung (§ 36 Abs. 2 Satz 1 BbgKVerf). Öffentliche Sitzungen der Gemeindevertretung dienen der Rückkopplung der Vertreter an die Vertretenen, denen sie im Interesse der Repräsentation, Partizipation und Integration verpflichtet sind. Dies gilt besonders auf der kommunalen Ebene, wo dem Wähler die verantwortlichen Entscheidungsträger oftmals persönlich bekannt sind und politische Verantwortung klarer zurechenbar ist (Krebs, Der kommunale Öffentlichkeitsgrundsatz, 2016, S. 44 f.). Die Repräsentations- und Verantwortungsfunktion wird insbesondere durch die unmittelbare Sitzungsöffentlichkeit gewährleistet. Diese ist Bestandteil des kommunalen Öffentlichkeitsgrundsatzes, der Ausfluss des Demokratieprinzips ist (dahingehend OVG Münster, Urteil vom 7. Oktober 2020 ‌‑ 15 A 2750/18 ‑‌, Rn. 50, juris; vgl. auch Krebs, Der kommunale Öffentlichkeitsgrundsatz, 2016, S. 45).

Nach § 2 Abs. 3 Nr. 2 BbgKomNotG konnte der Verordnungsgeber durch Rechtsverordnung zulassen, dass die kommunalen Vertretungen ihre Sitzungen ohne körperliche Anwesenheit ihrer Mitglieder abhielten. Im Fall einer Audiositzung wäre der Willensbildungs- und Entscheidungsprozess nicht einmal mehr sichtbar, sondern nur noch akustisch nachzuvollziehen. Das von der Kommunalverfassung etablierte Bild von Sitzungen und Willensbildungsprozessen im kommunalen Gemeinwesen stützt sich jedoch auf die Zusammenkunft vor Ort und die damit einhergehenden Beteiligungsrechte der gewählten Vertreter und Teilnahmemöglichkeiten der Bürger. Ein Abweichen von der Präsenzsitzung betraf folglich die Grundstruktur der kommunalverfassungsrechtlichen Wirklichkeit und damit einen wesentlichen Regelungsbereich.

c. Aufgrund von § 2 Abs. 3 Nr. 3 BbgKomNotG konnte der Verordnungsgeber zulassen, dass Beschlüsse der Gemeindevertretung und des Hauptausschusses im schriftlichen Umlaufverfahren gefasst wurden.

Zwar lässt sich weder dem Wortlaut des § 2 Abs. 3 Nr. 3 BbgKomNotG noch der Gesetzesbegründung entnehmen, was mit dem Umlaufverfahren gemeint war und wie dieses Verfahren ausgestaltet sein sollte. Auch ist der Brandenburgischen Kommunalverfassung ein schriftliches Umlaufverfahren fremd. Es ist wohl davon auszugehen, dass § 1 Abs. 1 Verwaltungsverfahrensgesetz für das Land Brandenburg (VwVfGBbg) i. V. m. § 90 Abs. 1 Satz 2 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) in Bezug genommen werden sollte. Die für Ausschüsse geltende verwaltungsverfahrensrechtliche Vorschrift ermöglicht Beschlüsse im schriftlichen Verfahren, wozu auch das Umlaufverfahren rechnet, bei dem die Mitglieder nacheinander angefragt werden (Rademacher, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand: August 2022, § 90 VwVfG Rn. 19). So verstanden, ersetzt das Umlaufverfahren nicht nur den Abstimmungsakt, sondern gegebenenfalls auch den Prozess der Beratung und geht damit noch über die in § 2 Abs. 3 Nr. 2 BbgKomNotG ermöglichten alternativen Formen der Sitzungsdurchführung hinaus.

Die offene Abstimmung wurzelt in dem aus dem Demokratieprinzip fließenden Öffentlichkeitsgrundsatz (Schumacher, in: Schumacher u. a., Kommunalverfassungsrecht Brandenburg, BbgKVerf, Stand: Dezember 2015, § 39 Rn. 5.3). Zweck der offenen Abstimmung „unter den Augen der Öffentlichkeit“ ist die demokratische Kontrolle der Tätigkeit der Gemeindevertretung durch die Öffentlichkeit (vgl. sinngemäß OVG Münster, Urteil vom 21. September 1993 - 15 A 1811/91 ‑, Rn. 33, juris). Die Öffentlichkeit der Sitzung der Gemeindevertretung erstreckt sich grundsätzlich neben der öffentlichen Beratung auf die öffentliche Beschlussfassung (Krebs, Der kommunale Öffentlichkeitsgrundsatz, 2016, S. 121).

§ 2 Abs. 3 Nr. 3 BbgKomNotG ermächtigte demnach zu einer Verordnungsregelung, die die demokratische Funktion des öffentlichen Abstimmungsakts in ihrem Wesenskern betraf. Per Verordnung konnte der Willensbildungsprozess des Kollegialorgans grundlegend verändert werden. Im Umlaufverfahren muss sich jeder Vertreter selbst, ohne vorhergehenden Beratungsprozess, einen Willen bilden. Aufgrund der Natur des Umlaufverfahrens hat die Öffentlichkeit keinen Einblick in den Abstimmungsvorgang und das Abstimmungsverhalten. Die materielle Wahrnehmung der Repräsentationsaufgabe entfällt. Eine schriftliche Abstimmung nimmt den Gemeindevertretern die Möglichkeit, ihr Abstimmungsverhalten kund zu tun und damit nach außen gegenüber der Öffentlichkeit dafür einzutreten (Repräsentations- und Verantwortungsfunktion, freies Mandat). Dem Abstimmungsvorgang und -akt fehlt es an Transparenz und Nachvollziehbarkeit. Der Öffentlichkeit wird die Kontrollmöglichkeit versagt. Eine solche Abwandlung des Beratungs- und Entscheidungsfindungsprozesses betrifft offensichtlich wesentliche Funktionsprinzipien des Kommunalverfassungsrechts.

d. § 2 Abs. 3 Nr. 4 BbgKomNotG erlaubte dem Verordnungsgeber, Abweichungen von der Pflicht zur Herstellung der unmittelbaren Sitzungsöffentlichkeit anzuordnen.

§ 2 Abs. 3 Nr. 4 BbgKomNotG bezog sich auf § 36 Abs. 2 Satz 1 BbgKVerf (bzw. i. V. m. § 50 Abs. 4, § 44 Abs. 3 BbgKVerf), der bestimmt, dass die Sitzungen der Gemeindevertretung und des Hauptausschusses öffentlich sind (vgl. Schumacher, BbgKVerf, Stand: Juli 2016, § 36 Rn. 4.5.1). Der in § 2 Abs. 3 Nr. 4 BbgKomNotG verwendete Begriff der unmittelbaren Sitzungsöffentlichkeit wird zwar von § 36 BbgKVerf nicht gebraucht. Nach allgemeinem Verständnis aber bedeutet „unmittelbare Sitzungsöffentlichkeit“ die Zugangsmöglichkeit zum Sitzungsraum im Rahmen der räumlichen Kapazitäten durch jedermann, der zuhören und zuschauen will, vom Beginn der Sitzung bis zu ihrem Ende, d. h. während des gesamten Prozesses der Entscheidungsfindung von der Beratung bis zur Beschlussfassung (Krebs, Der kommunale Öffentlichkeitsgrundsatz, 2016, S. 27; vgl. Klein/Schwarz, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Stand: September 2022, Art. 42 Rn. 35 ff.; vgl. Groh, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 42 Rn. 7).

Die zu den anerkannten Grundsätzen des Kommunalrechts zählende Öffentlichkeit der Sitzungen der Gemeindevertretung beruht auf dem Demokratieprinzip, an das die Gemeinden gebunden sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. September 2021 ‌‑ 8 C 31/20 ‑‌, Rn. 17 m. w. N., juris; vgl. ThürOVG, Beschluss vom 14. Juni 2021 ‌‑ 3 ZKO 434/17 ‑‌, Rn. 9, juris). Der Grundsatz der Öffentlichkeit der Gemeindevertretungssitzungen gehört zu den wesentlichen Verfahrensbestimmungen des Kommunalrechts. Er hat die Funktion, dem Gemeindebürger Einblick in die Tätigkeit der Vertretungskörperschaften und ihrer einzelnen Mitglieder zu ermöglichen und dadurch eine auf eigener Kenntnis und Beurteilung beruhende Grundlage für eine sachgerechte Kritik sowie die Willensbildung zu schaffen. Die Gemeindevertretung wird einer allgemeinen Kontrolle durch die Öffentlichkeit unterzogen (vgl. VGH Mannheim, Beschluss vom 13. September 2018 ‌‑ 3 S 1465/18 ‑‌, Rn. 30 m. w. N., juris).

In § 2 Abs. 3 Nr. 4 BbgKomNotG überließ der Gesetzgeber dem Verordnungsgeber die Bestimmung über die Geltung eines wesentlichen Verfassungswerts - die Möglichkeit jedes Bürgers, an der Arbeit seiner Vertretungsorgane beobachtend teilzunehmen, und zwar durch unmittelbare körperliche Anwesenheit. Die in § 2 Abs. 3 Nr. 2 BbgKomNotG und § 2 Abs. 4 Nr. 4 Satz 2 BbgKomNotG (Livestream) enthaltenen Vorgaben für eine alternative Herstellung von Öffentlichkeit sowie der in § 2 Abs. 4 Nr. 4 Satz 1 BbgKomNotG formulierte Appell zur Berücksichtigung des Öffentlichkeitsgrundsatzes ändern nichts daran, dass die Entscheidungsmacht, ob und unter welchen Voraussetzungen Öffentlichkeit gemäß § 36 Abs. 2 Satz 1 BbgKVerf noch hergestellt werden sollte, auf den Verordnungsgeber übertragen wurde. Ob die Livestream-Übertragung einer Gemeinderatssitzung grundsätzlich geeignet wäre, dem Öffentlichkeitsgrundsatz zu genügen, kann dahinstehen. Jedenfalls berührte die Neueinführung einer Technologie zur Herstellung von Öffentlichkeit einen im Lichte des Demokratieprinzips wesentlichen Teil des Kommunalverfassungsrechts.

e. § 2 Abs. 3 Nr. 5 BbgKomNotG ermächtigte den Verordnungsgeber zur Suspendierung der Pflicht zur Durchführung von kommunalen Wahlen und nach gesetzlicher Vorschrift festzusetzenden oder festgesetzten Bürgerentscheiden.

Wahlen und Bürgerentscheide sind Hauptinstrumente der politischen Teilhabe der Bürger. Sie sind Ausdruck dessen, dass alle Staatsgewalt sich auf den Willen des Volkes zurückführen lassen muss. Während Kommunalwahlen die delegierte Ausübung von Staatsgewalt unmittelbar legitimieren, ermöglicht der Bürgerentscheid die Abstimmung über konkrete Sachfragen.

§ 2 Abs. 3 Nr. 5 Alt. 1 BbgKomNotG erfasste sämtliche kommunalen Wahltermine, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des BbgKomNotG bestimmt waren, gleich, ob es sich um Wahlen der Gemeindevertretungen, der Stadtverordnetenversammlungen, der Kreistage, der Bürgermeister und Oberbürgermeister, der Landräte oder der Ortsvorsteher und Ortsbeiräte handelte. Vorschriften zur Absage von Wahlen finden sich auch im Brandenburgischen Kommunalwahlgesetz (BbgKWahlG). Nach § 52 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 BbgKWahlG darf eine Wahl unter anderem dann abgesagt werden, wenn sie infolge höherer Gewalt nicht durchgeführt werden kann. Durch § 2 Abs. 3 Nr. 5 BbgKomNotG sollte nun der Verordnungsgeber eine umfassende Kompetenz zur Entscheidung über die Durchführung von Wahlen und Bürgerentscheiden während der gesamten festgestellten Notlage erhalten.

Die Durchführung von Wahlen zu festgelegten Wahlterminen ist ein im Demokratieprinzip wurzelndes und mit Verfassungsrang ausgestattetes Rechtsgut (vgl. VerfGH NRW, Beschluss vom 30. Juni 2020 ‌‑ VerfGH 63/20.VB‑2 ‑‌, Rn. 75, juris). Der aus dem Demokratieprinzip folgende Grundsatz der Periodizität gebietet, dass Wahlen in der repräsentativen Demokratie in im Voraus bestimmten Abständen periodisch wiederkehrend stattfinden, um dem Volk, von dem alle Staatsgewalt ausgeht, die Möglichkeit zu geben, seinen Willen kundzutun (vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. Juli 1964 ‌‑ 2 BvR 230/64 ‑‌, BVerfGE 18, 151, Rn. 7, und Urteil vom 19. Juli 1966 ‌‑ 2 BvF 1/65 ‑,‌ BVerfGE 20, 56-119, Rn. 148, juris). Demokratie ist stets „Herrschaft auf Zeit“ (vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 19. September 2007 ‌‑ 2 BvF 3/02 ‑‌, BVerfGE 119, 247, Rn. 47, juris). Die einfach-gesetzlichen Bestimmungen in der Kommunalverfassung formen diesen Grundsatz aus, indem sie den Grundsatz und die Eckpunkte für Beginn und Ende der Wahlperiode formulieren und Abweichungen nur unter engen Voraussetzungen zulassen.

Auch Bürgerentscheide genießen Verfassungsrang. § 2 Abs. 3 Nr. 5 2. Alt. BbgKomNotG betraf nicht nur bereits festgesetzte, sondern auch nach gesetzlicher Vorschrift festzusetzende Bürgerentscheide. Damit berührte die Vorschrift für die gesamte Dauer der Geltung des Gesetzes das in Art. 22 Abs. 2 Satz 1 LV verbürgte Recht, sich an Bürgerentscheiden zu beteiligen. Aufgrund von § 2 Abs. 3 Nr. 5 2. Alt. BbgKomNotG konnte der Verordnungsgeber während der festgestellten Notlage den Bürgern die Ausübung ihres direkt-demokratischen Rechts versagen, über Fragen des gemeindeeigenen Wirkungskreises selbst zu entscheiden. Dazu gehört auch die Möglichkeit, die Abwahl des Bürgermeisters zu initiieren (vgl. § 81 BbgKWahlG).

Angesichts der konstitutiven Bedeutung von Wahlen und Bürgerentscheiden auf der kommunalen Ebene berührte die Ermächtigung des Verordnungsgebers, frei über die Durchführung von politischer Mitbestimmung unter Corona-Bedingungen zu entscheiden, einen wesentlichen Kern des Kommunalverfassungsrechts.

f. § 2 Abs. 3 Nr. 6 BbgKomNotG ermöglichte durch Rechtsverordnung Abweichungen „von dem Verbot, noch nach der konstituierenden Sitzung weitere Stellvertreter unter Berücksichtigung des Spiegelbildlichkeitsgrundsatzes für die Mitglieder des Hauptausschusses zu bestellen“.

§ 2 Abs. 3 Nr. 6 BbgKomNotG diente - wie das gesamte BbgKomNotG - dem Ziel, die Funktionsfähigkeit der kommunalen Vertretungskörperschaften sicherzustellen. Der nach § 2 Abs. 3 Nr. 1 BbgKomNotG als primäres Handlungs- bzw. Reserveorgan zur Gemeindevertretung vorgesehene Hauptausschuss sollte handlungsfähig erhalten werden. Die Gemeinden sollten - über die nach dem Gesetz bereits in der konstituierenden Sitzung der Gemeindevertretung zu wählenden Mitglieder des Hauptausschusses und ihre gleichfalls gewählten Stellvertreter hinaus - nachträglich weitere Stellvertreter bestellen können, um die personelle Besetzung des Hauptausschusses bei pandemiebedingten personellen Ausfällen durch eine größere Anzahl von Stellvertretern funktionsfähig zu halten. Für das Bestellungsverfahren enthielt § 2 Abs. 3 Nr. 6 BbgKomNotG keine weiteren Vorgaben, so dass eine schlichte Benennung weiterer Vertreter durch die Fraktionen der Gemeindevertretung möglich war.

Auch § 2 Abs. 3 Nr. 6 BbgKomNotG ist dem Kreis der „wesentlichen“ Regelungsmaterien zuzuordnen, da die Vorschrift es ermöglicht, (stellvertretende) Mitglieder des Hauptausschusses ohne die durch § 49 Abs. 2 Satz 2 BbgKVerf i. V. m. § 41 BbgKVerf vorgesehene Legitimation zu bestellen.

g. § 2 Abs. 3 Nr. 7 und Nr. 8 BbgKomNotG ermöglichten Abweichungen von besonderen haushaltsrechtlichen Vorschriften, deren Einhaltung aus Sicht des Gesetzgebers während der Dauer der pandemiebedingten Notlage die Handlungsfähigkeit der Gemeinden und damit deren Selbstverwaltung gefährden konnte.

In § 2 Abs. 3 Nr. 7 BbgKomNotG ging es um eine erleichterte Anpassung der Erheblichkeits- und Wesentlichkeitsgrenzen, die normalerweise gemäß § 65 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5, § 68 Abs. 2 Satz 2 und § 70 Abs. 1 Satz 4 BbgKVerf nur mithilfe einer Nachtragssatzung geändert werden können. Das der ausführlichen Gesetzesbegründung zu entnehmende Ziel des Gesetzgebers bestand darin, den Gemeinden die einfache Änderung der durch Haushaltssatzung oder Haushaltsplan festgesetzten Wesentlichkeits- und Erheblichkeitsgrenzen zu ermöglichen - und zwar ohne das gemäß § 68 Abs. 2 BbgKVerf erforderliche, aufwändige und zeitintensive Verfahren einer Nachtragssatzung (vgl. LT-Drs. 7/991 (Neudruck), B., zu § 2, zu Absatz 3 und 4).

In Nr. 8 derselben Vorschrift ging es um überplanmäßige und außerplanmäßige Aufwendungen und Auszahlungen, die normalerweise nur zulässig sind, wenn die Deckung gewährleistet ist. Von dieser in § 70 Abs. 1 Satz 1 BbgKVerf enthaltenen Regel sollte der Verordnungsgeber die Gemeinden befreien können. Die Abweichungskompetenz diente dazu, die Gemeinde unmittelbar handlungsfähig zu halten. Unabweisbare Aufwendungen und Auszahlungen sollten durch entsprechende Verordnung auch dann erlaubt werden dürfen, wenn dadurch ein Fehlbetrag entstand oder sich ein bereits bestehender Fehlbetrag erhöhte, welcher zu Lasten des Zahlungsmittelbestandes ging. Die Gemeinden und Gemeindeverbände sollten damit in die Lage versetzt werden, alle erforderlichen Maßnahmen einzuleiten und umzusetzen (LT-Drs. 7/991 (Neudruck), B., zu § 2, zu Absatz 3 und 4).

Das Haushaltsrecht gehört traditionell zum Wesenskern der kommunalen Selbstverwaltung. Auch im kommunalen Bereich wird das Haushaltsrecht als „Königsrecht“ der Volksvertretung bezeichnet. Die genannten Vorschriften stellen zwar keinen Eingriff in die Haushaltshoheit der Gemeinde dar, sie ermächtigen aber den Verordnungsgeber dazu, fundamentale Haushaltsgrundsätze (vorübergehend) außer Kraft zu setzen, ohne dass das Parlamentsgesetz vorsieht, unter welchen Bedingungen und gegebenenfalls mit welchen flankierenden Maßnahmen eine solche Suspendierung vorgenommen werden kann. Auch hier ist ein wesentlicher Bereich der kommunalen Verfassungswirklichkeit betroffen.

4. Der Gesetzgeber hat mit den Verordnungsermächtigungen in § 2 Abs. 3 BbgKomNotG das Leitbild der Kommune unter Pandemiebedingungen zur Disposition des Verordnungsgebers gestellt.

Zeigt die Einzelbetrachtung bereits eine substanzielle Bedeutung der dem Verordnungsgeber übertragenen Abweichungsmöglichkeiten von wesentlichen Prinzipien des Kommunalverfassungsrechts, ergibt sich erst recht aus der Gesamtschau, dass die im BbgKomNotG an die Exekutive übertragenen Kompetenzen zu einer gravierenden Abänderung des vom Demokratieprinzip vorgegebenen Leitbilds der Gemeinde ermächtigen. Dies folgt vor allem aus der Tatsache, dass der Verordnungsgeber von den einzelnen Ermächtigungen des § 2 Abs. 3 BbgKomNotG nach Belieben auch kumulativ Gebrauch machen konnte, mithin nicht gehalten war, einer bestimmten Hierarchisierung von Handlungsoptionen oder einer Bindung an die Wahl des geringstmöglichen Eingriffs in das Leitbild der kommunalen Selbstverwaltung zu folgen. Insgesamt betrachtet, entwirft § 2 Abs. 3 BbgKomNotG das Bild einer Kommune, in der nicht die Gemeindevertretung, sondern der Hauptausschuss über sämtliche wesentlichen Fragen entscheidet, nachdem seine Mitglieder durch schlichte Benennung seitens der Fraktionen bestimmt wurden. Beratungen können unter Verzicht auf Präsenzsitzungen im Wege der Telefonkonferenz durchgeführt werden, wobei die Gemeindeöffentlichkeit stark eingeschränkt ist, während Beschlüsse sogar unter gänzlichem Ausschluss der Öffentlichkeit im Umlaufverfahren gefasst werden dürfen. Auch haushaltsrechtlich schwerwiegende Entscheidungen können im Umlaufverfahren unter Umgehung der Notwendigkeit einer Nachtragshaushaltssatzung getroffen werden, nämlich durch eine schlichte Anhebung der Erheblichkeits- und Wertgrenzen, ohne eine gemeinsam im öffentlichen Raum zustande kommende, für die Gemeindebürger nachvollziehbare und transparente Willensbildung. Den Gemeindebürgern bleibt derweil keine Möglichkeit, gegen unliebsame Entscheidungen vorzugehen, da während der Geltungsdauer des Gesetzes ein Bürgerentscheid für undurchführbar erklärt werden kann. Vom in Kommunalverfassung und Landesverfassung verankerten Bild der Gemeinde als „Keimzelle der Demokratie“, die von Legitimation, Partizipation und Mitbestimmung geprägt ist, bleibt bei einer Zusammenschau und ‑ gedachter - kumulativer Anwendung der Verordnungsermächtigungen nicht mehr viel übrig.

Durch die freie Regelungstechnik des § 2 Abs. 3 BbgKomNotG wurde es dem Verordnungsgeber ermöglicht, letztlich nach freier Auswahl über die Geltung und Nichtgeltung von - demokratisch bedeutsamen - kommunalrechtlichen Normen zu entscheiden und damit erst das Bild demokratischer Kommunalverwaltung in der Pandemie festzulegen. Damit erhielt der Verordnungsgeber das Bestimmungsrecht, das tradierte Bild demokratischer kommunaler Selbstverwaltung aufgrund und während der Pandemie substanziell zu modifizieren. Ihm wurde - mangels tatbestandlicher Vorordnung durch den Gesetzgeber - innerhalb des Geltungsbereichs des BbgKomNotG ermöglicht, festzulegen, welche Bestimmungen der Kommunalverfassung in der Pandemie überhaupt noch in Geltung bleiben sollten, wofür der Gesetzgeber mit Ausnahme der von ihm selbst festgestellten pandemischen Lage keine substantiellen Vorgaben gemacht hatte. Es stand allein im Ermessen des Verordnungsgebers, welche Abweichungsmöglichkeiten in welcher Kombination und in welchem Umfang er für welchen Zeitraum in Geltung setzte oder davon absah. Auch eine Bindung an das unter Pandemiebedingungen jeweils unbedingt Notwendige („so viel wie nötig, so wenig wie möglich“) zum Erhalt der kommunalen Handlungsfähigkeit wurde dem Verordnungsgeber nicht aufgetragen. So war es zulässig, von keiner, nur von einer, mehreren oder auch von allen der in § 2 Abs. 3 Nr. 1 bis Nr. 8 BbgKomNotG vorgesehenen Abweichungsmöglichkeiten für den gesamten Geltungszeitraum des Gesetzes oder auch nur Teilzeiträume (vgl. etwa § 10 BbgKomNotV) Gebrauch zu machen.

Zwar war die Einräumung des Bestimmungsrechts an die gesetzliche Notlagefeststellung geknüpft (§ 2 Abs. 1 BbgKomNotG i. V. m. § 1 BbgKomNotG). Ob und von welchen der einzelnen in § 2 Abs. 3 Nr. 1 bis Nr. 8 BbgKomNotG aufgeführten Abweichungsmöglichkeiten der Verordnungsgeber Gebrauch machte, hatte der Gesetzgeber aber unter keine weiteren Voraussetzungen gestellt. Dies bewirkte eine mit Grenzen und Ausmaß einer Verordnungsermächtigung nicht mehr zu vereinbarende Gewichtsverschiebung legislativer Gewalt auf den Verordnungsgeber, der mit Ausnahme der Notlagenfeststellung frei über die während der Pandemie für die kommunale Selbstverwaltung geltenden Vorgaben entscheiden konnte.

Dass § 2 Abs. 1, Abs. 3 BbgKomNotG dem Verordnungsgeber ein solches Entschließungsermessen einräumte, folgt aus der Auslegung des Wortlauts von § 2 Abs. 3 BbgKomNotG, der lautete:

„Von folgenden Regelungen in der Kommunalverfassung des Landes Brandenburg werden Abweichungen aufgrund der Notlage nach Absatz 1 ermöglicht: (…).“

Das Verb „ermöglichen“ in der Passivform („<es> werden Abweichungen (…) ermöglicht“) unterstrich, dass der Verordnungsgeber nicht zur Umsetzung bestimmter, einzelner oder sämtlicher in § 2 Abs. 3 BbgKomNotG aufgezählter Regelungsgegenstände angewiesen war. Das Verb „ermöglichen“ richtete sich primär an den Verordnungsgeber. Zwar wurde dieser nicht ausdrücklich in § 2 Abs. 3 BbgKomNotG erwähnt, war aber als einziger Berechtigter der Verordnungsermächtigung eindeutig erkennbarer Adressat des BbgKomNotG. Dass die Regelungen in § 2 Abs. 4 Nr. 1 bis Nr. 5 BbgKomNotG zugleich auch mittelbar und unmittelbar die Gemeinde als Adressatin der auf Grundlage des BbgKomNotG zu erlassenden Verordnung ansprachen, ändert daran nichts. Die Einbettung von § 2 Abs. 3 BbgKomNotG in die Verordnungskompetenzbegründung (§ 2 Abs. 1 BbgKomNotG), Befristung (§ 2 Abs. 2 BbgKomNotG) und die Grenzen (§ 2 Abs. 4 und Abs. 5 BbgKomNotG) unter der Überschrift „Verordnungsermächtigung“ zeigt auf, dass primär der Verordnungsgeber angesprochen war. Er sollte auf der ersten Stufe eine Verordnung erlassen, die die Gemeinde auf der zweiten Stufe wiederum in die Lage versetzte („ermöglichen“), von den - erst vom Verordnungsgeber erlassenen - Abweichungsmöglichkeiten Gebrauch zu machen.

Die Regelungsgegenstände des § 2 Abs. 3 BbgKomNotG standen mithin zur Disposition des Verordnungsgebers. Eine wirksame Begrenzung der eingeräumten Dispositionsbefugnis ergab sich auch nicht daraus, dass die Gemeinde nach der Konzeption des BbgKomNotG auf einer zweiten Stufe selbst darüber entscheiden sollte, welche der ihr vom Verordnungsgeber eröffneten Abweichungen sie ihrerseits nutzte (§ 2 Abs. 5 BbgKomNotG). Jenseits der Tatsache, dass die Kommunalverwaltung ihrerseits nicht frei über die Anwendung geltenden Rechts disponieren kann, sondern ungeachtet ihrer Organisationshoheit an (Verfassungs-)Recht gebunden ist, grenzte diese Anforderung nicht die materielle Reichweite der dem Verordnungsgeber eingeräumten Entscheidungsbefugnis ein. Die Delegationsbefugnis blieb gegenständlich weit gefasst. Sie erstreckte sich auf unterschiedliche Sachbereiche der Kommunalverfassung, von Fragen der Binnenorganisation, über die Durchführung von Wahlen und Abstimmungen, bis hin zu haushaltswirtschaftlichen Aspekten. Materiell war sie an die Notlagefeststellung (§ 1 BbgKomNotG) als einzige Voraussetzung geknüpft.

Die Ansicht der Landesregierung, der Innenminister habe nur dann von der Ermächtigung Gebrauch machen dürfen, soweit die betreffenden Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Handlungsfähigkeit der kommunalen Organe „geboten“ gewesen seien - der Inhalt der Maßnahmen sei durch diese Zweckbestimmung vorgeprägt -, greift zu kurz. Die dem Gesetzgeber obliegende Abwägungsentscheidung darf nicht vollständig auf den Verordnungsgeber übertragen werden, vielmehr obliegt der Ausgleich von wesentlichen widerstreitenden Verfassungsprinzipien dem formellen Gesetzgeber. In der angegriffenen Norm sind jedoch keine vorordnenden, flankierenden oder begrenzenden Prinzipien für die Ausübung der vielfältigen Verordnungsermächtigungen enthalten.

Damit führte die Regelungstechnik des BbgKomNotG zu einer Verlagerung von Gesetzgebungsbefugnissen auf den Verordnungsgeber, die mit den vom Demokratieprinzip im Hinblick auf die Gewaltenteilung gesetzten Grenzen nicht mehr vereinbar ist. Der Gesetzgeber hat Vorschriften der Kommunalverfassung von wesentlicher Bedeutung und in erheblichem Umfang für subsidiär erklärt und dadurch eine unzulässige Gewichtsverschiebung zwischen gesetzgebender Gewalt und Verwaltung bewirkt.

5. Dass Rechtsverordnungen nach § 2 Abs. 1 BbgKomNotG nur im Einvernehmen mit dem Ausschuss für Inneres und Kommunales des Landtags ergehen durften, ändert daran nichts. Die grundsätzliche Befugnis zum Normerlass verblieb beim Innenminister, auch wenn dieser an eine vorherige Zustimmung eines Parlamentsausschusses gebunden wurde.

6. § 2 BbgKomNotG genügte zudem nicht den Bestimmtheitsanforderungen des Art. 80 Satz 2 LV, der die Anforderungen der Wesentlichkeitslehre näher konkretisiert (vgl. entsprechend zu Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG: BVerfG, Urteil vom 19. September 2018 ‌‑ 2 BvF 1/15 ‑‌, BVerfGE 150, 1‑163, Rn. 190, 198, www.bverfg.de).

Gemäß Art. 80 Satz 2 LV muss das Gesetz, das zum Erlass einer Rechtsverordnung ermächtigt, Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung bestimmen. Die drei Begriffe lassen sich nicht strikt voneinander abgrenzen; ihre Gehalte überschneiden sich und sind insgesamt durch eine gewisse Wertungsoffenheit geprägt. Sie sind daher nicht als isoliert nachprüfbare Anforderungen zu verstehen, sondern in ihrer Gesamtheit als Gebot hinreichender Bestimmtheit (vgl. BVerfG, Urteil vom 19. September 2018 ‌‑ 2 BvF 1/15 ‑‌, BVerfGE 150, 1-163, Rn. 201, www.bverfg.de). Art. 80 Satz 2 LV soll unter anderem gewährleisten, dass der parlamentarische Gesetzgeber durch die Ermächtigung selbst entscheidet, welche Fragen durch Rechtsverordnung geregelt werden können oder sollen. Dazu muss er die Grenzen einer solchen Regelung festlegen und angeben, welchem Ziel sie dienen soll. Der Gesetzgeber muss der ermächtigten Stelle darüber hinaus ein „Programm“ an die Hand geben, das mit der Ermächtigung verwirklicht werden soll. Schließlich soll bereits aufgrund der Ermächtigung vorhersehbar sein, in welchen Fällen und mit welcher Tendenz von ihr Gebrauch gemacht werden wird und welchen Inhalt die aufgrund der Ermächtigung erlassenen Verordnungen haben können, so dass sich die Normunterworfenen mit ihrem Verhalten darauf einstellen können (vgl. BVerfG, Beschluss vom 21. April 2015 ‌‑ 2 BvR 1322/12 ‑‌, BVerfGE 139, 19-64, Rn. 55, und Urteil vom 19. September 2018 ‌‑ 2 BvF 1/15 ‑‌, BVerfGE 150, 1-163, Rn. 202, www.bverfg.de).

Eine Ermächtigung darf daher nicht so unbestimmt sein, dass nicht mehr vorausgesehen werden kann, in welchen Fällen und mit welcher Tendenz von ihr Gebrauch gemacht werden wird und welchen Inhalt die auf Grund der Ermächtigung erlassenen Verordnungen haben können (BVerfG, Beschluss vom 21. April 2015 ‌‑ 2 BvR 1322/12 ‑‌, BVerfGE 139, 19‑64, Rn. 55, juris). Dabei lässt sich der Grad rechtsstaatlich gebotener Bestimmtheit nicht allgemein festlegen (BVerfG, Beschluss vom 4. Mai 1997 ‌‑ 2 BvR 509/96 ‑‌, Rn. 15, juris). Das im konkreten Fall erforderliche Maß an Bestimmtheit, d. h., wie weit der Gesetzgeber die für den jeweils geschützten Lebensbereich wesentlichen Leitlinien selbst bestimmen muss, lässt sich dabei nur mit Blick auf den Sachbereich und die Eigenart des Regelungsgegenstandes beurteilen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. März 2017 ‌‑ 1 BvR 1314/12 ‑‌, BVerfGE 145, 20‑105, Rn. 182, www.bverfg.de).

a. Der allen Regelungsgegenständen des Katalogs des § 2 Abs. 3 Nr. 1 bis Nr. 8 BbgKomNotG zugrunde liegende Zweck war hinreichend bestimmt.

Entgegen der Meinung der Antragsteller wurde die hinreichende Bestimmtheit des Zwecks der Verordnungsermächtigung nicht dadurch in Frage gestellt, dass § 2 Abs. 1 BbgKomNotG mit dem unbestimmten Rechtsbegriff der landesweiten außergewöhnlichen Notlage in § 1 BbgKomNotG verknüpft war.

Aus dem Wortlaut von § 1 BbgKomNotG und der Gesetzesbegründung lässt sich ableiten, dass „die landesweite außergewöhnliche Notlage“ auf das landesweite Infektionsgeschehen des SARS-CoV-2-Virus abstellt und die dadurch verursachten Beeinträchtigungen der Funktionsfähigkeit kommunaler Entscheidungsprozesse der brandenburgischen Kommunen.

Dass die drohende Handlungsunfähigkeit der Kommunen konstitutive Bedeutung für die Feststellung nach § 1 BbgKomNotG hatte, bestätigt auch die gesetzessystematische Auslegung. § 2 Abs. 1 BbgKomNotG definiert klar als Zweck die „Aufrechterhaltung der Handlungsfähigkeit der kommunalen Organe“. Die Feststellung der „landesweiten außergewöhnlichen Notlage“ diente also gerade dazu, Maßnahmen zu ermöglichen, die kommunalen Entscheidungsprozesse unter den Bedingungen der SARS‑CoV-2-Pandemie zu gewährleisten.

b. Verfassungsrechtlich zu beanstanden war jedoch die fehlende hinreichende Bestimmtheit von Inhalt und Ausmaß der erteilten Ermächtigung. Der aus Art. 80 Satz 2 LV, Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG zu entnehmenden Programmfestsetzungspflicht und dem Vorhersehbarkeitsgebot wurde nicht Genüge getan. Indem der Gesetzgeber dem Verordnungsgeber ein Entschließungsermessen eingeräumt hat, von welchen der in § 2 Abs. 3 Nr. 1 bis Nr. 8 BbgKomNotG aufgezählten Abweichungsmöglichkeiten er auf welche Weise Gebrauch machen wollte, blieb der konkrete Inhalt und das Programm der zu erlassenden Verordnung im Unklaren. Aus der Ermächtigung selbst war nicht erkennbar und vorhersehbar, was zulässig sein sollte (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 18. Juli 2005 - 2 BvF 2/01 -, Rn. 276, vom 21. April 2015 ‌‑ 2 BvR 1322/12 ‑‌, Rn. 55, und vom 21. September 2016 ‌‑ 2 BvL 1/15 ‑‌, Rn. 54, www.bverfg.de). Es blieb im Ungewissen, welche Bestimmungen der Kommunalverfassung unangetastet fortgelten und bezüglich welcher Sachbereiche Abweichungen gelten würden. Dies gilt umso mehr, als der Katalog der Abweichungsmöglichkeiten in § 2 Abs. 3 BbgKomNotG sehr unterschiedliche Regelungsgegenstände betrifft - von der Sitzungsdurchführung unter Pandemiebedingungen über die Suspendierung von Wahlen bis zu Haushaltsgrundsätzen. Ein gesetzgeberisches Programm für die Handlungsfähigkeit der Kommunen unter Pandemiebedingungen, das dem Verordnungsgeber aufgegeben werden sollte, war nicht erkennbar.

Auch die Normadressaten auf zweiter Stufe (die Gemeinden und Gemeindeverbände) sowie die Gemeindebürger konnten entsprechend nicht mit der notwendigen Klarheit anhand des Gesetzes vorhersehen, auf welche Weise das Leitbild der Kommune unter Pandemiebedingungen gestaltet sein sollte und zu welchen Abweichungen es unter welchen Voraussetzungen in der kommunalen Verfassungswirklichkeit kommen würde.

D.

§ 2 BbgKomNotG war angesichts seines Außerkrafttretens und zugunsten der Bestandskraft von Folgerechtsakten nicht für nichtig, sondern gemäß § 41 Satz 1 VerfGGBbg für unvereinbar mit der Landesverfassung zu erklären. Die Fortgeltung von Rechtsakten, die direkt oder indirekt auf dem BbgKomNotG und der BbgKomNotV beruhen, liegt im Interesse der Rechtssicherheit. Es soll kein Zustand geschaffen werden, der von der verfassungsmäßigen Ordnung noch weiter entfernt wäre als der in bisheriger Geltung (vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. März 2012 ‌‑ 2 BvR 2258/09 ‑‌, BVerfGE 130, 372‑403, Rn. 85, und Urteil vom 31. Mai 2006 ‌‑ 2 BvR 1673/04 ‑‌, BVerfGE 116, 69-95, Rn. 67, juris).

E.

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 32 Abs. 7 Satz 2 VerfGGBbg.

Gemäß § 32 Abs. 7 Satz 2 VerfGGBbg liegt die Auslagenerstattung in anderen Verfahren als der Verfassungsbeschwerde im Ermessen des Verfassungsgerichts. Für eine Auslagenerstattung im abstrakten Normenkontrollverfahren sind im Sinne des § 32 Abs. 7 Satz 2 VerfGGBbg angesichts der Kostenfreiheit des Verfahrens (§ 32 Abs. 1 Satz 1 VerfGGBbg) und des fehlenden Anwaltszwangs nur ausnahmsweise in Betracht kommende und vom Obsiegen oder Unterliegen unabhängige besondere Billigkeitsgründe erforderlich (st. Rspr., vgl. Beschlüsse vom 23. Oktober 2020 ‌- VfGBbg 9/19 -, Rn. 191, m. w. N., und vom 16. November 2000 ‌‑ VfGBbg 31/00 -, m. w. N., https://verfassungsgericht.brandenburg.de). Solche liegen hier nicht vor.

F.

Das Verfassungsgericht hat einstimmig eine mündliche Verhandlung für nicht erforderlich gehalten, § 22 Abs. 1 VerfGGBbg.

G.

Der Beschluss ist einstimmig ergangen. Er ist unanfechtbar.

 

 

Möller

Dresen

Dr. Finck

Heinrich-Reichow

Kirbach

Müller

Richter

Sokoll

Dr. Strauß