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VerfGBbg, Beschluss vom 20. April 2006 - VfGBbg 119/03 -

 

Verfahrensart: Kommunalverfassungsbeschwerde
Hauptsache
entscheidungserhebliche Vorschriften: - LV, Art. 97; LV, Art. 98 Abs. 1
Schlagworte: - Gemeindegebietsreform
- kommunale Selbstverwaltung
- Verhältnismäßigkeit
Zitiervorschlag: VerfGBbg, Beschluss vom 20. April 2006 - VfGBbg 119/03 -, https://verfassungsgericht.brandenburg.de

VERFASSUNGSGERICHT
DES LANDES BRANDENBURG

VfGBbg 119/03



IM NAMEN DES VOLKES

 
B E S C H L U S S
In dem kommunalen Verfassungsbeschwerdeverfahren

Gemeinde Mellen,
vertreten durch das Amt Lenzen-Elbtalaue,
dieses vertreten durch den Amtsdirektor,
Kellerstraße 4,
19307 Lenzen,

Beschwerdeführerin,

Verfahrensbevollmächtigte: Rechtsanwältin M.

wegen: kommunaler Neugliederung;
hier: Eingliederung der Gemeinde Mellen (Amt Lenzen-Elbtalaue) in die weiterhin amtsangehörige Stadt Lenzen (Elbe)

hat das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg
durch die Verfassungsrichter Weisberg-Schwarz, Prof. Dr. Dombert, Prof. Dr. Harms-Ziegler, Havemann, Dr. Jegutidse, Dr. Knippel und Prof. Dr. Will

am 20. April 2006

b e s c h l o s s e n :

Die kommunale Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen.

G r ü n d e :

A.

Die dem Amt Lenzen-Elbtalaue angehörende Beschwerdeführerin wehrt sich gegen ihre Eingliederung in die weiterhin amtsangehörige Stadt Lenzen.

I.

1. Die Beschwerdeführerin, eine Gemeinde im äußeren Entwicklungsraum des Landes Brandenburg, gehörte mit ursprünglich sechs weiteren Gemeinden dem im Landkreis Prignitz gelegenen und nach dem sogenannten Modell 1 gebildeten Amt Lenzen-Elbtalaue an. Dieses grenzt im Süden, Westen und Norden an die Bundesländer Niedersachen bzw. Mecklenburg-Vorpommern. Im Osten wird das Amt durch das Amt Karstädt begrenzt und im Südosten durch die amtsfreien Städte Perleberg und Wittenberge.

Das Amt war 1992 zunächst aus den Gemeinden Besandten, Cumlosen, Eldenburg, Lanz, Lenzen (Elbe), Wootz und der Beschwerdeführerin gebildet worden. Durch die beabsichtigte Eingliederung der Gemeinde Eldenburg in die Stadt Lenzen (Elbe) und den Zusammenschluß der Gemeinden Besandten und Wootz zur neuen Gemeinde Lenzerwische sollte sich die Anzahl der amtsangehörigen Gemeinden zum Tag der nächsten landesweiten Kommunalwahlen auf fünf reduzieren.

Das mit einer Fläche von ca. 220 km² über dem Landesdurchschnitt (161 km²) und einer Bevölkerungsdichte von ca. 23 Einwohnern pro km² unter dem Landesdurchschnitt (49 Einwohner pro km² im äußeren Entwicklungsraum) liegende Amt hatte 5.132 Einwohner (Stichtag 31. Dezember 2001). Von diesen lebten ca. 2.320 in Lenzen (Elbe), ca. 910 in Lanz, ca. 900 in Cumlosen, ca. 440 in Wootz, ca. 260 in Eldenburg, 192 in der Beschwerdeführerin und ca. 110 in Besandten. Die Einwohnerzahl ist seit Jahren rückläufig. Diese Tendenz wird sich - so die amtliche Bevölkerungsentwicklungsprognose bis 2015 - weiter fortsetzen.

2. Ende April/Anfang Mai 2002 versandte das Ministerium des Innern Anhörungsunterlagen für eine Anhörung der Beschwerdeführerin zu der beabsichtigten kommunalen Neugliederung mit der Gelegenheit zur Stellungnahme. In den ersten beiden Maiwochen wurden auch die Anhörungsunterlagen für die Anhörung der Bevölkerung an den Landrat des Landkreises Prignitz versandt.

4. Im September/Oktober desselben Jahres brachte die Landesregierung sechs Gesetzentwürfe zur landesweiten Gemeindegebietsreform in den Landtag ein. § 27 des Entwurfes zum Fünften Gesetz zur landesweiten Gemeindegebietsreform betreffend die Landkreise Barnim, Märkisch-Oderland, Oberhavel, Ostprignitz-Ruppin, Prignitz, Uckermark (5. GemGebRefGBbg) sah die Eingliederung der Beschwerdeführerin in die Stadt Lenzen (Elbe) vor. Der Innenausschuß des Landtages, an den die Gesetzentwürfe nach der ersten Lesung verwiesen worden waren, führte am 23. Oktober 2002 vorab eine Anhörung zu grundsätzlichen Fragen durch. In der Anhörung der Beschwerdeführerin vor dem Innenausschuß am 11. Dezember 2002 wurde deren ehrenamtlicher Bürgermeister gehört, der vortrug, daß die Beschwerdeführerin eigenständig bleiben wolle. Der Beschwerdeführerin wurde bis zum 2. Januar 2003 eine Nachfrist für eine schriftliche Stellungnahme eingeräumt (vgl. Ausschußprotokoll 3/682, S. 67). Das Gesetz wurde sodann im Frühjahr 2003 vom Landtag verabschiedet. Nunmehr § 26 des 5. GemGebRefGBbg vom 24. März 2003 (GVBl I S. 82), am Tag der landesweiten Kommunalwahlen (26. Oktober 2003) in Kraft getreten (s. § 48 Satz 1 des 5. GemGebRefGBbg), lautet:

§ 26
Verwaltungseinheit Amt Lenzen-Elbtalaue

Die Gemeinde Mellen wird in die Stadt Lenzen (Elbe) eingegliedert.

II.

Die Beschwerdeführerin hat am 22. Mai 2003 kommunale Verfassungsbeschwerde erhoben. Sie macht geltend, die Neugliederungsmaßnahme sei schon deshalb verfassungswidrig, weil weder die Bevölkerung des unmittelbar betroffenen Gebietes noch sie selbst (als Gemeinde) ordnungsgemäß angehört worden seien. Die Anhörungsfehler seien „absolute Nichtigkeitsgründe“. Auf Fragen der Kausalität komme es nicht an. Daß sich von 302 Gemeinden, die der Gesetzgeber aufzulösen versucht habe, 250 mit kommunalen Verfassungsbeschwerden dagegen zur Wehr setzten, sei bereits ein „ernstes Indiz für die verfassungswidrige Gewalt der gesetzlichen Regelung“. Es fehle am Nachweis, daß die Beschwerdeführerin ungeeignet sei, den Anforderungen moderner Selbstverwaltung zu entsprechen. Der Abwägungsvorgang sei fehlerhaft.

Die Beschwerdeführerin beantragt festzustellen:

§ 26 des Fünften Gesetzes zur landesweiten Gemeindegebietsreform betreffend die Landkreise Barnim, Märkisch-Oderland, Oberhavel, Ostprignitz-Ruppin, Prignitz, Uckermark (5. GemGebRefGBbg) vom 24. März 2003 verletzt die Beschwerdeführerin in ihren verfassungsmäßigen Rechten und ist deshalb nichtig.

III.

Der Landtag Brandenburg, die Landesregierung, der Städte- und Gemeindebund Brandenburg und die Stadt Lenzen (Elbe) hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.

B.

Die kommunale Verfassungsbeschwerde bleibt ohne Erfolg.

I.

 Sie ist gemäß Art. 100 Verfassung des Landes Brandenburg (LV), §§ 12 Nr. 5, 51 Verfassungsgerichtsgesetz des Landes Brandenburg (VerfGGBbg) statthaft und auch sonst zulässig. Die Beschwerdeführerin ist ungeachtet des zwischenzeitlichen Inkrafttretens der Neuregelung beteiligtenfähig. Eine Gemeinde gilt nach feststehender Rechtsprechung für die Dauer des gegen ihre Auflösung gerichteten Kommunalverfassungsbeschwerdeverfahrens als fortbestehend. Ebenso wird die Beschwerdeführerin im kommunalen Verfassungsbeschwerdeverfahren weiter durch das bisherige Amt vertreten.

II.

Die kommunale Verfassungsbeschwerde erweist sich aber in der Sache selbst als unbegründet. Die Auflösung von Gemeinden durch den Staat ist, wie sich unmittelbar aus Art. 98 Abs. 1 und 2 LV ergibt, nicht von vornherein ausgeschlossen. Die dafür nach Art. 98 Abs. 1 sowie Abs. 2 LV gezogenen Grenzen sind hier nicht verletzt.

1. Die nach der Landesverfassung geltenden Anhörungserfordernisse sind eingehalten worden. Im Hinblick auf die insoweit in einer Vielzahl von Verfahren kommunaler Verfassungsbeschwerden im wesentlichen gleichlautend vorgebrachten Einwände wird auf die ständige Rechtsprechung des Verfassungsgerichtes des Landes Brandenburg (vgl. u.a. Urteile vom 18. Dezember 2003 - VfGBbg 101/03 -, LVerfGE 14, 203, sowie vom 16. Juni 2005 - VfGBbg 48/03 -, und Beschlüsse vom 16. September 2004 - VfGBbg 102/03 und 118/03 - www.verfassungsgericht.brandenburg.de) Bezug genommen.

Insbesondere war die der Beschwerdeführerin zur Verfügung stehende Zeit für die Vorbereitung auf den Anhörungstermin am 11. Dezember 2002 noch ausreichend. Zwischen der Ladung zum Anhörungstermin und dem Anhörungstermin selbst lagen drei Wochen und ein Tag. Damit war der Zeitraum von der Benachrichtigung über die Anhörung bis zu deren Durchführung für eine sachgerechte Stellungnahme unter Beteiligung der Gemeindevertretung zwar relativ kurz. Es ist jedoch zu berücksichtigen, daß das Vorhaben mit unverändertem Inhalt schon lange angekündigt war und insofern nicht überraschend kam. Die Beschwerdeführerin wurde bereits im Vorfeld der Gesetzesinitiative angehört und konnte sich mit der Neugliederungsabsicht befassen. Bereits im Frühsommer 2002 hatte sie die Gelegenheit, zu Gegenstand, Zielsetzung und Inhalt des damaligen Referentenentwurfs Stellung zu nehmen und erhielt hierzu entsprechendes Material. Außerdem ist der Beschwerdeführerin in der Anhörung vor dem Innenausschuß am 11. Dezember 2002 eine Nachfrist für eine schriftliche Stellungnahme bis zum 2. Januar 2003 eingeräumt worden (vgl. Ausschußprotokoll 3/682, S. 67).

2. Die Eingliederung der Beschwerdeführerin in die Stadt Lenzen (Elbe) bleibt auch in der Sache selbst im Einklang mit der Landesverfassung.

a) In das Gebiet einer Gemeinde sowie - erst recht - in ihre körperschaftliche Existenz kann zufolge Art. 98 Abs. 1 LV nur aus Gründen des öffentlichen Wohls eingegriffen werden. Der Inhalt des Begriffes „öffentliches Wohl“ ist dabei im konkreten Fall vom Gesetzgeber auszufüllen, dem in dieser Hinsicht grundsätzlich – in dem von der Verfassung gesteckten Rahmen – ein Beurteilungsspielraum und politische Gestaltungsfreiheit in dem Sinne zukommt, daß er Ziele, Leitbilder und Maßstäbe selbst festlegen kann.

Das Verfassungsgericht überprüft zunächst, ob der Gesetzgeber den entscheidungsrelevanten Sachverhalt zutreffend und umfassend ermittelt hat. Dabei ist die verfassungsgerichtliche Kontrolle nicht eingeschränkt (Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, ständige Rechtsprechung, u. a. Beschluß vom 27. Mai 2004 - VfGBbg 138/03 - [Königsberg]; Bundesverfassungsgericht - BVerfG - , BVerfGE 50, 50, 51 [Laatzen]).

Das Verfassungsgericht prüft sodann, ob der Gesetzgeber den ermittelten Sachverhalt seiner Regelung zutreffend zugrundegelegt und die mit ihr einhergehenden Vor- und Nachteile in vertretbarer Weise gewichtet und in die Abwägung eingestellt hat. Hierbei darf sich das Verfassungsgericht nicht an die Stelle des Gesetzgebers setzen und hat seine Nachprüfung darauf zu beschränken, ob die Zielvorstellungen, Sachabwägungen, Wertungen und Einschätzungen des Gesetzgebers offensichtlich fehlerhaft, lückenhaft oder eindeutig widerlegbar sind oder der Wertordnung der Verfassung widersprechen. Die Bevorzugung einzelner und die gleichzeitige Hintanstellung anderer Belange bleibt dem Gesetzgeber so weit überlassen, als das mit dem Eingriff in den Bestand der Kommunen verbundene Abwägungsergebnis zur Erreichung der verfolgten Zwecke nicht offenkundig ungeeignet oder unnötig ist oder zu den angestrebten Zielen deutlich außer Verhältnis steht und frei von willkürlichen Erwägungen und Differenzierungen ist. Es ist dabei nicht die Aufgabe des Gerichts zu prüfen, ob der Gesetzgeber die beste und zweckmäßigste Neugliederungsmaßnahme getroffen hat (Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, ständige Rechtsprechung, u. a. Urteile vom 18. Juni 1998 – VfGBbg 27/97 –, LVerfGE 8, 97, 169 f. m.w.N., vom 29. August 2002 – VfGBbg 34/01 – [Kreuzbruch], LVerfGE Suppl. Bbg. zu Bd. 13, 116 = LKV 2002, 573, 574, und vom 18. Dezember 2003 - VfGBbg 101/03 -, a.a.O., sowie Beschlüsse vom 22. April 2004 – VfGBbg 182/03 – und vom 15. September 2005 - VfGBbg 113/03 -).

b) In Anwendung dieser Grundsätze hat sich hier der Gesetzgeber fehlerfrei auf den Standpunkt gestellt, daß für die Eingliederung der Beschwerdeführerin in die Stadt Lenzen (Elbe) Gründe des öffentlichen Wohls vorliegen, und auf dieser Grundlage eine verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende Regelung getroffen. Im einzelnen:

aa) Der Gesetzgeber hat sich ausreichend mit den tatsächlichen Verhältnissen befaßt.

(1) Die örtlichen Verhältnisse und wesentlichen Strukturdaten der Beschwerdeführerin, der Nachbargemeinden wie auch des Amtes sind in den Gesetzesunterlagen zutreffend angesprochen (s. sog. Neugliederungssachverhalt in LT-Drucksache 3/5020, S. 452 ff.). Insbesondere erfaßte der Gesetzgeber Einwohnerzahl und -dichte, die wirtschaftliche Lage, die Verkehrsverbindungen sowie bestehende soziokulturelle Verflechtungen der amtsangehörigen Gemeinden untereinander. Er hat berücksichtigt, daß die im Norden an Gemeinden des Amtes Karstädt und im Süden an die Stadt Lenzen (Elbe) grenzende Beschwerdeführerin nach dem Landesentwicklungsplan Zentralörtliche Gliederung (LEP I) sowie dem Regionalplan dem Nahbereich des Kleinzentrums Lenzen (Elbe) zugeordnet ist. Die bisher relativ konstanten Einwohnerzahlen der Beschwerdeführerin hat der Gesetzgeber gesehen, zugleich aber auch deren tendenziellen Rückgang für die Zukunft nicht unberücksichtigt gelassen. Ungeachtet dessen stellte er fest, daß die Beschwerdeführerin nach dem Wirksamwerden der freiwilligen Zusammenschlüsse die kleinste Gemeinde des Amtes wäre. Weder Einrichtungen des Gesundheitswesens noch industrielle oder gewerbliche Anlagen sind auf dem Gebiet der Beschwerdeführerin vorhanden. Für die Beschäftigungssituation in der Beschwerdeführerin folgerte der Gesetzgeber, daß bei 45 Auspendlern - Stand 31. Dezember 1999 - eine hohe Auspendlerquote charakteristisch sei. Auch Schulen und Kindertagesstätten existieren in der Beschwerdeführerin nicht. Die in der Beschwerdeführerin lebenden Schüler besuchen die Grundschule in Karstädt, Ortsteil Groß Warnow, und weiterführende Schulen in Karstädt und Lenzen. In Lenzen werden auch die Kindertageseinrichtungen aufgesucht. Ein Schulbusverkehr ist eingerichtet.

Die Verkehrsanbindung zwischen der Beschwerdeführerin und dem 10,5 km entfernt gelegenen Verwaltungssitz, der Stadt Lenzen (Elbe), den anderen Gemeinden des Amtes sowie den anderen Zentren des Landkreises hat der Gesetzgeber über die Landesstraßen 13 und 134 sowie zwei Buslinien des ÖPNV als gesichert angesehen.

Berücksichtigt hat der Gesetzgeber, daß die Trinkwasserversorgung über das Wasserwerk Zapel und die Abwasserentsorgung dezentral durch die Beschwerdeführerin erfolgen. Die örtliche Feuerwehr sichert den Grundbedarf der Beschwerdeführerin in Sachen Brandschutz.

Haushaltswirtschaftliche Besonderheiten stellte der Gesetzgeber keine fest. Bei deutlicher Steuerschwäche und überdurchschnittlicher Umlageverpflichtung beurteilte der Gesetzgeber den für freiwillige Selbstverwaltungsaufgaben verbleibenden Entscheidungsspielraum als gering. Über eigenes Personal verfügte die Beschwerdeführerin nicht.

(2) Diese Sachverhaltsermittlung begegnet keinen verfassungsrelevanten Bedenken. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Gesetzgeber sämtliche tatsächlichen Momente in allen Einzelheiten richtig erfaßt und gewürdigt hat. Wie verbunden die Gemeinden im Detail jetzt sind, ist bei der Prognoseentscheidung zur Gemeindegebietsneugliederung von untergeordneter Bedeutung. Ins Gewicht fällt vielmehr nur, ob er die für die Durchführung des gewählten Leitbildes bestimmenden Elemente in ihrem wesentlichen Gehalt richtig erkannt und daraus sachgerechte Folgerungen gezogen hat. Nur wenn die Richtigkeit einer die Entscheidung tragenden Tatsache bestritten wird und es möglich ist, daß die Neugliederung bei Zugrundelegung des behaupteten abweichenden Sachverhalts anders ausgefallen wäre, besteht eine Nachprüfungspflicht für das Verfassungsgericht (vgl. SächsVerfGH, LVerfGE 10, 375, 398 „[mit-]entscheidend“; VerfGH NW, Urteil vom 6. Dezember 1975 - VerfGH 39/74 -, EA S. 25; StGH BW, NJW 1975, 1205, 1213). Derartige Tatsachen sind weder von der Beschwerdeführerin mitgeteilt worden noch sonst ersichtlich.

bb) Dem Gesetzgeber stehen im Sinne von Art. 98 Abs. 1 LV Gründe des öffentlichen Wohls zur Seite. Nachvollziehbar beruft er sich darauf, daß die Eingliederung der Beschwerdeführerin in die Stadt Lenzen (Elbe) die finanzielle Leistungsfähigkeit der Beschwerdeführerin auf Dauer sichern soll. Nicht zu beanstanden ist, daß Ämter als örtliche Verwaltungseinheit im äußeren Entwicklungsraum weiter bestehen sollen, soweit nicht nach dem Leitbild eine amtsfreie Gemeinde gebildet werden kann. Amtsfreie Gemeinden sollen im äußeren Entwicklungsraum dann gebildet werden, wenn es ausgeprägte Zentralorte der Kategorie Grundzentrum mit Teilfunktion eines Mittelzentrums und Mittelzentren gibt oder aber Grundzentren, die in der Regelausstattung einem Grundzentrum mit Teilfunktion eines Mittelzentrums nahe kommen und eine vergleichsweise hohe, von den übrigen dem Amt angehörenden Gemeinden deutlich unterschiedliche Einwohnerzahl aufweisen (LT-Drucksache 3/5020, S. 455, Leitbild I. 2. a) bb)). Das Amt soll nicht weniger als 5.000 und amtsangehörige Gemeinden regelmäßig nicht weniger als 500 Einwohner haben. Auch sollten Ämter aus nicht mehr als sechs Gemeinden bestehen (LT-Drucksache 3/5020, S. 455 f., Leitbild I. 2 b) aa), bb) und cc). Eine diesem Leitbild teilweise widersprechende Ausgangssituation hat der Gesetzgeber vorgefunden.

(1) Daß die Stärkung der Verwaltungskraft sowie die Straffung und Effizienzsteigerung der Kommunalverwaltungen durch die Bildung leistungsfähiger Gemeinden Gründe des öffentlichen Wohls sind, welche eine kommunale Neugliederung zu rechtfertigen vermögen, hat das Landesverfassungsgericht bereits mehrfach entschieden, insbesondere zum Unterfall der Behebung von Strukturproblemen im Stadtumland (Urteile vom 18. Dezember 2003 - VfGBbg 101/03 -, a.a.O., und - VfGBbg 97/03 -) aber auch für den äußeren Entwicklungsbereich (zuletzt Beschluß vom 20. Oktober 2005 - VfGBbg 277/03 -) sowie zum vorausgegangenen Gesetz zur Reform der Gemeindestruktur und zur Stärkung der Verwaltungskraft der Gemeinden im Land Brandenburg vom 13. März 2001 (vgl. Urteil vom 29. August 2002 - VfGBbg 34/01 - [Kreuzbruch], LVerfGE Suppl. Bbg. zu Bd. 13, 116 = LKV 2002, 573, 574). Eine kommunale Neugliederung setzt nicht voraus, daß Mängel in der bisherigen Aufgabenerfüllung bestehen oder eine Gemeinde keine ausreichende Verwaltungs- und Leistungskraft besitzt. Vielmehr kann auch eine weitere Verbesserung der Verwaltung des Gesamtraumes die Neugliederung rechtfertigen (Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, u.a. Urteil vom 26. August 2004 - VfGBbg 230/03 - und Beschluß vom 18. November 2004 - VfGBbg 167/03 -). Einer solchen Verbesserung dient hier die Umsetzung der Leitbildbestimmungen.

(2) Ein Neugliederungsbedarf ergab sich bereits aus der deutlich unter 500 liegenden Einwohnerzahl der Beschwerdeführerin. Soweit der Gesetzgeber seine Abwägungsentscheidung maßgeblich darauf gestützt hat, daß die Beschwerdeführerin den Schwellenwert der Mindesteinwohnerzahl von 500 Einwohnern deutlich unterschreitet (vgl. LT-Drucksache 3/5020, S. 456 und ebd. sein Leitbild unter 2. b) cc), S. 24), ist hiergegen verfassungsrechtlich nichts einzuwenden. Die Landesverfassung steht der Einschätzung, daß sich aus einer geringen Einwohnerzahl der Gemeinde typisierend Rückschlüsse auf die (verminderte) Leistungsfähigkeit der Gemeinde ergeben, nicht entgegen (vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urteil vom 29. August 2002 – VfGBbg 34/01 -, a.a.O.). Der Gesetzgeber war nicht gehalten, das bisherige Leistungsvermögen der Beschwerdeführerin als alleiniges und zwingendes Indiz für ihre künftige Leistungsfähigkeit zu werten. Der Rückgriff auf die Einwohnerzahl als Indiz für die Leistungsfähigkeit der Gemeinde ist auch bei amtsangehörigen Gemeinden unbeschadet dessen statthaft, daß eine amtsangehörige Gemeinde im Land Brandenburg nicht selber Träger der „eigentlichen“ Verwaltung ist. Die Gemeindevertretung bleibt nämlich ungeachtet der administrativen Umsetzung durch das Amt für alle Angelegenheiten der Gemeinde zuständig. Nicht das Amt, sondern die einzelne Gemeinde ist Träger der gemeindlichen Einrichtungen und für den Unterhalt dieser Einrichtungen zuständig. Solche Einrichtungen können im Regelfall sinnvoll nur von bestimmten gemeindlichen Mindestgrößen an betrieben werden (Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urteil vom 29. August 2002 – VfGBbg 34/01 -, a.a.O., und Beschluß vom 18. November 2004 – VfGBbg 167/03 –, a.a.O., m.w.N.).

Der Gesetzgeber hat hierbei nicht unberücksichtigt gelassen, daß das Unterschreiten dieser Mindesteinwohnergrenze nicht zwingend zur Eingliederung in eine andere Gemeinde führt (vgl. Leitbild unter I. 2. b) cc)). Vielmehr hat er in diesem Zusammenhang geprüft, ob geographische, historische oder soziokulturelle Gesichtspunkte ein Abweichen von der Regelmindesteinwohnerzahl rechtfertigen. Seine Einschätzung, daß dies nicht der Fall sei (vgl. LT-Drucksache 3/5020, S. 456), ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. Insoweit ist es vielmehr nachvollziehbar, wenn der Gesetzgeber darauf verweist, daß die Eingliederung der Beschwerdeführerin in die Stadt Lenzen (Elbe) nahe gelegen habe, weil die Beschwerdeführerin an die Stadt grenzt und in deren Nahbereich gelegen ist.

(3) Auch soweit der Gesetzgeber bei einem Fortbestand der Beschwerdeführerin das Entstehen eines Ungleichgewichtes zwischen den durch Zusammenschlüsse gestärkten Gemeinden einerseits und der Beschwerdeführerin als Kleinstgemeinde andererseits befürchtet, da dies für die Entwicklung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Amt nachteilig wäre, ist dies verfassungsrechtlich unbedenklich.

cc) Zur Erreichung dieser Reformziele ist die Eingliederung der Beschwerdeführerin in die Stadt Lenzen (Elbe) nicht offensichtlich ungeeignet. Das Landesverfassungsgericht vermag nicht zu erkennen, daß das Ziel einer Bereinigung der Klein- und Kleinstgemeindestruktur durch die Eingliederung der Beschwerdeführerin eindeutig verfehlt würde.

dd) Die Eingliederung der Beschwerdeführerin in die Stadt Lenzen (Elbe) ist auch nicht unverhältnismäßig.

Nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz müssen die für eine Auflösung der Gemeinde sprechenden Gründe des öffentlichen Wohls gegenüber den für den Fortbestand der einzugliedernden Gemeinde sprechenden Gründen erkennbar überwiegen (vgl. hierzu BayVerfGH BayVBl 1981, 399, 400 f.; s. auch NdsStGH OVGE 33, 497, 503; StGH BW NJW 1975, 1205, 1211). Da die kommunale Selbstverwaltung auch dazu dient, die Bürger zu integrieren, den Menschen ein Zugehörigkeitsgefühl („Heimat“) zu vermitteln und damit die Grundlagen der Demokratie zu stärken, ist die Reform der Gemeindestruktur nicht ausschließlich an Rationalisierung und Verbesserung der Effizienz der Verwaltungsorganisation zu messen. Eine Gemeinde darf nicht ohne Berücksichtigung von Besonderheiten allein aus Gründen der Strukturbereinigung aufgelöst werden. Andernfalls kann der Eingriff in die Existenz einer Gemeinde und die dadurch bewirkte Beeinträchtigung der örtlichen Verbundenheit außer Verhältnis zu dem angestrebten Vorteil geraten (vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urteil vom 29. August 2002 - VfGBbg 34/01 -, a.a.O.).

Der Gesetzgeber hat die Vor- und Nachteile seines Neugliederungsvorhabens hier in nicht zu beanstandender Weise gegeneinander abgewogen und ist zu einem verfassungsrechtlich vertretbaren Ergebnis gelangt. Danach besitzen die für eine Eingliederung der Beschwerdeführerin in die Stadt Lenzen (Elbe) sprechenden Gründe das größere Gewicht.

(1) Die Bedeutung der kommunalen Selbstverwaltung war dem Gesetzgeber gegenwärtig. Er hat die Belange der Einwohner im Blick gehabt und sich damit auseinandergesetzt, ablesbar aus der amtlichen Begründung des Gesetzentwurfs (s. LT-Drucksache 3/5020, S. 451 f.). Auf der anderen Seite hat er als gegenläufige Belange in zulässiger und vertretbarer Weise die niedrige Einwohnerzahl der Beschwerdeführerin berücksichtigt. Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn der Gesetzgeber zu dem Ergebnis gelangt, daß zur Steigerung der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit der Verwaltung die Bildung einer größeren Verwaltungseinheit durch Eingliederung der Beschwerdeführerin in die Stadt Lenzen (Elbe) notwendig ist.

Besonderheiten, die einen Fortbestand der Beschwerdeführerin als eigenständige Gemeinde gebieten, sind nicht ersichtlich. Daß die Kassenstatistik der Beschwerdeführerin keine haushaltswirtschaftlichen Besonderheiten aufweist, genügt nicht, zumal ihre Umlageverpflichtung überdurchschnittlich und ihre Steuerschwäche deutlich war. Die Abwägungsentscheidung des Gesetzgebers erscheint insoweit vertretbar, soweit er mit der Schaffung größerer Verwaltungseinheiten insbesondere auch die Stärkung der Investitionskraft beabsichtigt.

(2) Eine vorzugswürdige leitbildgerechte Alternative, die insbesondere den Bestand der Beschwerdeführerin erhalten würde, ist weder ersichtlich noch von der Beschwerdeführerin geltend gemacht worden.

ee) Auch im übrigen läßt die Abwägung des Gesetzgebers keine seine Entscheidung in Frage stellenden Defizite erkennen.

(1) Der Gesetzgeber war nicht durch die finanziellen Folgen an einer Eingliederung der Beschwerdeführerin in die Stadt Lenzen (Elbe) gehindert. Für die Beurteilung am Maßstab des öffentlichen Wohls im Sinne des Art. 98 Abs. 1 LV ist nicht ausschließlich oder auch nur in erster Linie entscheidend, welche Lösung für die Einwohner der einzelnen Gemeinde die meisten Vorteile bietet. Entscheidend ist vielmehr, welche Lösung den Interessen des gesamten neu zu gliedernden Verwaltungsraumes und seiner Bevölkerung sowie darüber hinaus der Gesamtbevölkerung des Landes am besten entspricht. Erfahrungsgemäß kann der Wohlstand einer Gemeinde auf Lagevorteilen - etwa einer verkehrsgünstigen Lage an der Schnittstelle zwischen Autobahn und Bundesstraße - beruhen, wenn auch die sich aus der günstigen Lage ergebenden Chancen genutzt werden müssen. Umgekehrt kann Verschuldung jedenfalls teilweise aus Lagenachteilen herrühren, etwa wenn Infrastruktureinrichtungen unterhalten werden müssen, die zugleich den Menschen aus Nachbargemeinden zugute kommen, und gleichzeitig günstige Entwicklungsmöglichkeiten nicht vorhanden sind oder durch bestehende (Wohn-)Bebauung nicht lohnend genutzt werden können. Unabhängig davon ist die Finanzlage und damit auch der Beitrag, den die Einwohner mit einem neu zugeschnittenen Gebiet und Ressourcen zu leisten vermögen, naturgemäß nicht von Dauer, sondern veränderlich. Die wirtschaftliche Entwicklung des Gesamt-Neugliederungsgebietes ist so oder so nicht sicher einschätzbar.

(2) Verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist schließlich, wie der Gesetzgeber den geäußerten Willen der Bevölkerung, insbesondere der Gemeindevertretung, gewichtet hat. Die aus den Anhörungen resultierenden Stellungnahmen sind in das Gesetzgebungsverfahren eingeflossen (vgl. LT-Drucksache 3/5020, S. 451 f.). An das sich daraus ergebende Stimmungsbild ist der Gesetzgeber aber nicht gebunden. Der Bürgerwille stellt vielmehr nur ein Merkmal unter weiteren Gesichtspunkten dar, die für die Ermittlung der Gründe des öffentlichen Wohles und damit für die Abwägungsentscheidung des Gesetzgebers von Bedeutung sind. Bei einer allgemeinen Gebietsreform geht es eben auch darum, größere Räume neu zu gliedern, so daß nicht nur örtliche Gegebenheiten - wie etwa die Akzeptanz des Vorhabens bei den Bürgern der einzelnen Gemeinde - ins Gewicht fallen. Hiervon ausgehend hat sich der Landtag in den Grenzen seiner Entscheidungsfreiheit bewegt, als er nicht dem Willen der Einwohner der Beschwerdeführerin gefolgt ist, sondern den für die Eingliederung in die Stadt Lenzen (Elbe) sprechenden Umständen mit dem Ziel, die Struktur des Amtes zu straffen und zu vereinfachen sowie seine Leistungsfähigkeit zu erhöhen, das höhere Gewicht beigemessen hat.

C.

Das Verfassungsgericht hat einstimmig eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich gehalten, § 22 Abs. 1 2. Alt. VerfGGBbg.
 

Weisberg-Schwarz Prof. Dr. Dombert
   
Prof. Dr. Harms-Ziegler Havemann
   
Dr. Jegutidse Dr. Knippel
   
Prof. Dr. Will