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Warum die Verfassung nicht nur eine Angelegenheit von Jurist*innen ist

Dr. Ilko-Sascha Kowalczuk, Vortrag am 12. Mai 2022 in Potsdam

- Erschienen am 16.05.2022


Ich stehe aus drei Gründen hier am falschen Platz: 1. Ich bin Berliner und kein Brandenburger. 2. Es ist „gerade“ nicht der richtige Zeitpunkt, um Verfassungsdebatten zu führen. 3. Ich bin kein Jurist.

Für erstens kann ich eigentlich nichts. Ich habe am 5. Mai 1996 für die Fusion beider Länder gestimmt. Ich wollte ein Berliner in Brandenburg werden, die meisten Brandenburger wollten keine Berliner werden.

Zweitens ist interessanter: Wann ist der richtige Zeitpunkt für Verfassungsdebatten? Abstrakt betrachtet spiegelt eine Verfassung Erfahrungen, die geeignet waren, die Integrität des Einzelnen zu verletzen und die politisches Handeln willkürlich erscheinen lassen könnten. Positiv formuliert setzen Verfassungen Normen, die die Integrität des Individuums zu schützen suchen und die einen Normenkanon festlegen, dem sich politisches Handeln zu unterwerfen hat. Es geht also darum, Recht und Ordnung zu normieren. Das zu diskutieren, erfolgt nie zur richtigen Zeit, es ist zu grundsätzlich als dass es in den Alltag welcher Akteure auch immer passen könnte. Darauf komme ich zurück.

Schließlich drittens: Bestenfalls in historischen Debatten geht es um Verfassungsfragen, ohne dass Jurist*innen wie selbstverständlich tonangebend wären. Nach meiner Beobachtung glauben die meisten Jurist*innen, Verfassungsrechtler*innen zumal, dass bei rechtlichen Fragen, bei Verfassungsfragen zumal, sie zuvörderst oder gar allein gefragt seien. Das verstehe ich sogar. Vertreter*innen sämtlicher Professionen glauben, ein gewisses Vorrecht auf „ihre“ Betrachtungsgegenstände zu besitzen. Das ist nachvollziehbar. Die anderen freilich sind im demokratischen Diskurs gefordert, diese Selbstsicht zu hinterfragen und durch Einwürfe von außen die Debatte zu schärfen. Als Historiker weiß ich, wovon ich rede. Es gibt wohl kaum eine andere Disziplin, die so selbstverständlich gesellschaftlich permanent in ihrer Deutungshoheit – freundlich ausgedrückt – hinterfragt, tatsächlich als geradezu störend und semiprofessionell hingestellt wird wie die Geschichtswissenschaften.

Ich weiß nicht, woran das liegt bzw. ich ahne es, aber das trägt hier nicht zur Sache bei. Anders ist es bei juristischen Fragen. Die Rechtwissenschaften haben es über Jahrzehnte und Jahrhunderte professionell fertiggebracht, eine eigene, von der Alltagswirklichkeit derart entfremdete Sprache zu entwickeln, dass es geradezu anmaßend erscheint, als Uneingeweihter mitreden zu wollen. Der besondere Kniff an dieser Kunstsprache besteht darin, dass sie für den Laien auf den ersten Blick auch noch so aussieht und sich so anhört als wäre sie verständlich. Ehrlicher wäre eine eigene Sprache oder wenigstens die Abfassung in Latein.

Das aber trifft auf Verfassungstexte nicht zu – sollten nicht zutreffen, was aber längst nicht mehr so ist. Unser Grundgesetz, einst ein würdevoller Normenkatalog, ist mittlerweile zu einer Ansammlung höchstwichtiger und ungemein unpassender Artikel geworden. Wer immer eine zwei Drittel Mehrheit im Bundestag hinter sich vereinen kann, scheint Grundgesetzänderungen anzustreben. Ich vermute, dieser Flickenteppich hat viel damit zu tun, dass etwa im aktuellen Bundestag 15 Prozent aller Parlamentarier Juristen sind, ein Anteil, der im Vergleich zu den vorherigen Legislaturperioden sogar noch zurückgegangen ist.

Nun will ich hier nicht über Verfassungen allgemein sprechen. Konzentrieren möchte ich mich auf eine Frage: Was ist der gesellschaftspolitische Sinn einer Verfassung?

Ich denke, darauf können wir uns sehr schnell einigen. Es geht um einen Rahmen, in dem sich politisches Handeln vollzieht und der das Individuum schützt und es geht darum, politische Herrschaft und soziale Machtausübung voneinander abzugrenzen. Je weniger in einer Verfassung festgelegt worden ist, je schmaler also eine Verfassung daherkommt, um so besser – eigentlich. Sie ist immer ein Ausdruck der politischen Ordnung. Sie konstituiert nicht diese Ordnung, sondern umgekehrt: diese Ordnung schreibt sich ihre Verfassung.

Und damit sind wir beim Kern des Ganzen: Denn, nur einmal angenommen ich irre nicht oder liege damit nicht völlig falsch, wenn also eine Verfassung den Ausdruck einer politischen Ordnung darstellt, dann ist sie ein gesellschaftspolitisches Mittel. Aber wofür?

In der DDR oder Sowjetunion gab es auch Verfassungen. Ich weiß nicht, ob Sie deren Geschichte kennen. Bürger wie der frühere Verfassungsgerichtspräsident Brandenburgs, Jes Möller, nahmen die DDR-Verfassung beim Wort, gerade weil sie wussten, dass in der Diktatur der permanente Verfassungsbruch zum Staatsprinzip zählte – dennoch beriefen sie sich bei einigen ihrer Handlungen auf die Verfassung. Und sie taten es, obwohl es keine juristische Möglichkeit gab, die Einhaltung der Verfassung von einem Verfassungsgericht oder gar nur einem Verwaltungsgericht überprüfen zu lassen. Es war eine der zentralen Forderungen im Herbst 1989, Gewaltenteilung einzuführen, eine moderne Verfassung zu erarbeiten und ein Verfassungsgericht einzusetzen. Spätestens in der Diktatur lernt jedes Kind, dass eine Verfassung ohne die Möglichkeit, deren Gültigkeit und Anwendung unabhängig prüfen zu lassen, keine Verfassung ist. Wir erleben gerade in den USA oder in Polen, zu schweigen von Diktaturen wie in Russland, wie problematisch es werden kann, wenn die juristisch obersten Verfassungsschützer nicht mehr die nötige Unabhängigkeit besitzen und die entsprechenden Gremien nicht die gesellschaftliche Diversität wenigstens zu spiegeln suchen. Als Historiker interessiert mich, vielleicht überrascht Sie das als Naivität sogar, die Verfassungswirklichkeit weitaus mehr als die Verfassungstheorie.

Nun komme ich zurück auf die Frage, ob es einen richtigen Zeitpunkt für Verfassungsdebatten gibt. Ich blicke dabei auf den berühmten Artikel 146 des Grundgesetzes, der die Geltungsdauer des Grundgesetze bestimmt: „Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“ Lassen wir mal die Begrifflichkeiten unberücksichtigt, die ja auch in der Brandenburger Verfassung anzutreffen sind, und die heute mindestens in geschichts-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Seminaren kaum noch als halbwegs moderne akzeptiert würden – wie Sie wissen, markiert dieser Artikel die Vorläufigkeit des Grundgesetzes, was überdies der Name selbst anzeigt. 1990 waren sich Politiker*innen und die meisten Jurist*innen einig, dass die Herstellung der deutschen Einheit – egal ob nach Artikel 23 oder Artikel 146 – von einer Verfassungsdiskussion begleitet werden würde.

Seit dem Herbst 1989 hatte sich in der DDR eine Verfassungsdebatte entwickelt, die viele Ostdeutsche als überflüssig ansahen. Zwar wünschten sie die schnelle Streichung von Artikel 1 der DDR-Verfassung, die die führende Rolle der SED seit 1968 juristisch festschrieb, was auch am 1. Dezember 1989 geschah. Aber insgesamt war die ostdeutsche Gesellschaft wenig mit juristischen und schon gar nicht mit Verfassungsfragen vertraut. Ihr Erfahrungsschatz hatte in dieser Hinsicht nicht viel aufzubieten. Woher auch? Wozu auch! Am Zentralen Runden Tisch konstituierte sich eine Arbeitsgruppe „Neue Verfassung“, in der Expertinnen und Experten aus Ost und West mitarbeiteten. Selbst Kanzler Kohl erklärte noch am 11. Februar 1990 nach seiner Rückkehr aus Moskau in einem Fernsehinterview, es müsse eine neue Verfassung erarbeitet werde. „Ich bin dafür, daß das, was sich bewährt hat, und zwar auf beiden Seiten, von uns übernommen werden soll. Es gibt auch Entwicklungen in der DDR in diesen 40 Jahren, die es sich sehr lohnt anzusehen. Ich bin ganz und gar dagegen, eine Position einzunehmen, die auf Anschluss hinausgeht.“[1] Wenig später erklärte Kohl, die Vereinigung würde nach Artikel 23 zustande kommen. Damit waren Verfassungsfragen scheinbar erledigt. Der Soziologe Wolf Lepenies resümierte 1992: „Den ostdeutschen Verfassungsentwurf haben wir ungelesen auf dem Runden Tisch verstauben lassen, statt ihn zum Anlass zu nehmen, aus dem im Prinzip bewahrenswerten Grundgesetz jene vom deutschen Volk in freier Entscheidung zu beschließende Verfassung zu machen, die sein Paragraph 146 fordert.“[2] Artikel 146 lautete bis Ende September 1990: „Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“ Noch vor dem 3. Oktober 1990 änderte der Bundestag diesen Artikel allerdings, der seither wie bereits zitiert lautet.

Die deutsche Einigung blieb in der Bonner Politik folgenlos. Genug Probleme hätte die Bundesrepublik zu bewältigen gehabt, Probleme, die sich seit Jahren angestaut hatten. Da sei eine Verfassungsdebatte nur hinderlich gewesen. Zumal die große Mehrheit der Ostdeutschen nach genau diesem Grundgesetz strebte und die große Mehrheit der Westdeutschen keine Gründe für eine Verfassungsänderung erkennen konnte. Hinzu käme, dass die Volkskammerwahlen als Plebiszit für Artikel 23 Grundgesetz (Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes) galten und es angesichts des engen Zeitplans keine Möglichkeiten für eine neue Verfassung nach Artikel 146 gebe. So wurde damals, so wird heute vielfach argumentiert.[3]

Tatsächlich ist in der Volkskammer die DDR-Verfassung mehrfach geändert worden, um neue Gesetze nicht in Widerspruch zu ihr zu bringen. Zwar hatte die erwähne Arbeitsgruppe vom Runden Tisch bis zum 4. April 1990 eine neue DDR-Verfassung erarbeitet, eine Rechtsverbindlichkeit war damit aber nicht verbunden. Im DDR-Parlament fanden sich dann jenseits von Bündnis 90 und der PDS auch keine politischen Kräfte, die ernsthaft über eine neue DDR-Verfassung debattieren wollten.[4] Das war angesichts des drängenden Zeitplans und der bereits laufenden Verhandlungen zur Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion auch nachvollziehbar. Nach dem Ersten Staatsvertrag, der zum 1. Juli 1990 in Kraft trat, war die rasche Übertragung des Grundgesetzes ohnehin alternativlos geworden. Das Problem einer gemeinsamen deutschen Verfassung blieb aber gleichwohl bestehen.

Am 16. Juni 1990 gründete sich ein gesamtdeutsches „Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund Deutscher Länder“, das dem grün-linksliberalen politischen Spektrum zurechnete und viele Wissenschaftler, Politikerinnen und Intellektuelle aus dieser politischen Richtung vereinte.[5] In der Evangelischen Akademie Bad Boll fand nur wenige Tage später eine mit hochrangigen Vertreterinnen und Vertretern aus Ost und West, darunter Wolfgang Schäuble, besetzte Veranstaltung statt, die einen großen Konsens offenbarte, dass Deutschland eine gemeinsame Verfassung benötige.[6] Der Beitritt nach Artikel 23 GG sei nunmehr unumgänglich; die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung nach Art 146 GG aber im vereinten Deutschland wünschenswert. So argumentierten 1990 nicht nur Politikerinnen und Politiker, sondern auch hochangesehene Verfassungsexperten.[7] Im Einigungsvertrag ist in Artikel 5 festgehalten worden, dass die Vertragsparteien den künftigen gesetzgebenden Körperschaften des vereinten Deutschlands empfehlen, innerhalb von zwei Jahren die Wirksamkeit von Artikel 146 zu prüfen. Ende November 1991 setzten Bundestag und Bundesrat eine „Gemeinsame Verfassungskommission“ ein. Knapp zwei Jahre später beendete die Kommission ihre Arbeit. Sie schlug einzelne Änderungen vor, das Grundgesetz als solches wurde nicht angetastet.[8] Alles ein ganz normaler Vorgang?

Im Prinzip ja. Das Grundgesetz gilt weltweit als Vorbild. Aus dem Provisorium ist ein Definitivum geworden.[9] Es hat sich bewährt. Aus juristischer Sicht mochte eine neue Verfassung nicht vonnöten sein. Allerdings muss man hinzufügen, in der siebzigjährigen Geschichte des Grundgesetzes erwiesen sich über sechzig Verfassungsänderungen als notwendig, davon etwa die Hälfte seit dem 3. Oktober 1990. Da dabei nicht selten mehrere Artikel angepasst wurden, übersteigt die Zahl der tatsächlichen Artikeländerungen die genannte Zahl etwa um das Dreifache. Es heißt, weltweit sei keine bestehende Verfassung häufiger verändert worden als das Grundgesetz. Man muss wohl kein Experte sein, um zu erahnen, dass nach vielen Veränderungen eine Gesamtneukonstruktion dem Anliegen nicht schaden würde. Dabei würde man wohl wie in den Debatten 1990/91 davon ausgehen können, dass nicht nur das Grundgerüst, sondern auch ein Großteil des Werks übernommen würde. War es daher vielleicht wirklich nicht nötig, in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung eine neue, eine gesamtdeutsche Verfassung zu verabschieden? Rechtlich vielleicht nicht. Politisch und kulturell schon eher, da gehen jedenfalls die Meinungen auseinander. Es handelt sich dabei auch nur um Meinungen, weil es niemand wissen kann. Richard Schröder glaubt, das Selbstwertgefühl der Ostdeutschen wäre dadurch nicht „erheblich gestärkt“ worden.[10] Dieser verbreiteten Haltung, die vor allem Konservative und westdeutsche Sozialdemokraten teilten, wird vielfach entgegengehalten, eine durch eine verfassungsgebende Versammlung oder gar durch einen Volksentscheid verabschiedete neue gesamtdeutsche Verfassung hätte signalisiert, es beginne „auf Augenhöhe“ ein neuer Abschnitt deutscher Staats- und Verfassungsgeschichte. Der Historiker Heinrich August Winkler schrieb 1990: „Um die Teilung zu überwinden, müssen die Westdeutschen infolgedessen nicht nur tun, was der Bundeskanzler allzu lange bestritten hat, nämlich materielle Opfer bringen. Sie müssen, was viel schwerer ist, sich in vielerlei Hinsicht innerlich umstellen. Sie müssen ihren Verfassungspatriotismus weiterentwickeln zu einem Patriotismus der Solidarität. Dazu gehört, daß sie nicht alles und jedes so belassen, wie es ist, nur weil es nun einmal so ist. Das gilt für die gesamtdeutsche Verfassung, die sicherlich weitgehend mit dem Grundgesetz von 1949 übereinstimmen wird und doch, um der demokratischen Legitimation des neuen Gemeinwesens willen, zum Gegenstand einer Volksabstimmung gemacht werden sollte.“[11]

In einem souveränen Akt hätte sich das deutsche Gemeinwesen eine gemeinsame Verfassung gegeben, hinter der sich zukünftig alle Demokraten und Demokratinnen hätten versammeln können. Für die Ostdeutschen wäre es vor allem mental und kulturell das Zeichen für einen gemeinsamen Neubeginn gewesen. Und die Westdeutschen hätten erfahren, dass auch die alte Bundesrepublik, das Nachkriegsprovisorium, in eine neue Zeit überführt werden musste. Natürlich, es ist Spekulation, was eine neue Verfassung wirklich bewirkt hätte. Anders aber als viele andere Wege, die beschritten worden sind und gegangen werden mussten, hätte dieser Weg nichts gekostet, er hätte auch keinerlei Verluste gezeitigt, er trug aber die Chance in sich, mit vergleichsweise geringem Aufwand eine gesamtgesellschaftliche Klammer zur Verfügung zu stellen, die unter aktiver Mitwirkung von allen integrationsfördernd gewesen wäre.

Zum Abschluss ein Sprung in die Gegenwart: 2019 berief die Bundesregierung eine Kommission „30 Jahre Revolution – 30 Einheit“. Sie tagte unter Vorsitz des früheren brandenburgischen Ministerpräsidenten Matthias Platzeck. Mitglieder waren aktive und ehemalige Politiker*innen, Engagierte aus NGOs, aus der Wirtschaft und Wissenschaftler*innen. Es war wohl der seltene Fall einer Kommission, in der Ostdeutsche überwogen (ich erlebte das bereits in der Enquete-Kommission des Bundestages zur SED-Diktatur). Wir waren uns schnell über viele Fragen, die es anzupacken gilt, einig. Das in diesen Tagen wieder diskutierte „Zukunftszentrum Ostdeutschland“ war vielleicht der wichtigste Vorschlag dieser Kommission. Mich am meisten überraschte etwas anderes: In einer der ersten Sitzungen schlug ich vor, die Kommission solle eine Verfassungsdebatte in Deutschland anstoßen. Das Ziel solle eine moderne, neue und schlanke Verfassung sein, die das Grundgesetz über Artikel 146 und die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung ablöst. Entscheidend dabei wäre, wie ich begründete, der Weg zur neuen Verfassung. Ich stellte mir Stellvertreterdebatten wie in Irland vor, als es um die Frage der Schwangerschaftsunterbrechung ging. Die Verfassung sollte zur Integrationsklammer aller Demokrat*innen werden, gerade weil sie in einem intensiven öffentlichen Prozess auf allen Ebenen debattiert würde. Ich argumentierte, eine solche Debatte würde die in die Defensive geratene Demokratie stärken und die tatsächlichen Mehrheitsverhältnisse in unserer Gesellschaft anschaulich aufzeigen. Es könnte sich eine lebendige Verfassungsüberzeugung ausprägen, die auf einer lebendigen, gesellschaftlich breit verankerten Verfassungsdebatte basiere.

Ich könnte nicht behaupten, dass ich mit dieser hier in Kurzform dargebrachten Argumentation auch nur in die Nähe einer qualifizierten Mehrheit kam. Fast alle waren dagegen. Das Argument lautete unisono: Das Grundgesetz habe sich bewährt und – das wichtigere Argument – es sei jetzt nicht die richtige Zeit. Auf meinen Einwand, die gibt es dafür nie, wurde entgegnet, das mag stimmen, aber nun sei die Demokratie umstellt von Links- und Rechtsextremisten, die in Parlamenten und auf den Straßen mobil gegen unsere Grundordnung machten. Meine Entgegnung, aber genau diese angeblichen Mehrheitsverhältnisse will ich ja mit einer Verfassungsdebatte auch als nicht gegeben überführen, überzeugte nicht. Die Kommission traf auch die Bundeskanzlerin, ihren Stellvertreter und den Bundesinnenminister. Auf einer dieser Sitzungen trug ich mein Anliegen vor – ich war mir ganz sicher, wieder allein zu stehen. Zu meiner Überraschung sagten aber nun sowohl die Kanzlerin wie der Innenminister, sie seien immer gegen eine neue Verfassung gewesen – es sei unnötig gewesen. Nun aber, es war im Januar 2020, sehen sie das anders und wir sollten doch ruhig Vorschläge unterbreiten, wie das initiiert werden könnte. Wenig später kam Covid19 auch in Deutschland mit aller Wucht an – und wiederum waren sich nun fast alle einig, dass es nicht die richtige Zeit für Prinzipielles sei.

 

[1] Zit. in: Rudolf Augstein: Er kann es wirklich nicht, in: Der Spiegel vom 12.3.1990 (Nr. 11/1990), S. 27.

[2] Wolf Lepenies: Folgen einer unerhörten Begebenheit. Die Deutschen nach der Vereinigung. Berlin 1992, S. 25.

[3] Exemplarisch: Richard Schröder: Irrtümer über die deutsche Einheit. Aktualisierte und erweiterte Ausgabe. Freiburg, Basel, Wien 2014, S. 199.

[4] Siehe neben den Volkskammerprotokollen die Dokumentation der relevanten Plenarprotokolle in: Erich Fischer, Werner Künzel (Hrsg.): Verfassungsdiskussion und Verfassungsgebung 1990 bis 1994 in Deutschland. Kommentare und Dokumente. Schkeuditz 2005, Bd. 2, S. 62-208.

[5] Vgl. In freier Selbstbestimmung. Für eine Gesamtdeutsche Verfassung mit Volksentscheid. Berlin, Köln, Leipzig 1990 (die Liste der ErstunterzeichnerInnen: S. 22-23).

[6] Vgl. Martin Pfeiffer, Manfred Fischer (Hrsg.): Markierungen. Auf dem Weg zu einer gesamtdeutschen Verfassung. Ein Symposium. Bad Boll 1990.

[7] Deren Stellungnahmen und die vieler weiterer Experten exemplarisch in: Bernd Guggenberger, Tine Stein (Hrsg.): Die Verfassungsdiskussion im Jahr der deutschen Einheit. München, Wien 1991.

[8] Vgl. Fischer, Künzel (Hrsg.): Verfassungsdiskussion und Verfassungsgebung, Bd. 2, S. 468-512 sowie Bd. 3.

[9] Dieter Grimm: Auf Bewährung, in: FAZ vom 10.12.2018; Thomas von Danwitz: Wert und Werte des Grundgesetzes, in: FAZ vom 21.1.2019.

[10] Schröder: Irrtümer über die deutsche Einheit, S. 201.

[11] Heinrich August Winkler: Mit Skepsis zur Einheit, in: Die Zeit vom 28.9.1990 (Nr. 40).