VerfGBbg, Beschluss vom 27. Mai 2011 - VfGBbg 59/10 -
Verfahrensart: |
Verfassungsbeschwerde Hauptsache |
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entscheidungserhebliche Vorschriften: | - LV, Art. 8 Abs. 1 S. 1 - StPO, §§ 205, 206 a |
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Schlagworte: | - Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit - Strafverfahren - Verhandlungsunfähigkeit - Abwägung - Rechtswegerschöpfung |
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Zitiervorschlag: | VerfGBbg, Beschluss vom 27. Mai 2011 - VfGBbg 59/10 -, https://verfassungsgericht.brandenburg.de |
DES LANDES BRANDENBURG
VfGBbg 59/10
IM NAMEN DES VOLKES
B e s c h l u s s
In dem Verfassungsbeschwerdeverfahren
R.
Beschwerdeführer,
Verfahrensbevollmächtigte: Rechtsanwältin S.
gegen den Beschluss des Landgerichts Neuruppin vom 30. September 2010 – 11 Qs 105/10 -
hat das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg
durch die Verfassungsrichter Postier, Dr. Becker, Dielitz, Dr. Lammer, Möller, Nitsche und Partikel
am 27. Mai 2011
b e s c h l o s s e n :
1. Der Beschluss des Landgerichts Neuruppin vom 30. September 2009 – 11 Qs 105/10 – verletzt das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 8 Abs. 1 Satz 1 der Verfassung des Landes Brandenburg. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Neuruppin zurückverwiesen.
2. Das Land Brandenburg hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe:
A.
Der Beschwerdeführer, der sich für verhandlungsunfähig hält, wendet sich gegen einen Beschluss des Landgerichts Neuruppin, durch den der Fortgang eines gegen ihn eröffneten strafrechtlichen Hauptverfahrens angeordnet worden ist.
Der heute 70-jährige Beschwerdeführer ist herzkrank. Im Februar 2003 erlitt er einen akuten Hinterwandinfarkt, in dessen Verlauf er reanimiert werden musste. Später kam es in der ersten Hälfte des Jahres 2004 wiederholt zu Verschlüssen verschiedener Blutgefäße, die operativ beseitigt wurden.
Der Beschwerdeführer ist vor dem Amtsgericht Oranienburg angeklagt, als Mitglied einer Bande am 2. August 2004 versucht zu haben, nachts in eine Glienicker Fleischerei einzubrechen. Von den beiden mitangeklagten Mittätern ist der eine zwischenzeitlich verstorben, der andere rechtskräftig verurteilt. Der zunächst gegen den Beschwerdeführer anberaumte Hauptverhandlungstermin im Frühjahr 2005 wurde aufgehoben, als dieser ein Attest über seine Herzerkrankung vorlegte. Das Gericht holte darauf ein Gutachten der C. ein, das dem Beschwerdeführer eine „vollständige Einschränkung der Verhandlungsfähigkeit“ bescheinigte. Eine Re-Stenose mit erheblicher Gefährdung seiner Gesundheit, so das am 8. April 2005 erstellte Gutachten, könne wieder auftreten, die Wahrscheinlichkeit dafür liege oberhalb einer bloßen Möglichkeit. Es sei insbesondere zu berücksichtigen, dass sich die Stenosen für den Beschwerdeführer im Vorfeld meist nicht unmittelbar körperlich bemerkbar gemacht hätten. Zusätzlich bestehe eine Herzinsuffizienz mit mindestens mittelgradiger Einschränkung der Belastbarkeit, welche die Verhandlungsfähigkeit zusätzlich einschränke. Dieser könne aber ggf. durch die Einhaltung ausreichender Pausen begegnet werden.
Das Amtsgericht Oranienburg stellte das Verfahren daraufhin mit Beschluss vom 2. August 2005 ein; auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft änderte das Landgericht Neuruppin den Beschluss ab und stellte die Sache nur vorläufig ein.
Im Januar 2007 wurde auf Anordnung des Amtsgerichts Oranienburg erneut ein Sachverständigengutachten eingeholt. Der wiederum beauftragte kardiologische Gutachter der C. stellte fest, dass seit Januar 2005 bei stabiler Beschwerdesymptomatik kein Verschluss mehr diagnostiziert worden sei. Es bestehe kein Anhaltspunkt für eine erneute relevante koronararterielle Stenose, dies schließe das Bestehen eines Verschlusses aber nicht aus. Sofern eine Stenose latent bestehe, könne sie sich unter der Belastungssituation einer Gerichtsverhandlung „mit gewisser Wahrscheinlichkeit“ manifestieren. Hinsichtlich der Herzinsuffizienz habe sich die Belastungsfähigkeit konsolidiert. Belastungen bis 50 Watt würden mit Beschwerdearmut vertragen. Ob indes die Hauptverhandlung zu einer stärkeren Belastung führe, müsse psychiatrisch geklärt werden. Der im Anschluss beauftragte forensisch-psychiatrische Sachverständige beantwortete in seinem Gutachten vom 14. Dezember 2009 die Frage nach der Verhandlungsfähigkeit des Beschwerdeführers nicht. Die psychische Belastbarkeit sei nicht nur von habituell verwurzelten Persönlichkeits- und Verhaltensmustern abhängig, sondern vor allem von der aktuellen Lebenssituation und der Tagesverfassung. Im Anschluss stellte das Amtsgericht Oranienburg das Verfahren mit Beschluss vom 7. Juli 2010 erneut vorläufig ein.
Mit dem angegriffenen Beschluss vom 30. September 2010 ordnete das Landgericht Neuruppin auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft den Fortgang des Verfahrens an. Mit Blick auf die Pflicht des Staates zur Gewährleistung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege in Abwägung mit dem durch Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz geschützten Interesse des Angeklagten an seiner körperlichen Unversehrtheit könne Verhandlungsunfähigkeit nur angenommen werden, wenn die Durchführung der Hauptverhandlung mit einer konkreten Lebens- oder schwerwiegenden Gesundheitsgefährdung verbunden sei. Die Herzerkrankung des Angeklagten sei dessen allgemeines Lebensrisiko, das sich, bei angepasster Verhandlungsführung, nicht noch zusätzlich in einer Weise erhöhe, dass von der Hauptverhandlung Abstand genommen werden müsse. Eine über die latente Gefahr des plötzlichen Todes hinausgehende, sich aus der Verhandlung selbst ergebende Gefährdung des mehrfach vorbestraften und gerichtserfahrenen Angeklagten sei nicht erkennbar. Die Beweisaufnahme werde sich auf einen überschaubaren Lebenssachverhalt beziehen und im Wesentlichen auf die Einvernahme des geständigen Mittäters konzentrieren. Die Dauer der Hauptverhandlung werde sich auch in einem überschaubaren Rahmen halten. Krankheitsbedingten Einschränkungen der Verhandlungsfähigkeit könnten durch eine angepasste Verhandlungsführung Rechnung getragen werden.
Gegen diesen am 7. Oktober 2010 übersandten Beschluss wendet sich der Beschwerdeführer mit seiner am 2. Dezember 2010 erhobenen Verfassungsbeschwerde. Der angegriffene Beschluss verletzte ihn in seinen Rechten auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 8 Abs. 1 Verfassung des Landes Brandenburg – LV -) und Menschenwürde (Art. 7 Abs. 1 LV) sowie in seinem Anspruch auf ein faires Verfahren (Art. 52 Abs. 4 LV). Die eingeholten Gutachten böten keine Grundlage für eine hinreichend sichere Prognose, ob die Hauptverhandlung sein Leben und seine körperliche Unversehrtheit gefährde.
II. Die Akten der Staatsanwaltschaft Neuruppin 12 Ls 344 Js 24711/04 (23/04) sind beigezogen worden.
III. Der Präsident des Landgerichts Neuruppin sowie der Leitende Oberstaatsanwalt der Staatsanwaltschaft Neuruppin haben Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten.
B.
I. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, §§ 46, 47 Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg (VerfGGBbg). Auch die weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen sind erfüllt. Der Beschwerdeführer hat zwar entgegen § 45 Abs. 2 VerfGGBbg den Rechtsweg nicht erschöpft. Es ist Gegenstand des Rechtsmittelverfahrens und damit der fachgerichtlichen Überprüfung, ob trotz Vorliegens eines Verfahrenshindernisses eine Sachentscheidung gefällt worden ist. Allerdings droht dem Beschwerdeführer bei Durchführung der Hauptverhandlung eine Gesundheitsbeeinträchtigung, die später nicht mehr zu beheben wäre. Unter diesen Umständen kann ihm nicht zugemutet werden, zunächst den Ausgang des Strafverfahrens abzuwarten und gegebenenfalls im Rechtmittelszug zu rügen, dass die Hauptverhandlung nicht hätte stattfinden dürfen (§ 45 Abs. 2 S. 2 VerfGGBbg; vgl. zum Bundesrecht: Bundesverfassungsgericht – BVerfG -, Beschluss vom 20. September 2001 – 2 BvR 1349/01 –, NJW 2002, 51, 52 m. w. N). Schließlich steht der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde auch nicht entgegen, dass mit ihr die Verletzung von Landesgrundrechten im Rahmen eines durch die Strafprozessordnung (StPO) bundesrechtlich geordneten Verfahrens gerügt wird. Die insoweit erforderlichen Voraussetzungen (vgl. Beschluss vom 16. Dezember 2010 – VfGBbg 18/10 –, LKV 2011, 124) sind erfüllt.
II. Die Verfassungsbeschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Der angegriffene Beschluss verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 8 Abs. 1 Satz 1 LV.
1. Zwar erfordern das Rechtstaatsprinzip, das unter anderem die Pflicht des Staates umfasst, die Sicherheit der Bürger und deren Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit des Staats zu schützen, sowie das Gebot der Gleichbehandlung aller im Strafverfahren Beschuldigter grundsätzlich eine Durchsetzung des staatlichen Strafanspruches. Eine funktionstüchtige Strafrechtspflege dient der Durchsetzung materieller Gerechtigkeit und liegt deshalb im Interesse der Allgemeinheit. Dem Staat obliegt somit auch aus verfassungsrechtlicher Sicht die Pflicht, die Einleitung und Durchführung des Strafverfahrens sicherzustellen.
Zwischen dieser Pflicht und Art. 8 Abs. 1 Satz 1 LV besteht aber ein Spannungsverhältnis, wenn der Gesundheitszustand des Beschuldigten ernsthaft befürchten lässt, dass dieser bei Fortsetzung des Strafverfahrens sein Leben einbüßen oder schwerwiegende Schäden an seiner Gesundheit erleiden werde. Die naheliegende, konkrete Gefahr einer Grundrechtsgefährdung ist dabei einer Grundrechtsverletzung gleichzusetzen, sofern eine hinreichend sichere Prognose über den Schadenseintritt besteht. Die unterhalb der Wahrscheinlichkeitsgrenze liegende bloße Möglichkeit des Todes oder der schweren gesundheitlichen Beschädigung verpflichtet das Gericht noch nicht, von der Durchführung einer Hauptverhandlung Abstand zu nehmen. Die Möglichkeit, dass der Beschuldigte den Belastungen einer Hauptverhandlung nicht gewachsen ist, lässt sich letztlich niemals ausschließen. Derartige Risiken sind innerhalb gewisser Grenzen unvermeidbar und müssen im Interesse einer wirksamen Strafrechtspflege hingenommen werden. Die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts dürfen andererseits auch nicht überspannt werden. Dabei bestimmt sich die Grenze, bis zu der aus verfassungsrechtlicher Sicht in Kauf genommen werden kann und muss, dass die Durchführung der Hauptverhandlung das Leben oder die Gesundheit des Beschuldigten gefährden würde, nach einem spezifischen Wahrscheinlichkeitsgrad, der sich einer genaueren Quantifizierung entzieht. Die absolute Grenze, die bei der Abwägung auch durch den schwersten Schuldvorwurf nicht zurückgedrängt werden kann, verläuft in jedem Fall erheblich unterhalb der Prognose eines mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu bestimmenden Kausalverlaufs (BVerfG, grundlegend Beschluss vom 19. Juni 1976 – 2 BvR 1060/78, BVerfGE 51, 324; zuletzt Beschluss vom 06. Oktober 2009 – 2 BvR 1724/09 -, EuGRZ 2009, 645, 646).
Mit dem Anlegen dieses Maßstabes allein kann der Strafrichter die verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine Entscheidung über die Verhandlungsfähigkeit des Beschuldigten aber noch nicht erfüllen. Vielmehr hat er in Anwendung dieses Maßstabs die für seine Entscheidung maßgebenden Gesichtspunkte gegeneinander abzuwägen. Er hat dabei alle wesentlichen persönlichen und tatsächlichen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen und das unterschiedliche Gewicht der einzelnen Abwägungselemente in Rechnung zu stellen (BVerfG, Beschluss vom 20. September 2001 – 2 BvR 1349/01 -, NJW 2002, 51).
2. Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen wird der angegriffene Beschluss nicht gerecht. Zwar stellt dieser zunächst die in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelten Grundsätze voran. Er trägt ihnen aber nachfolgend nicht hinreichend Rechnung. Das Gericht hat nicht auf der Grundlage der beiden neueren Gutachten oder, sofern diese dies nicht erlauben, aufgrund eigener ergänzender Ermittlungen (§ 308 Abs. 2 Strafprozessordnung) die Wahrscheinlichkeit substantiell abgeschätzt, mit der ein Schadenseintritt zu erwarten ist. Es hat vielmehr die Frage der Zumutbarkeit außerhalb der Wahrscheinlichkeitsprognose beantwortet und damit den nach den verfassungsrechtlichen Grundsätzen gebotenen Entscheidungsmaßstab durch eine eigene Wertung ersetzt. Ohne darauf einzugehen, dass beide Sachverständige sich nicht in der Lage gesehen haben, die Frage nach der Verhandlungsfähigkeit abschließend zu beantworten, kommt das Gericht zu dem Schluss, dass sich das Gesundheitsrisiko bei angepasster Verhandlungsführung nicht in einer Weise erhöhe, dass von der Hauptverhandlung Abstand genommen werden müsse; die Herzerkrankung ordnet es ohne weitere Begründung dem allgemeinen Lebensrisiko des Beschwerdeführers zu.
Auch die Interessenabwägung des angegriffenen Beschlusses genügt nicht den verfassungsrechtlichen Ansprüchen; insbesondere hat das Gericht nicht alle maßgeblichen Gesichtspunkte in seine Abwägung eingestellt. Zwar geht es auf die in früheren Strafverfahren gewonnenen Erfahrungen des Beschwerdeführers und auf die zu erwartenden Belastungen des aktuellen Verfahrens ein. Es hat sich aber nicht damit auseinandergesetzt, dass das Bestehen einer Stenose, insbesondere im Hinblick auf die beim Beschwerdeführer fehlende Warnsymptomatik in Form von typischer Angina pectoris, nicht ausgeschlossen werden kann. Vor diesem Hintergrund ist aber die vom Kardiologen angenommene „gewisse Wahrscheinlichkeit“ dafür, dass sich eine solche Stenose in der Situation einer Gerichtsverhandlung manifestieren könnte, zu würdigen. Mit der sich aus den kardiologischen Gutachten der C. vom 8. April 2005 und vom 14. Oktober 2008 ergebenden Entwicklung des gesundheitlichen Zustandes des Beschwerdeführers befasst sich das Gericht ebenso wenig wie mit dem psychiatrischen Gutachten vom 14. Dezember 2009 und den im Gutachten beiläufig angesprochenen konkreten Lebensumständen des Beschwerdeführers. Letztlich hat das Gericht die aktuelle Lebenssituation des Beschwerdeführers ersichtlich unberücksichtigt gelassen, obwohl der psychiatrische Sachverständige diesen Umständen für die Belastbarkeit des Beschwerdeführers eine besondere Bedeutung zugemessen hat. Schließlich hätte auch der Gehalt der den Beschwerdeführer treffenden Tatvorwürfe sowie der Grad des öffentlichen Interesses an der Fortführung des Strafverfahrens fast sieben Jahre nach der Tat in die Abwägung eingestellt werden müssen.
3. Ob eine Einstellung des Strafverfahrens tatsächlich in Betracht kommen wird, ist Sache tatrichterlicher Würdigung und einer Entscheidung durch das Verfassungsgericht entzogen.
4. Da eine Grundrechtsverletzung vorliegt, kann dahinstehen, ob die Entscheidung auch gegen Art. 7 und Art. 52 Abs. 3 LV verstößt.
5. Das Land Brandenburg hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen gemäß § 32 Abs. 7 Satz 1 VerfGGBbg zu erstatten. Damit erledigt sich sein Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren der Verfassungsbeschwerde (vgl. zum Bundesrecht: BVerfGE 71, 122, 136f.).
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