VerfGBbg, Beschluss vom 24. Juni 2004 - VfGBbg 45/03 -
Verfahrensart: |
Kommunalverfassungsbeschwerde Hauptsache |
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entscheidungserhebliche Vorschriften: | - LV, Art. 97; LV, Art. 98 Abs. 2 Satz 3 - VerfGGBbg, § 41 Satz 1 |
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Schlagworte: | - kommunale Selbstverwaltung - Gemeindegebietsrefom - Anhörung |
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Fundstellen: | - GVBl 2004 I, 274 (nur Entscheidungsformel) | |
Zitiervorschlag: | VerfGBbg, Beschluss vom 24. Juni 2004 - VfGBbg 45/03 -, https://verfassungsgericht.brandenburg.de |
DES LANDES BRANDENBURG
VfGBbg 45/03

IM NAMEN DES VOLKES |
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In dem kommunalen
Verfassungsbeschwerdeverfahren
Gemeinde Werbig, Beschwerdeführerin, Verfahrensbevollmächtigte: Rechtsanwältin M.,
hat das Verfassungsgericht des Landes
Brandenburg am 24. Juni 2004 b e s c h l o s s e n: 1. Die Eingliederung der Gemeinde Werbig in die Stadt Seelow nach § 12 des Fünften Gemeindegebietsreformgesetzes Brandenburg vom 24. März 2003 (GVBl I S. 82) verletzt die Gemeinde Werbig in ihrem Recht auf kommunale Selbstverwaltung. Die Regelung ist mit der Landesverfassung unvereinbar. 2. Der Landesgesetzgeber hat bei Vermeidung der Nichtigkeit der Regelung spätestens mit Wirkung ab 1. Januar 2006 eine Neuregelung zu treffen. 3. Das Land Brandenburg hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen nach einem Gegenstandswert von 25.000 € zu erstatten. G r ü n d e : A. Die Beschwerdeführerin, eine bisher dem Amt Seelow-Land angehörende Gemeinde, wehrt sich gegen ihre Auflösung durch Eingliederung in die Stadt Seelow. I. 1. Die Beschwerdeführerin liegt ungefähr 3 km nördlich der Stadt Seelow im Landkreis Märkisch-Oderland an der Grenze zwischen Oderbruch und Seelower Höhen. Sie grenzt an die Stadt Seelow sowie an Gemeinden der Ämter Neuhardenberg und Golzow sowie Gemeinden des bisherigen Amtes Letschin. Die durch Seelow führenden Bundesstraßen 1 und 167 berühren die Ortslage nicht. Die anderen Gemeinden des Amtes Seelow-Land, zu deren Gebiet keine unmittelbare Verbindung besteht, erstrecken sich westlich und südlich um Seelow. Im Amt leben ca. 6.000 Einwohner, davon auf dem Gebiet der Beschwerdeführerin (einschließlich der Ortschaften Neulangsow, Alt Langsow sowie kleinerer Streusiedlungen) ungefähr knapp 700. Seelow hat ca. 5.400 Einwohner. 2. Anfang Mai 2002 versandte das Ministerium des Inneren an die Beschwerdeführerin Unterlagen zu der beabsichtigten Eingliederung der Gemeinden Alt Mahlisch, Carzig, Diedersdorf, Dolgelin, Falkenhagen, Friedersdorf, Libbenichen, Lietzen, Marxdorf, Neu Mahlisch, Niederjesar, Sachsendorf, Werbig und Worin des Amtes Seelow-Land in die Stadt Seelow für die Anhörung der Bevölkerung an den Landrat, die in der Folge, u.a. im Amtsgebäude, für die Dauer eines Monats ausgelegt wurden. 3. Im September desselben Jahres brachte die Landesregierung sechs Gesetzentwürfe zur landesweiten Gemeindegebietsreform in den Landtag ein. Das Amt Seelow-Land wurde nicht aufgelöst, auf die Eingliederung der Gemeinden des Amtes Seelow-Land in die Stadt Seelow, mit Ausnahme der Beschwerdeführerin, wurde verzichtet; § 12 des Entwurfes zum Fünften Gesetz zur landesweiten Gemeindegebietsreform betreffend die Landkreise Barnim, Märkisch-Oderland, Oberhavel, Ostprignitz-Ruppin, Prignitz, Uckermark (5. GemGebRefGBbg) sah allein die Eingliederung der Beschwerdeführerin in die Stadt Seelow vor. Das Gesetz wurde im Frühjahr 2003 vom Landtag verabschiedet. § 12 des 5. GemGebRefGBbg vom 24. März 2003 (GVBl I S. 82), am Tag der landesweiten Kommunalwahlen (26. Oktober 2003) in Kraft getreten (s. § 48 Satz 1 des 5. GemGebRefGBbg), lautet: § 12 Die Gemeinde Werbig wird in die Stadt Seelow eingegliedert. II. Die Beschwerdeführerin hat am 15. Mai 2003 kommunale Verfassungsbeschwerde erhoben. Sie macht u.a. geltend, ihre Eingliederung in die Stadt Seelow sei schon deshalb verfassungswidrig, weil die Bevölkerung des unmittelbar betroffenen Gebietes nicht ordnungsgemäß angehört worden sei. Die Beschwerdeführerin beantragt festzustellen:
III. Der Landtag Brandenburg, die Landesregierung, der Städte- und Gemeindebund Brandenburg und die Stadt Seelow hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Landesregierung hat mitgeteilt, daß die Bevölkerungsanhörung auf dem Gebiet der Beschwerdeführerin in derselben Weise stattgefunden haben dürfte, die das Landesverfassungsgericht in seinen Entscheidungen vom 18. Dezember 2003 - VfGBbg 95/03 und VfGBbg 96/03 - beanstandet hatte. Ein neues Gesetzgebungsverfahren sei bereits eingeleitet. B. I. Die kommunale Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin ist gemäß Art. 100 Verfassung des Landes Brandenburg (LV), §§ 12 Nr. 5, 51 Verfassungsgerichtsgesetz des Landes Brandenburg (VerfGGBbg) statthaft und auch sonst zulässig. Die Mitteilung der Landesregierung, sie strebe die Einbringung eines Gesetzentwurfes in den Landtag ein, der die verfahrensgegenständliche Neugliederungsentscheidung ersetzen solle, läßt das Rechtschutzbedürfnis jedenfalls solange nicht entfallen, bis eine derartige Neugliederung im Gesetzblatt verkündet ist. Dies ist bisher nicht erfolgt. II. Die kommunale Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin hat Erfolg. Ihre Eingliederung in die Stadt Seelow nach § 12 des 5. GemGebRefGBbg ist unter Verletzung der Landesverfassung zustande gekommen. 1. Art. 98 Abs. 2 Satz 3 Verfassung des Landes Brandenburg (LV), der zu den Verfassungsbestimmungen mit Bezug auf die kommunale Selbstverwaltung gehört (vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Beschluß vom 16. Oktober 2003 - VfGBbg 67/03 -, LKV 2004, 123) schreibt vor, daß vor einer Änderung des Gemeindegebiets die Bevölkerung der unmittelbar betroffenen Gebiete gehört werden muß. Die Vorschrift erfaßt auch die Auflösung einer Gemeinde unter (gänzlichem) Wegfall eines eigenen Gemeindegebietes. 2. Die hier erfolgte Anhörung der Bevölkerung entsprach, soweit es um die Eingliederung der Beschwerdeführerin in die Stadt Seelow geht, nicht den Anforderungen, die an eine Anhörung nach Art. 98 Abs. 2 Satz 3 LV zu stellen sind. Eine solche Anhörung setzt mindestens voraus, daß die Bürger des unmittelbar betroffenen Gebietes förmlich Gelegenheit erhalten, sich zu einer konkret vorgesehenen Gebietsänderung oder auch zu mehreren alternativ ins Auge gefaßten Gebietsänderungen zu äußern. Vorliegend ist jedoch zum Thema der Eingliederung der Beschwerdeführerin nach Seelow, und zwar in der Form, in der sie später gesetzlich vorgenommen worden ist, keine Anhörung der Bevölkerung erfolgt. a) Nach der Bekanntmachung der Bevölkerungsanhörung sollte ausdrücklich die zunächst vorgesehene gesetzliche Regelung Gegenstand der Anhörung sein. In der Bekanntmachung zu der Bevölkerungsanhörung in der Pfingstausgabe 2002 der Märkischen Oderzeitung werden Auslegungsort, -zeit und -zeitraum der Anhörung genannt. Das Thema der Anhörung wird durch Wiedergabe des vollen Wortlauts der beabsichtigten gesetzlichen Regelung umschrieben:
Dadurch ist eine ganz bestimmte Neugliederung vorgestellt worden und konnte die Bevölkerung angesichts der eindeutigen Formulierung und ohne einen entsprechenden Hinweis in der Bekanntmachung von vornherein nicht damit rechnen, daß bei den ausgelegten Unterlagen ggf. auch mögliche Varianten der Neugliederung vorgestellt werden würden. Vielmehr ging es allein um die Eingliederung aller vierzehn Gemeinden des Amtes Seelow-Land in die Stadt Seelow. b) Die so durchgeführte Anhörung zu der Eingliederung aller Gemeinden des Amtes Seelow-Land (einschl. der Beschwerdeführerin) ist nicht ausreichend, denn eine erneute Anhörung ist geboten, wenn es später zu einer wesentlichen Änderung der Neugliederung kommt (Urteil vom 18. Dezember – VfGBbg 101/03 -; vgl. auch BVerfGE 50, 195, 203; SächsVerfGH LVerfGE 11, 356, 386; NdsStGH NJW 1979, 2301; StGH BW DÖV 1976, 245; VerfGH NW OVGE 26, 306). Das war hier der Fall. Dabei können auch schon wesentliche Veränderungen im Rahmen einer regionalen Gesamtlösung ausreichen (vgl. hierzu etwa StGH BW, DÖV 1976, 245; 1975, 500). Zwar sollte die Beschwerdeführerin von Anfang an in die Stadt Seelow eingemeindet werden. Doch aus der Sicht der Einwohner Werbigs sind die nachträglichen Veränderungen an dem Gesetzentwurf beachtlich. Die Zahl der nach Seelow einzugemeindenden Gemeinden (14) hat sich drastisch auf nur noch eine Gemeinde vermindert. Keine der Gemeinden des Amtes Seelow-Land (ca. 6.000 Einwohner) mit Ausnahme der Beschwerdeführerin wird dem angegriffenen Gesetz zufolge in die Stadt Seelow eingegliedert. Hierdurch hat sich die Zahl der nach der zunächst vorgesehenen Regelung von der Eingliederung nach Seelow betroffenen Einwohner erheblich von ca. 6.000 auf 700 vermindert. Die Einwohnerzahl der Stadt Seelow (vor der Neugliederungsmaßnahme ungefähr 5.400) betrug danach ca. 6.100 statt ca. 11.400. Damit dürfte eine erhebliche Verminderung der Zahl der Stadtverordneten einher gegangen sein, die aus den neuen Ortsteilen kommen. Nach der zunächst vorgesehenen Neugliederung wäre der Einfluß der aus früheren „Seelow-Land-Gemeinden“ stammenden Stadtverordneten ganz beträchtlich gewesen, sie hätten deutlich leichter die Interessen der Ortsteile zur Geltung bringen können. Auch die Ausdehnung der Stadt Seelow, in gewisser Weise auch ihr Entwicklungspotential, unterscheiden sich nach Anhörungsentwurf und Gesetz außerordentlich. Nachdem das Neugliederungsprojekt eine so wesentliche Änderung (Verzicht auf die Eingliederung der anderen Gemeinden des Amtes nach Seelow) erfahren hat, wäre eine erneute Anhörung der Bevölkerung erforderlich gewesen. Davon gehen letztlich auch Landtag und Landesregierung aus, da sie innerhalb eines neuerlichen Gesetzgebungsverfahrens die in Rede stehende Anhörung nochmals durchführen. Schon aus diesem Grund erweist sich § 12 des 5. GemGebRefGBbg als verfassungswidrig. Auf Kausalitätsfragen kommt es insoweit nicht an (so auch: StGH BW, DÖV 1976, 245, 246 f.). III. Das Landesverfassungsgericht hat davon abgesehen, § 12 des 5. GemGebRefGBbg für nichtig zu erklären. Mit der Feststellung der Unvereinbarkeit mit der Landesverfassung wird dem Gesetzgeber Gelegenheit gegeben, eine Neuregelung zu treffen. Das Gericht hat hierfür eine Frist bestimmt. Für die Übergangszeit bleibt § 12 des 5. GemGebRefGBbg in Geltung. Dabei hat das Gericht gesehen, daß der Gesetzgeber - unabhängig davon, wann das Verfassungsgericht über die kommunale Verfassungsbeschwerde gegen die hier verfahrensgegenständliche Norm sowie in vergleichbaren Fällen entschieden hat oder entscheidet (vgl. LT-Drucksache 3/7445, S. 2 der Begründung, Allgemeiner Teil) - eine Neuregelung infolge des Landtagsbeschlusses vom 16. Juni 2004 zu einem „Gesetz zur Bestätigung der landesweiten Gemeindegebietsreform nach weiterer Bevölkerungsanhörung“ bereits sehr bald in Kraft zu setzen beabsichtigt und im Hinblick auf die Kürze der Übergangszeit für diese nähere Vollstreckungsanordnungen nicht für erforderlich erachtet. IV. Die Nebenentscheidungen beruhen auf § 32 Abs. 7 VerfGGBbg und § 113 Abs. 2 Satz 3 der Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung. C. Das Verfassungsgericht hat einstimmig eine
mündliche Verhandlung nicht für erforderlich gehalten, § 22 Abs. 1 Alt. 2
VerfGGBbg. |
Weisberg-Schwarz | Prof. Dr. Harms-Ziegler |
Havemann | Dr. Jegutidse |
Dr. Knippel | Prof. Dr. Schröder |
Prof. Dr. Will | |