VerfGBbg, Beschluss vom 19. Januar 2006 - VfGBbg 170/03 -
Verfahrensart: |
Kommunalverfassungsbeschwerde Hauptsache |
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entscheidungserhebliche Vorschriften: | - LV, Art. 97; LV, Art. 98 Abs. 1 | |
Schlagworte: | - kommunale Selbstverwaltung - Gemeindegebietsreform - Verhältnismäßigkeit |
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Zitiervorschlag: | VerfGBbg, Beschluss vom 19. Januar 2006 - VfGBbg 170/03 -, https://verfassungsgericht.brandenburg.de |
DES LANDES BRANDENBURG
VfGBbg 170/03
IM NAMEN DES VOLKES |
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In dem kommunalen
Verfassungsbeschwerdeverfahren
Gemeinde Brädikow, Beschwerdeführerin, Verfahrensbevollmächtigte: Rechtsanwältin M.,
hat das Verfassungsgericht des Landes
Brandenburg am 19. Januar 2006 b e s c h l o s s e n : Die Verfassungsbeschwerde wird teils verworfen, im übrigen zurückgewiesen. G r ü n d e : A. Die Beschwerdeführerin, eine bislang dem Amt Friesack angehörende Gemeinde, wehrt sich gegen ihre Eingliederung in die neugebildete amtsangehörige Gemeinde Jahnberge. I. 1. Die Beschwerdeführerin, eine Gemeinde im äußeren Entwicklungsraum des Landes Brandenburg im Landkreis Havelland, gehörte zum nach dem sogenannten Modell 1 gebildeten Amt Friesack mit Sitz der Amtsverwaltung in der gleichnamigen Stadt. Das Amt mit im Jahr 2001 insgesamt ca. 6.330 Einwohnern bestand ursprünglich aus der Stadt Friesack (knapp 2.430 Einwohner) sowie zehn Gemeinden. Acht dieser Gemeinden - darunter die Beschwerdeführerin mit ca. 340 Einwohnern und die entlang einer in Süd-Nord-Richtung nach Friesack verlaufenden Landesstraße drei bzw. fünf Kilometer nördlich gelegenen Gemeinden Warsow und Vietznitz mit 240 bzw. ca. 250 Einwohnern - hatten weniger als 500 Einwohner. Die Beschwerdeführerin grenzte im Westen und Süden an die demselben Amt angehörenden Gemeinden Mühlenberge und Paulinenaue, im Westen auch an die Stadt Friesack. Die Gemarkung der Beschwerdeführerin erstreckte sich im Osten bis an die Grenze zum Landkreis Ostprignitz-Ruppin. Zum 31. Dezember 2002 schlossen sich drei kleine Gemeinden vertraglich zu der neuen amtsangehörigen Gemeinde Mühlenberge zusammen, zwei andere gliederten sich in die Stadt Friesack ein. Die Beschwerdeführerin und die Gemeinden Warsow und Vietznitz hatten in der ersten Jahreshälfte 2001 einen Zusammenschluß angestrebt, aber später die Verhandlungen im Hinblick auf die Kosten des künftigen Ausbaus von Bahnübergängen abgebrochen und wollten im Amt eigenständig bleiben. Das Amtsgebiet und insbesondere der Bereich der Beschwerdeführerin sowie der Gemeinden Warsow und Vietznitz ist ländlich und durch Schutzgebiete (u.a. Trappenschongebiet) geprägt („Ländchen Friesack“). 2. Ende April/Anfang Mai 2002 versandte das Ministerium des Innern Anhörungsunterlagen (Referentenentwurf) für eine Anhörung der Beschwerdeführerin zu der beabsichtigten kommunalen Neugliederung und gab ihr Gelegenheit zur Stellungnahme. Gleichfalls im Frühsommer 2002 wurden die Unterlagen für die Anhörung der Bevölkerung an den Landrat des Landkreises Havelland versandt. Für die Anhörung der Bürger stand ein Monat zur Verfügung. 3. Im September/Oktober desselben Jahres
brachte die Landesregierung sechs Gesetzentwürfe zur landesweiten
Gemeindegebietsreform in den Landtag ein. § 2 des Entwurfes zum Vierten
Gesetz zur landesweiten Gemeindegebietsreform betreffend die Landkreise
Havelland, Potsdam-Mittelmark, Teltow-Fläming (4. GemGebRefGBbg) sah u.a.
die Eingliederung der Beschwerdeführerin sowie der Gemeinden Vietznitz und
Warsow in die neugebildete Gemeinde Jahnberge vor. Zur Anhörung der
Beschwerdeführerin vor dem Innenausschuß am 07. November 2002 wurde deren
ehrenamtliche Bürgermeisterin geladen, die vornehmlich Anhörungsmängel
rügte. Das Gesetz wurde im Frühjahr 2003 vom Landtag verabschiedet. § 2 des
4. GemGebRefGBbg vom 24. März 2003 (GVBl I S. 73), am Tag der landesweiten
Kommunalwahlen (26. Oktober 2003) in Kraft getreten (s. § 37 Satz 1 des 4.
GemGebRefGBbg), lautet:
II. Die Beschwerdeführerin hat am 11. Juni 2003 kommunale Verfassungsbeschwerde erhoben. Sie macht geltend, ihre Eingliederung in die neue Gemeinde Jahnberge sei schon deshalb verfassungswidrig, weil weder die Bevölkerung des unmittelbar betroffenen Gebietes noch sie selbst (als Gemeinde) ordnungsgemäß angehört worden seien. Die Anhörungsfehler seien „absolute Nichtigkeitsgründe“. Auf Fragen der Kausalität komme es nicht an. Daß sich von 302 Gemeinden, die der Gesetzgeber aufzulösen versucht habe, 250 mit kommunalen Verfassungsbeschwerden dagegen zu Wehr setzten, sei bereits „ernstes Indiz für die verfassungswidrige Gewalt der gesetzlichen Regelung“. Es fehle an dem Nachweis, daß die Beschwerdeführerin ungeeignet sei, den Anforderungen moderner Selbstverwaltung zu entsprechen. Der Abwägungsvorgang sei fehlerhaft, was u.a. auf Ermittlungsdefiziten beruhe. Die Beschwerdeführerin beantragt festzustellen:
III. Der Landtag Brandenburg, die Landesregierung, der Städte- und Gemeindebund Brandenburg und die Gemeinde Jahnberge hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. B. Die kommunale Verfassungsbeschwerde bleibt ohne Erfolg. I. Sie ist in begrenztem Umfang zulässig. 1. Die kommunale
Verfassungsbeschwerde ist insofern unzulässig, als sie sich auch gegen die
Eingliederung der Gemeinden Vietznitz und Warsow in die neugebildete
Gemeinde Jahnberge sowie der Gemeinde Selbelang nach Paulinenaue und die
Zuordnung der Gemeinde Retzow zum Amt Friesack richtet. Die
Beschwerdeführerin ist insoweit nicht beschwerdebefugt. Gesichtspunkte für
eine Beschwer sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. II. Die kommunale Verfassungsbeschwerde erweist sich aber als unbegründet.
Die Auflösung von Gemeinden durch den Staat ist, wie sich unmittelbar aus
Art. 98 Abs. 1 und 2 LV ergibt, nicht von vornherein ausgeschlossen. Die
dafür nach Art. 98 Abs. 1 sowie Abs. 2 LV gezogenen Grenzen sind hier nicht
verletzt. Das Verfassungsgericht überprüft zunächst, ob der Gesetzgeber den entscheidungsrelevanten Sachverhalt zutreffend und umfassend ermittelt hat. Dabei ist die verfassungsgerichtliche Kontrolle nicht eingeschränkt (Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, ständige Rechtsprechung, u.a. Beschluß vom 27. Mai 2004 - VfGBbg 138/03 - [Königsberg]; BVerfGE 50, 50, 51 [Laatzen]). Das Verfassungsgericht prüft sodann, ob der Gesetzgeber den ermittelten Sachverhalt seiner Regelung zutreffend zugrundegelegt und die mit ihr einhergehenden Vor- und Nachteile in vertretbarer Weise gewichtet und in die Abwägung eingestellt hat. Hierbei darf sich das Verfassungsgericht nicht an die Stelle des Gesetzgebers setzen und hat seine Nachprüfung darauf zu beschränken, ob die Zielvorstellungen, Sachabwägungen, Wertungen und Einschätzungen des Gesetzgebers offensichtlich fehlerhaft, lückenhaft oder eindeutig widerlegbar sind oder der Wertordnung der Verfassung widersprechen. Die Bevorzugung einzelner und die gleichzeitige Hintanstellung anderer Belange bleibt dem Gesetzgeber so weit überlassen, als das mit dem Eingriff in den Bestand der Kommunen verbundene Abwägungsergebnis zur Erreichung der verfolgten Zwecke nicht offenkundig ungeeignet oder unnötig ist oder zu den angestrebten Zielen deutlich außer Verhältnis steht und frei von willkürlichen Erwägungen und Differenzierungen ist. Es ist dabei nicht die Aufgabe des Gerichts zu prüfen, ob der Gesetzgeber die beste und zweckmäßigste Neugliederungsmaßnahme getroffen hat (Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urteile vom 18. Juni 1998 – VfGBbg 27/97 –, LVerfGE 8, 97, 169 f. m.w.N. und vom 29. August 2002 – VfGBbg 34/01 –, a.a.O.; ständige Rechtspr., u.a. Urteil vom 18. Dezember 2003 – VfGBbg 101/03 -, a.a.O.). b) In Anwendung dieser Grundsätze hat sich hier der Gesetzgeber fehlerfrei auf den Standpunkt gestellt, daß für die Eingliederung der Beschwerdeführerin Gründe des öffentlichen Wohls vorliegen, und eine verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende Regelung getroffen. Im einzelnen: aa) Der Gesetzgeber hat sich ausreichend
mit den tatsächlichen Verhältnissen befaßt. (1) Daß die Stärkung der Verwaltungskraft sowie die Straffung und Effizienzsteigerung der Kommunalverwaltungen Gründe des öffentlichen Wohls sind, welche eine kommunale Neugliederung zu rechtfertigen vermögen, hat das Landesverfassungsgericht bereits mehrfach entschieden, insbesondere zum Unterfall der Behebung von Strukturproblemen im Stadtumland (Urteile vom 18. Dezember 2003 - VfGBbg 101/03 -, a.a.O., und - VfGBbg 97/03 -) sowie zum vorausgegangenen Gesetz zur Reform der Gemeindestruktur und zur Stärkung der Verwaltungskraft der Gemeinden im Land Brandenburg vom 13. März 2001 (vgl. Urteil vom 29. August 2002 - VfGBbg 34/01 - [Kreuzbruch], LVerfGE Suppl. Bbg zu Bd. 13, 116 = LKV 2002, 573, 574). Eine kommunale Neugliederung setzt nicht voraus, daß Mängel in der bisherigen Aufgabenerfüllung bestehen oder eine Gemeinde keine ausreichende Verwaltungs- und Leistungskraft besitzt. Vielmehr kann auch eine weitere Verbesserung der Verwaltung des Gesamtraumes die Neugliederung rechtfertigen (Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, u.a. Urteil vom 26. August 2004 - VfGBbg 230/03 - und Beschluß vom 18. November 2004 - VfGBbg 167/03 -). Einer solchen Verbesserung dient hier die Umsetzung der Leitbildbestimmungen. (2) Der Neugliederungsbedarf ergab
sich bereits aus der geringen Einwohnerzahl der Beschwerdeführerin von nur
ca. 340 Einwohnern. Soweit der Gesetzgeber seine Abwägungsentscheidung
maßgeblich darauf gestützt hat, daß die Beschwerdeführerin die im Leitbild
unter I. 2. b) cc) festgelegte Regel-Mindestgröße einer amtsangehörigen
Gemeinde von 500 Einwohnern unterschreite, ist hiergegen
verfassungsrechtlich nichts einzuwenden. Die Landesverfassung steht der
Einschätzung, daß sich aus einer geringen Einwohnerzahl der Gemeinde
typisierend Rückschlüsse auf die (verminderte) Leistungsfähigkeit der
Gemeinde ergeben, nicht entgegen (vgl. Verfassungsgericht des Landes
Brandenburg, Urteil vom 29. August 2002, a.a.O.). Der Rückgriff auf die
Einwohnerzahl als Indiz für die Leistungsfähigkeit der Gemeinde ist auch bei
amtsangehörigen Gemeinden unbeschadet dessen statthaft, daß eine
amtsangehörige Gemeinde im Land Brandenburg nicht selbst Träger der
„eigentlichen“ Verwaltung ist. Die Gemeindevertretung bleibt nämlich
ungeachtet der administrativen Umsetzung durch das Amt für alle
Angelegenheiten der Gemeinde zuständig. Nicht das Amt, sondern die einzelne
Gemeinde ist Träger der gemeindlichen Einrichtungen und für den Unterhalt
dieser Einrichtungen zuständig. Solche Einrichtungen können im Regelfall
sinnvoll nur von bestimmten gemeindlichen Mindestgrößen an betrieben werden
(Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urteil vom 29. August 2002 -
VfGBbg 34/01 -, a.a.O. und Beschluß vom 18. November 2004 – VfGBbg 167/03 –
a.a.O., m.w.N.). (1) Insbesondere war der Gesetzgeber nicht durch die finanziellen Folgen an einer Eingliederung der Beschwerdeführerin in die neue Gemeinde Jahnberge gehindert. Für die Beurteilung am Maßstab des öffentlichen Wohls im Sinne des Art. 98 Abs. 1 LV ist nicht ausschließlich oder auch nur in erster Linie entscheidend, welche Lösung für die Einwohner der einzelnen Gemeinde die meisten Vorteile bietet. Entscheidend ist vielmehr, welche Lösung den Interessen des gesamten neu zu gliedernden Verwaltungsraumes und seiner Bevölkerung sowie darüber hinaus der Gesamtbevölkerung des Landes am besten entspricht. Erfahrungsgemäß kann der Wohlstand einer Gemeinde auf Lagevorteilen - etwa einer verkehrsgünstigen Lage an der Schnittstelle zwischen Autobahn und Bundesstraße - beruhen, wenn auch die sich aus der günstigen Lage ergebenden Chancen genutzt werden müssen. Umgekehrt kann Verschuldung jedenfalls teilweise aus Lagenachteilen herrühren, etwa wenn Infrastruktureinrichtungen unterhalten werden müssen, die zugleich den Menschen aus Nachbargemeinden zugute kommen, und gleichzeitig günstige Entwicklungsmöglichkeiten nicht vorhanden sind oder durch bestehende (Wohn-)Bebauung nicht lohnend genutzt werden können. Insoweit kommt die gesetzgeberische Lösung der Beschwerdeführerin zugute, als ihre finanziellen Belastungen und die der Gemeinde Vietznitz, die voraussichtlich jeweils aus dem Ausbau von Bahnübergängen entstehen, nach dem Zusammenschluß auch von der bislang davon nicht belasteten und investitionsfähigen Gemeinde Warsow - die insbesondere wegen dieser künftigen Kostenlast im Jahr 2001 noch den freiwilligen Gemeindenzusammenschluß verhinderte - mitgetragen werden. Unabhängig davon ist die Finanzlage und damit auch der Beitrag, den die Einwohner mit einem neu zugeschnittenen Gebiet und Ressourcen zu leisten vermögen, naturgemäß nicht von Dauer, sondern veränderlich. Die wirtschaftliche Entwicklung des Gesamt-Neugliederungsgebietes ist so oder so nicht sicher einschätzbar. (2) Verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist schließlich auch, wie der Gesetzgeber den geäußerten Willen der Bevölkerung gewichtet hat. Die Stellungnahmen aus der Anhörung der Bevölkerung der Beschwerdeführerin und der weiteren Gemeinden des Amtsgebiets (vgl. LT-Drucksache 3/4883, S. 98 ff.) zur beabsichtigten Neugliederung lagen im Landtag vor und sind damit in das Gesetzgebungsverfahren eingeflossen. An das sich daraus ergebende Stimmungsbild ist der Gesetzgeber aber nicht gebunden. Das Ergebnis der Anhörung der Bevölkerung stellt vielmehr nur ein Merkmal unter weiteren Gesichtspunkten dar, die für die Ermittlung der Gründe des öffentlichen Wohles und damit für die Abwägungsentscheidung des Gesetzgebers von Bedeutung sind. Bei einer allgemeinen Gebietsreform geht es eben auch darum, größere Räume neu zu gliedern, so daß nicht nur örtliche Gegebenheiten - wie etwa die Akzeptanz des Vorhabens bei den Bürgern der einzelnen Gemeinde - ins Gewicht fallen. Hiervon ausgehend hat sich der Landtag in den Grenzen seiner Entscheidungsfreiheit bewegt, als er den für die Eingliederung der Beschwerdeführerin in die neue Gemeinde Jahnberge sprechenden Umständen mit dem Ziel, einerseits eine möglichst bürgernahe Selbstverwaltung der Gemeinden in einem Amt des äußeren Entwicklungsraums zu erhalten, zu diesem Zweck andererseits die Struktur des Amtes zu straffen und zu vereinfachen sowie seine Leistungsfähigkeit zu erhöhen, das höhere Gewicht beigemessen hat. C. Das Verfassungsgericht hat einstimmig eine mündliche Verhandlung nicht
für erforderlich gehalten, § 22 Abs. 1 2. Alt. VerfGGBbg. Der Beschluß ist
unanfechtbar. |
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Prof. Dr. Harms-Ziegler | Dr. Jegutidse |
Dr. Knippel | Prof. Dr. Will |