VerfGBbg, Beschluss vom 19. November 2010 - VfGBbg 17/10 -
Verfahrensart: |
Verfassungsbeschwerde Hauptsache |
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entscheidungserhebliche Vorschriften: | - LV, Art. 52 Abs. 4 Satz 1 | |
Schlagworte: | - Überlange Verfahrensdauer - Erledigung - Rechtsschutzbedürfnis - Individuelle Betroffenheit - Wiederholungsgefahr - Schadensersatz - Präsidium |
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Zitiervorschlag: | VerfGBbg, Beschluss vom 19. November 2010 - VfGBbg 17/10 -, https://verfassungsgericht.brandenburg.de |
DES LANDES BRANDENBURG
VfGBbg 17/10
IM NAMEN DES VOLKES
B e s c h l u s s
In dem Verfassungsbeschwerdeverfahren
W.,
Beschwerdeführer,
Verfahrensbevollmächtigte: Rechtsanwältin Dr. K.
wegen Feststellung einer Grundrechtsverletzung durch die Dauer des Verfahrens S 19 AS 363/06 beim Sozialgericht Potsdam
hat das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg
durch die Verfassungsrichter Postier, Prof. Dawin, Dielitz, Dr. Fuchsloch, Möller, Nitsche, Partikel und Schmidt
am 19. November 2010
b e s c h l o s s e n :
Die Verfassungsbeschwerde wird verworfen.
G r ü n d e :
A.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die seiner Ansicht nach unzumutbare Dauer eines zwischenzeitlich abgeschlossenen sozialgerichtlichen Verfahrens.
B.
I.
1. Der Beschwerdeführer erhob am 13. März 2006 Klage vor dem Sozialgericht Potsdam, mit der er sich gegen die Rücknahme der Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch wandte und Leistungen für den Zeitraum Februar bis April 2006 begehrte (Az.: S 19 AS 363/06). Er machte geltend, die beklagte Arbeitsgemeinschaft habe die angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung im selbstgenutzten Eigenheim auf fehlerhafter Grundlage berechnet.
2. Der Beschwerdeführer hat am 13. April 2010 Verfassungsbeschwerde erhoben und eine Verletzung seines Grundrechts auf ein zügiges Verfahren vor Gericht nach Art. 52 Abs. 4 Satz 1 Verfassung des Landes Brandenburg (LV) gerügt, da das Sozialgericht Potsdam bis zu diesem Zeitpunkt nicht über seine Klage entschieden hatte. Er hält die Verfassungsbeschwerde weiter für zulässig, auch nachdem das sozialgerichtliche Verfahren am 10. Mai 2010 mit einem Vergleich in der mündlichen Verhandlung beendet wurde. Sein Rechtsschutzinteresse sei nicht weggefallen, da er beabsichtige, wegen der Verletzung seines Rechts auf ein zügiges Verfahren Schadensersatzansprüche vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geltend zu machen. Zudem bestehe ein besonderes öffentliches Interesse an der Feststellung der Grundrechtsverletzung.
II.
Die Landesregierung, die Präsidentin des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg sowie der Direktor des Sozialgerichts Potsdam haben Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten. Die Verfahrensakten wurden beigezogen.
C.
Die Verfassungsbeschwerde ist mit der Beendigung des Verfahrens vor dem Sozialgericht Potsdam unzulässig geworden.
Die Verfassungsbeschwerde dient in erster Linie dem subjektiven Rechtsschutz des Bürgers. Daher ist eine auf die Verletzung des Art. 52 Abs. 4 Satz 1 LV gestützte Verfassungsbeschwerde zulässig, solange die Untätigkeit oder zögerliche Verfahrensweise des Fachgerichts andauert und ein Eingreifen des Verfassungsgerichts deshalb geboten ist. Nach Beendigung einer etwaigen Grundrechtsverletzung durch Abschluss des (unterstellt überlangen) Verfahrens darf das Verfassungsgericht die Begründetheit einer ursprünglich zulässigen Verfassungsbeschwerde nur unter besonderen Umständen prüfen (Beschluss vom 28. September 2006 - VfGBbg 19/06 – m. w. N.; vgl. auch Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 24. August 2010 – 1 BvR 331/10 -, www.bundesverfassungsgericht.de). Solche Umstände liegen hier nicht vor.
Die individuelle Betroffenheit ist mit dem Abschluss des sozialgerichtlichen Verfahrens fortgefallen. Dieser Einschätzung steht nicht die Absicht des Beschwerdeführers entgegen, sich wegen der gerügten Verletzung seines Rechts auf ein zügiges Verfahren an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zu wenden. Die Erhebung einer Verfassungsbeschwerde ist nicht Voraussetzung dafür, vor dem EGMR Schadensersatzansprüche wegen überlanger Verfahrensdauer vor deutschen Fachgerichten geltend zu machen (vgl. zum Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht EGMR, Urteil vom 8. Juni 2006 – 75529/01, NJW 2006, 2389, 2391; bestätigt durch Urteil vom 11. Januar 2007 – 20027/02, NVwZ 2008, 289 LS 4). Eine konkret zu befürchtende Wiederholungsgefahr (s. Beschluss vom 17. September 2009 - VfGBbg 26/09 -, www.verfassungsgericht.brandenburg.de) ist vom Beschwerdeführer nicht substantiiert dargelegt worden. Dass er damit rechnet, zukünftig erneut auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts angewiesen zu sein, begründet die Wiederholungsgefahr nicht.
An einer Klärung der Rechtslage besteht auch kein über die höchstpersönliche Beschwer hinausgehendes öffentliches Interesse. Das Verfassungsgericht hat bereits ausführlich dargelegt, welche Verpflichtungen das Grundrecht auf ein zügiges Verfahren für die mit seiner Gewährleistung befassten staatlichen Stellen begründet, insbesondere welche Anforderungen es an die Justizorganisation stellt (s. Urteil vom 17. Dezember 2009 – VfGBbg 30/09, NVwZ 2010, 378). Der vorliegende Fall bietet selbst unter Berücksichtigung des Vorbringens des Beschwerdeführers keinen Anlass für darüber hinausgehende Ausführungen. Die Verfassungsbeschwerde gibt insbesondere keine Anhaltspunkte für die Annahme, die Präsidien der Sozialgerichte im Land Brandenburg würden bei der Geschäftsverteilung ihre Verantwortung für die Gewährleistung zügiger Verfahren verkennen und es etwa unterlassen, für eine möglichst gleichmäßige Belastung der Spruchkörper zu sorgen. Den Stellungnahmen der Präsidentin des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg und des Direktors des Sozialgerichts Potsdam ist zu entnehmen, dass die Präsidien die Belastung der Direktoren der Sozialgerichte mit Verwaltungsaufgaben bei der Geschäftsverteilung nicht generell vernachlässigen. Die Entlastung der Direktoren schwankt je nach Größe des Sozialgerichts um die 20%. Die konkrete Festlegung hängt von der Situation im jeweiligen Gericht ab und entzieht sich einer generellen Regelung.
D.
Der Beschluss ist einstimmig ergangen. Er ist unanfechtbar.
Postier Prof. Dawin
Dielitz Dr. Fuchsloch
Möller Nitsche
Partikel Schmidt