VerfGBbg, Beschluss vom 26. August 2011 - VfGBbg 12/11 -
Verfahrensart: |
Verfassungsbeschwerde Hauptsache |
|
entscheidungserhebliche Vorschriften: | - LV, Art. 52 Abs. 4 - ZPO, § 91; ZPO, § 511 - BbgNRG, § 39 |
|
Schlagworte: | - faires Verfahren - Nachbarschaftsrecht |
|
Zitiervorschlag: | VerfGBbg, Beschluss vom 26. August 2011 - VfGBbg 12/11 -, https://verfassungsgericht.brandenburg.de |
DES LANDES BRANDENBURG
VfGBbg 12/11
![](/sixcms/media.php/9/adlerkl.gif)
IM NAMEN DES VOLKES
B e s c h l u s s
In dem Verfassungsbeschwerdeverfahren
B.
Beschwerdeführer zu 1.,
P. B.
Beschwerdeführerin zu 2.,
gegen das Urteil des Landgerichts Potsdam vom 13. April
2011 – 7 S 72/10 -
hat das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg
durch die Verfassungsrichter Postier, Dr. Becker, Dielitz, Dr. Fuchsloch, Dr. Lammer, Möller, Partikel und Schmidt
am 26. August 2011
b e s c h l o s s e n :
Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen.
G r ü n d e :
I.
Die Beschwerdeführer wenden sich gegen ein Urteil des Landgerichts Potsdam in einer nachbarrechtlichen Streitigkeit.
Die Beschwerdeführer hatten ihre Nachbarn vor dem Amtsgericht Nauen auf Auskunft über die Bepflanzung im gemeinsamen Grenzbereich ihrer Grundstücke sowie auf die Beseitigung bestimmter Anpflanzungen in Anspruch genommen. Das Amtsgericht verpflichtete die Beklagten zur Beseitigung eines „Wacholderstrauches“ (Scheinzypresse), wies die Klage hinsichtlich zweier Sanddornbüsche jedoch ab.
Die von den Beklagten des Ausgangsverfahrens eingelegte Berufung hielten die Beschwerdeführer für unzulässig, weil der Mindestbeschwerdewert von 600,00 € nicht erreicht werde, sie legten gleichzeitig – wegen der Teilabweisung der Klage - hilfsweise Anschlussberufung ein, die sie erst nach Schluss der mündlichen Verhandlung begründeten. Während des Berufungsverfahrens kürzten die Beklagten des Ausgangsverfahrens die Scheinzypresse auf eine – nach den Vorschriften des Brandenburgischen Nachbarrechtsgesetzes (BbgNRG) zulässige - Höhe von 3 m.
Mit Urteil vom 13. April 2011 – 7 S 72/10 - wies das Landgericht Potsdam die Klage unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils insgesamt ab. Die Berufung der Beklagten des Ausgangsverfahrens sei zulässig. Insbesondere werde der Beschwerdewert nach § 511 Abs. 2 Nr. 1 Zivilprozessordnung (ZPO) erreicht. Denn dieser richte sich nach dem Sachwert der Pflanze, nicht nach dem mit der Beseitigung der Pflanze verbundenen Aufwand, da die große Konifere nicht mehr umgepflanzt werden könne. Dass der Wert der Pflanze 600 € übersteige, sei durch Vorlage eines Privatgutachtens glaubhaft gemacht worden. Die Berufung sei auch begründet. Denn nachdem die Beklagten die Scheinzypresse gekürzt hätten, könne die Beseitigung des Strauchs nicht mehr verlangt werden. Dies schließe den Beseitigungsanspruch nach § 39 Satz 1 BbgNRG aus. Einen stärkeren Rückschnitt könnten die Beschwerdeführer nicht verlangen.
Über die Anschlussberufung sei nicht zu entscheiden. Die Beschwerdeführer hätten nämlich bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung keinen Antrag gestellt, so dass diese nicht wirksam geworden sei. Der nicht nachgelassene Schriftsatz der Beschwerdeführer vom 23. März 2011 habe zur Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung keinen Anlass geboten. Die Kosten der Berufung legte das Landgericht trotz des erst in der zweiten Instanz erfolgten Rückschnitts den Beschwerdeführern auf. Da sie noch zweitinstanzlich eine stärkere Kürzung der Konifere verlangt hätten, sei davon auszugehen, dass sie auch erstinstanzlich sich nicht mit dem Rückschnitt auf 3 m zufrieden gegeben und die Klage nicht für erledigt erklärt hätten.
Am 19. April 2011 haben die Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde erhoben. Sie rügen eine Verletzung des Grundrechts auf ein faires Verfahren, Art. 52 Abs. 4 Verfassung des Landes Brandenburg (LV). Mit der Zulassung der Berufung habe das Landgericht den Wortlaut des § 39 Satz 2 BbgNRG missachtet, weil es den Streitwert an der Verpflichtung zur Beseitigung der Pflanze bemessen habe, obwohl die Beschwerdeführer stets optional einen Rückschnitt begehrt hätten. Durch die Kostenentscheidung werde der Rechtsfrieden in verfassungswidriger Weise erheblich gestört. Denn die Beschwerdeführer müssten die Kosten für die Herstellung eines Zustands tragen, auf den sie nach dem Gesetz einen Anspruch hätten. Das Recht auf ein faires Verfahren sei weiter dadurch verletzt, dass das Gericht die Anschlussberufung unter Hinweis auf angebliche formale Fehler nicht zugelassen habe. Tatsächlich sei eine Begründung sowie die Formulierung eines Antrages für die Anschlussberufung entbehrlich gewesen, nachdem sich das Landgericht für die Sanddornpflanzen der Rechtsauffassung der Beschwerdeführer zu § 61 BbgNRG angeschlossen habe. Damit sei der Verweis auf ihre erstinstanzlichen Schriftsätze ausreichend gewesen. Das Berufungsgericht habe die Parteien durch seine Verhandlungsführung ungleich behandelt: Es habe den Berufungsklägern eine Fristverlängerung für die Begründung der Berufung gewährt, den Antrag der Beschwerdeführer auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Begründung und des Antrags der Anschlussberufung jedoch zurückgewiesen. Das Landgericht habe – nach mehrfacher Fristverlängerung - ein Gefälligkeitsgutachten der Berufungskläger zur Grundlage seiner Entscheidung über die mögliche Zulassung der Berufung gemacht, nachdem es zunächst Bedenken im Hinblick auf den Beschwerdewert geäußert habe. Auch nach dem Zurückschneiden der Scheinzypresse habe das Landgericht die Berufung noch zugelassen, obwohl die Berufungsbegründung auf den erfolgten Rückschnitt nicht abgestimmt worden sei. Das Gericht habe das persönliche Erscheinen der Parteien angeordnet, das Nichterscheinen der Berufungskläger aber nicht beanstandet.
Die Akten des Landgerichts Potsdam zu 7 S 72/10 waren beigezogen.
II.
Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist unbegründet.
1. Das Recht auf ein faires Verfahren als allgemeines Prozessgrundrecht gewährleistet den Parteien eines Prozesses, dass der Richter das Verfahren so gestaltet, wie es die Parteien von ihm erwarten dürfen: Er darf sich nicht widersprüchlich verhalten, darf aus eigenen, ihm zuzurechnenden Fehlern oder Versäumnissen keine Verfahrensnachteile ableiten und ist allgemein zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation verpflichtet (vgl. Beschluss vom 15. Januar 2009 - VfGBbg 52/07 – www.verfassungsgericht.brandenburg.de). Mit dem Recht auf ein faires Verfahren nicht vereinbar ist es, durch übermäßig strenge Handhabung verfahrensrechtlicher Schranken den Anspruch auf gerichtliche Durchsetzung des materiellen Rechts unzumutbar zu verkürzen (vgl. zum Bundesrecht: BVerfGE 110, 339, 342). Ausfluss dieses Rechts ist auch die Waffengleichheit der Parteien, die im Zivilprozess die Gleichwertigkeit der prozessualen Stellung der Parteien vor dem Richter garantiert. Dieser hat den Prozessparteien im Rahmen der Verfahrensordnung gleichermaßen die Möglichkeit einzuräumen, alles für die gerichtliche Entscheidung Erhebliche vorzutragen und alle zur Abwehr des gegnerischen Angriffs erforderlichen prozessualen Verteidigungsmittel selbständig geltend zu machen. Dem Richter obliegt die Pflicht, diese Gleichstellung der Parteien durch eine objektive, faire Verhandlungsführung, durch unvoreingenommene Bereitschaft zur Verwertung und Bewertung des gegenseitigen Vorbringens, durch unparteiische Rechtsanwendung und durch korrekte Erfüllung seiner sonstigen prozessualen Obliegenheiten gegenüber den Prozessbeteiligten zu wahren (vgl. zum Bundesrecht: BVerfGE 52, 131, 156f).
2. Unter Anwendung dieser Grundsätze liegt ein Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren nicht vor.
a) Die Beschwerdeführer sind nicht dadurch in ihrem Recht auf ein faires Verfahren verletzt, dass das Landgericht Potsdam die von den Beklagten des Ausgangsverfahrens eingelegte Berufung als zulässig erachtete. Das Recht auf ein faires Verfahren schützt den Einzelnen nicht vor der Inanspruchnahme eines Rechtsmittels, das einem Anderen gesetzlich eingeräumt ist. Das Landgericht hat sich im Hinblick auf die Zulassung auch nicht widersprüchlich verhalten. Es hat zwar zunächst Bedenken angemeldet, ob die Berufungssumme erreicht sein könne und erst nach Vorlage eines Sachverständigengutachtens durch die Beklagten des Ausgangsverfahrens die Berufung als zulässig erachtet. Ändert ein Gericht seine Auffassung nach ergänzendem Parteivortrag, ist dies Ausfluss des den Parteien zustehenden Anspruches auf rechtliches Gehör, das unter anderem das Recht auf angemessene Berücksichtigung des Parteivortrags bei der Entscheidungsfindung garantiert. Das Recht auf ein faires Verfahren schützt nicht davor, dass ein Gericht seine Meinung im Verlaufe des Prozesses ändert. Dass das Landgericht dem Gutachten aus sachfremden Erwägungen oder infolge einer Parteinahme für die Beklagten des Ausgangsverfahrens gefolgt wäre, ist von den Beschwerdeführern nicht vorgetragen.
b) Dass das Landgericht den Berufungswert auch nach dem Rückschnitt der Scheinzypressen nach den Kosten für die Neuanschaffung einer vergleichbaren Pflanze bestimmte, zeigt ebenfalls keine dem Grundsatz des fairen Verfahrens widersprechende Voreingenommenheit. Denn für die Berechnung des Beschwerdewertes ist auf den Zeitpunkt der Berufungseinlegung abzustellen (§ 4 Abs. 1 ZPO). Spätere Veränderungen machen das Rechtsmittel nicht nachträglich unzulässig. Mit Einlegung der Berufung wandten sich die Beklagten des Ausgangsverfahrens aber gerade gegen die erstinstanzlich ausgesprochene Verpflichtung zur Beseitigung der Pflanze. Trotz Rückschnitts des Strauchs waren sie durch das erstinstanzliche Urteil schließlich weiterhin zur Beseitigung der Konifere verpflichtet. Die Abwendungsbefugnis nach § 39 Satz 2 BbgNRG – statt Beseitigung nur Rückschnitt vornehmen zu dürfen – greift bei Vorliegen eines vollstreckbaren, auf Beseitigung gerichteten Titels nicht. Für die Wertbemessung ergibt sich aus der von den Beschwerdeführern genannten Entscheidung des Bundesgerichtshofs (Beschluss vom 19. Januar 2011 – IV ZB 29/10) nichts anderes.
c) Das Landgericht hat das Recht auf ein faires Verfahren auch nicht dadurch verletzt, dass es über die Anschlussberufung der Beschwerdeführer nicht entschieden hat. Eine Anschlussberufung wird erst nach Stellung des Antrags in der mündlichen Verhandlung wirksam (Gummer/Heßler, in: Zöller, ZPO, 28. Aufl. 2010, § 524 Rn. 7). Die Beschwerdeführer haben einen solchen Antrag zwar schriftsätzlich angekündigt, dann aber – nach dem Hinweis der Kammer, dieser werde mangels Begründung nicht zulässig sein - nicht gestellt. Damit konnte keine Entscheidung der Kammer über die Anschlussberufung ergehen, der Zivilprozess unterliegt der Parteimaxime. Das Berufungsgericht kann erstinstanzliche Entscheidungen nicht von Amts wegen abändern, selbst wenn es sie für falsch hielte; es bleibt an die Parteianträge gebunden. Solange die Beschwerdeführer keinen Anschlussberufungsantrag stellten, konnte deshalb das Landgericht den Teil des erstinstanzlichen Urteils, mit dem sie unterlegen waren, nicht überprüfen, selbst wenn seine Rechtsauffassung zu § 61 BbgNRG mit derjenigen der Beschwerdeführer materiell übereinstimmte und es im Ergebnis wegen der Sanddornsträucher zu einem vom Amtsgericht abweichenden Ergebnis hätte gelangen können. Mit seiner Entscheidung hat das Landgericht im Ergebnis die Rechtsschutzmöglichkeiten der im Übrigen auch anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer nicht in verfassungsrechtlich bedenklicher Weise verkürzt.
d) Das Landgericht hat die Parteien des Ausgangsverfahrens auch nicht in einer dem Gebot des fairen Verfahrens widersprechenden Weise ungleich behandelt. Soweit das Gericht die Berufung zugelassen, über die Anschlussberufung jedoch nicht entschieden hat, unterlag es, wie gezeigt, rechtlichen Bindungen, ohne dass darin eine Voreingenommenheit zu Lasten der Beschwerdeführer zu erkennen wäre.
Soweit es den Beklagten des Ausgangsverfahrens sowohl für die Einreichung der Berufungsbegründung als auch für die Vorlage des Sachverständigengutachtens antragsgemäß Fristverlängerung gewährte, den Antrag der Beschwerdeführer auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bezüglich der Begründung der Anschlussberufung hingegen zurückwies, ist ebenfalls kein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens erkennbar. Da der Antrag auf Wiedereinsetzung erst nach Schluss der mündlichen Verhandlung gestellt worden war, konnte ihn das Gericht nur berücksichtigen, wenn es Grund gehabt hätte, die mündlichen Verhandlung nach § 156 ZPO wiederzueröffnen. Dies hat das Landgericht in jeder Hinsicht beanstandungsfrei mit Blick darauf verneint, dass die Kammer den Beschwerdeführern ihre Rechtsauffassung zu den Erfolgsaussichten der Berufung mit Beschluss vom 26. Januar 2011 bekannt gegeben hatte, so dass diese Gelegenheit zur Vorbereitung einer Begründung für die Anschlussberufung hatten. Die Beklagten des Ausgangsverfahrens hatten hingegen Fristverlängerungen ausschließlich vor dem Schluss der mündlichen Verhandlung begehrt, also in einem Verfahrensstadium, das den Parteien zum Vortrag offen steht. Erst nach Schluss der mündlichen Verhandlung sind Angriffs- und Verteidigungsmittel bis auf wenige Ausnahmen ausgeschlossen (§ 296a ZPO).
e) Eine mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens nicht zu vereinbarende Ungleichbehandlung liegt auch nicht darin, dass das persönliche Erscheinen beider Parteien nach § 141 ZPO angeordnet, das Nichterscheinen der Beklagten des Ausgangsverfahrens jedoch nicht sanktioniert worden ist. Inwieweit die Grundrechte der Beschwerdeführer dadurch berührt werden, erschließt sich nicht.
f) Schließlich liegt ein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens auch nicht darin begründet, dass das Landgericht den Beschwerdeführern die Kosten der zweiten Instanz auferlegt hat. Denn in der Berufungsinstanz ist das Urteil des Amtsgerichts Nauen abgeändert worden, soweit es die Beklagten des Ausgangsverfahrens zur Beseitigung der Scheinzypresse verurteilt hat, und die Klage ist insgesamt abgewiesen worden. Damit hatten die Beschwerdeführer als die im Prozess unterlegene Partei nach § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO die Kosten des Verfahrens zu tragen. Dass die Klage abgewiesen wurde, weil die Beklagten des Ausgangsverfahrens zwischenzeitlich den nach § 37 BbgNRG geforderten Zustand herbeigeführt hatten, hat das Landgericht unberücksichtigt gelassen. Verfassungsrechtlich ist dies nicht zu beanstanden. Denn, wie bereits ausgeführt, ist es im Zivilprozess an die Anträge der Parteien gebunden. Die Beschwerdeführer haben in der letzten mündlichen Verhandlung am 16. März 2011 die Zurückweisung der Berufung beantragt, mithin Aufrechterhaltung des erstinstanzlichen Urteils, das die Verpflichtung der Beklagten des Ausgangsverfahrens enthielt, die Scheinzypresse zu beseitigen. Dieser Anspruch stand den Beschwerdeführern aber gerade nicht mehr zu, nachdem die Beklagten die Scheinzypresse auf die nach § 37 BbgNRG zulässige Höhe reduziert hatten. Im Übrigen hatten die Beschwerdeführer auch erstinstanzlich stets die Beseitigung der Pflanze gefordert und zweitinstanzlich zumindest einen Rückschnitt gem. § 38 BbgNRG auf 2 m verlangt.
III.
Der Beschluss ist unanfechtbar.
Postier | Dr. Becker |
Dielitz | Dr. Fuchsloch |
Dr. Lammer | Möller |
Partikel | Schmidt |