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VerfGBbg, Beschluss vom 20. Oktober 2017 - VfGBbg 46/16 -

 

Verfahrensart: Organstreit
Hauptsache
entscheidungserhebliche Vorschriften: - LV, Art. 56 Abs. 1 Satz 1; LV, Art. 56 Abs. 2
- GO-LT, § 34 Abs. 1 Satz 1
Schlagworte: - Organstreitverfahren
- parlamentarische Ordnungsmittel
- Ordnungsruf
- "Lügner"
- parlamentarische Ordnung
- Rederecht
- Geschäftsordnungsautonomie
- Reichweite der verfassungsgerichtlichen Prüfung
Fundstellen: DÖV, Januar 2018, Heft 2, S. 80
Zitiervorschlag: VerfGBbg, Beschluss vom 20. Oktober 2017 - VfGBbg 46/16 -, https://verfassungsgericht.brandenburg.de

VERFASSUNGSGERICHT
DES LANDES BRANDENBURG

VfGBbg 46/16




IM NAMEN DES VOLKES

B e s c h l u s s

In dem Organstreitverfahren

Dr. Rainer van Raemdonck, MdL,
Alter Markt 1,
14467 Potsdam,

Antragsteller,

Verfahrensbevollmächtigte:              Rechtsanwältin
D.,

gegen

1.    Präsidentin des Brandenburgischen Landtages,
Alter Markt 1,
14467 Potsdam ,

2.    Vizepräsident des Brandenburgischen Landtages,
Alter Markt 1,
14467 Potsdam,

Antragsgegner,

Verfahrensbevollmächtigte          Rechtsanwälte A.

zu 1. und 2.:                                    

                                                            

 

wegen            Erteilung eines Ordnungsrufes in der 29. Plenarsitzung des Landtages Brandenburg am 8. Juni 2016

hat das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg

am 20. Oktober 2017

durch die Verfassungsrichter Möller, Dr. Becker, Dielitz, Dr. Lammer, Nitsche, Partikel und Schmidt

beschlossen: 

 

Das Verfahren wird eingestellt, soweit der Antragsteller den Antrag zurückgenommen hat. Im Übrigen wird der Antrag zurückgewiesen.

 

Gründe:

 

A.

Der Antragsteller wendet sich gegen einen ihm in der 29. Plenarsitzung des Landtages Brandenburg am 8. Juni 2016 erteilten Ordnungsruf.

 

I.

Der Antragsteller gehört in der laufenden 6. Wahlperiode als Abgeordneter dem Brandenburgischen Landtag an und ist Mitglied der Fraktion der Alternative für Deutschland.

 

1. Im Rahmen einer Debatte in der 29. Plenarsitzung des Landtages Brandenburg am 8. Juni 2016 über den Antrag der AfD-Fraktion „Quorum für die Landratswahlen reduzieren“ (LT-Ds. 6/4283) erhielt der Antragsteller, der bereits die Aussprache eröffnet hatte, nach den Redebeiträgen von Vertretern der anderen Fraktionen und der Landesregierung nochmals das Wort. Im Plenarprotokoll (PlPr. 6/29 S. 2720 f) ist seine Rede wie folgt festgehalten:

 

„Dr. van Raemdonck (AfD):

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der konstruktivste Redebeitrag, den ich heute zu diesem Thema gehört habe, kam von Ihnen, Frau Nonnemacher.

(Beifall AfD)

Er war völlig ohne ideologische Brille - ich lobe die Grünen selten, aber das muss man einfach einmal sagen -, fachlich fundiert, mit Fakten untersetzt.

Bei Ihnen, Herr Kurth, habe ich an Fakten überhaupt nichts gehört. Dass die Einheitlichkeit der Bürgermeister- und Landratswahlen beibehalten werden müsse, ist völlig irrsinnig. Das kann separat geregelt werden.

Herr Petke, ich habe nicht mitgekriegt, dass Sie überhaupt etwas Konstruktives gesagt hätten.

Dass unser Antrag von SPD, DIE LINKE und CDU abgelehnt wird, habe ich erwartet. Wir wissen auch, warum: weil er von der AfD-Fraktion kommt und Sie einfach nicht genug gesunden Menschenverstand haben, um hier unabhängig von der ideologischen Brille Ihr freies Mandat auszuüben.

(Beifall AfD)

Meine Damen und Herren von der Linken, Ihnen kann ich sagen: Sie sind überwiegend Lügner.

(Zurufe von der Fraktion DIE LINKE: Was?)

Noch vor der Landtagswahl haben Sie vorgegeben, für mehr direkte Demokratie einstehen zu wollen, und heute werden Sie mit absoluter Sicherheit unseren Antrag ablehnen. Die Quittung dafür werden Sie bekommen. Sie haben es bei der letzten Land­ratswahl im Havelland erlebt, als Ihr Kandidat bei dem erforderlichen Quorum ein ganz miserables Ergebnis eingefahren hat.

Herr Schröter, ich muss sagen, von Ihnen bin ich enttäuscht. Sie hatten vom Landtag den Auftrag erhalten, die Sache zu beobachten. Sie haben keine Idee eingebracht, wie Sie das Problem lösen können. Acht der zwölf Landratswahlen haben nicht funktioniert. Da, denke ich, ist es als Mitglied der Landesregierung Ihre Pflicht und Schuldigkeit, sich etwas einfallen zu lassen. Wenn Sie meinen, dass wir in Brandenburg als einziges Bundesland ein Quorum brauchen, erklären Sie un­seren Bürgern doch einmal, wozu wir es brauchen und warum 13 Bundesländer keines brauchen.

(Beifall AfD)

Ich habe schon mehrfach gesagt, dass die Landesregierung aus meiner Sicht eine Minderheitsregierung ist. Sie haben maximal 23,8 Prozent der wahlberechtigten Bürger hinter sich stehen, und damit sind Sie in diesem Land praktisch eine Minderheits­regierung.

(Ministerpräsident Dr.Woidke: Wie viele Sie hinter sich stehen haben!)

Zu dem Thema ist jetzt genug gesagt. Ich erwarte mit Span­nung die Abstimmung. Eigentlich ist nur spannend, wie sich die Grünen jetzt zu dem Antrag verhalten.- Schönen Dank.

(Beifall AfD - Dr.Bernig [DIE LINKE]: Jetzt haben Sie aber gelogen!)“

 

Der sitzungsleitende Vizepräsident erteilte dem Antragsteller im Anschluss daran für die so von ihm wiedergegebene Bemerkung, die „meisten von der Fraktion DIE LINKE seien Lügner“, einen Ordnungsruf. Einer anderen Meinung zu sein bedeute nicht, dass man deswegen andere als Lügner bezeichnen dürfe.

 

2. Gegen den Ordnungsruf legte der Antragsteller mit Schreiben vom 8. Juni 2016 Einspruch ein. Die Erteilung des Ordnungsrufes sei unbegründet gewesen, da seine Äußerung nicht geeignet gewesen sei, die parlamentarische Ordnung zu verletzen. DIE LINKE habe vor den Landtagswahlen vorgegeben, für die direkte Demokratie einzustehen, vertrete diese Linie aber in ihrem ständigen Abstimmungsverhalten gerade nicht. Bei seiner Aussage handele es sich um die zulässige Wahrnehmung berechtigter Interessen. Er habe vom Recht des freien Mandats Gebrauch gemacht. Die Redefreiheit des Abgeordneten stelle eine in der Demokratie unverzichtbare Kompetenz zur Wahrnehmung parlamentarischer Aufgaben dar. Durch den Ordnungsruf sei er in unzulässiger Weise in seinen Abgeordnetenrechten verletzt worden.

 

Den Einspruch wies das Präsidium des Landtags zurück. Dies wurde dem Antragsteller mit Schreiben der Präsidentin des Landtags vom 8. Juli 2016, das eine weitergehende Begründung nicht enthielt, mitgeteilt.

 

II.

Der Antragsteller hat am 15. September 2016 ein Organstreitverfahren anhängig gemacht und beantragt

 

festzustellen, dass der von dem Antragsgegner zu 2. in der 29. Plenar­sitzung der 6. Wahlperiode vom 8. Juni 2016 ihm gegenüber erteilte Ordnungsruf rechtswidrig war.

 

Der Ordnungsruf verletze ihn in seinem Recht aus Art. 56 Abs. 1 und 2 LV. Nach Art. 56 Abs. 2 LV habe er das Recht, im Landtag das Wort zu ergreifen. Von diesem Rederecht lebe die Parlamentsdebatte. Stilmittel wie Überspitzung, Polarisierung, Vereinfachung oder Polemik seien zulässig. Für eine Einschränkung seines Rechts seien strenge Maßstäbe anzusetzen. Die Äußerung sei eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Debattenthema. Eine bloße Herabwürdigung der Abgeordneten der Fraktion DIE LINKE sei nicht gegeben. Der mit dem Ordnungsruf sanktionierte Begriff könne mit hinreichenden Anknüpfungspunkten untermauert werden, da sich der überwiegende Teil dieser Abgeordneten durch ihr Abstimmungsverhalten in Widerspruch zu den vor der Landtagswahl geäußerten Ansichten setze. Zivilrechtlich seien Äußerungen, die sowohl tatsächliche als auch wertende Elemente enthielten, zum Schutz der Meinungsfreiheit stets zulässig. Dies müsse im erhöhten Maße für parlamentarische Äußerungen gelten.

 

Der Ordnungsruf sei willkürlich und unter Missachtung des Gleichheitssatzes erteilt worden. Die Polemiken und Überspritzungen durch Mitglieder anderer Fraktionen gegen ihn und seine Fraktionskollegen blieben ohne Sanktionen. Auch habe der sitzungsleitende Vizepräsident offenkundig den Sachverhalt verkannt.

Weiter macht er geltend, dass die Beeinträchtigung seiner Statusrechte fortwirke. Ein Ordnungsruf stelle regelmäßig einen Eingriff in das Rederecht dar. Das Rechtsschutzbedürfnis für eine verfassungsgerichtliche Klärung sei indiziert.

 

Ordnungsrufe, die wie hier, auf den Inhalt der Äußerung abzielten, unterlägen einer intensiveren verfassungsgerichtlichen Kontrolle. Es müsse eine Verletzung oder Gefährdung konkurrierender Rechtsgüter vorliegen, die auch Gegenstand der gerichtlichen Kontrolle sei. Dem Präsidenten des Parlaments stehe bei der Sanktionierung von Verstößen, die das Ansehen des Landtags gefährdeten, nur ein begrenzter Ermessensspielraum zu.

 

Im weiteren Verlauf des Organstreits hat der Antragsteller den gegen den Antragsgegner zu 2. gerichteten Antrag zurückgenommen.

 

III.

Die Antragsgegner halten die gegen die Antragsgegnerin zu 1. gerichtete Organklage für unzulässig, jedenfalls für offensichtlich unbegründet.

 

1. Der Antrag sei unzulässig. Für die Beurteilung der Zulässigkeit eines Ordnungsrufes sei maßgeblich die dem Abgeordneten von der Verfassung eingeräumte Kompetenz zur Wahrnehmung parlamentarischer Aufgaben, zu denen die freie Rede gehöre und in die nicht ohne Not eingegriffen werden dürfe. Der Ordnungsruf sei nach Beendigung der Rede erteilt worden, habe den Redner während der Wahrnehmung seines Rederechts also weder in Form, Struktur oder auch nur im Fluss seiner Rede beeinträchtigt. Er habe diese wie vorgesehen beenden können. Der Antragsteller berufe sich auch nicht darauf, dass der Ordnungsruf „fortwirkend“ in sein Statusrecht eingreife, indem es ihn mit dem Stigma der unparlamentarischen Verhaltensweise belege.

 

2. Das Recht eines Abgeordneten nach Art. 56 Abs. 2 Satz 1 LV, im Landtag das Wort zu ergreifen, präge einerseits den Status des Abgeordneten, unterliege aber auch Bindungen, die sich aus der Struktur des Parlaments als Kollegialorgan ergäben. Die Geschäftsordnungsautonomie berechtige das Parlament zum Erlass der von ihm für notwendig angesehenen Regeln, um ein ordnungsgemäßes und der Würde des Parlamentes entsprechendes Arbeiten zu gewährleisten. Zur Sicherung der Funktionsfähigkeit des Landtages könnten auch die durch die Verfassung garantierten Statusrechte des einzelnen Abgeordneten durch die Geschäftsordnung eingeschränkt werden. Auch eine Einschränkung des Rederechts sei zulässig, allerdings nur, wenn und soweit andere Rechtsgüter von Verfassungsrang eine Einschränkung zu rechtfertigen vermögen.

 

Bei der Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe des § 34 Abs. 1 GO-LT einer Eignung zur Verletzung der parlamentarischen Ordnung, ihrer Anwendung auf den Einzelfall und der Gewichtung eines erkannten Verstoßes komme dem Präsidenten ein Beurteilungsspielraum zu. Wegen des spezifischen Charakters des parlamentarischen Willensbildungsprozesses verbiete sich insoweit eine umfassende verfassungsgerichtliche Kontrolle in der Art der Überprüfung eines Verwaltungsakts.

 

Der Begriff der parlamentarischen Ordnung sei nicht allein auf den Ablauf der Plenarsitzung und unmittelbare Störungen der Beratungen und der politischen Diskussion im Parlament zu begrenzen. Vielmehr seien auch die Werte und Verhaltensweisen zu berücksichtigen, die sich in der demokratischen und vom Repräsentationsgedanken getragenen parlamentarischen Praxis entwickelt hätten. Das Parlament sei berechtigt, seine Mitglieder auf die Wahrung des Ansehens des Landtages im Sinne eines von gegenseitigem Respekt getragenen Diskurses zu verpflichten. Es dürfe deshalb Verstöße sanktionieren, wo es dieses Ansehen gefährdet oder verletzt sehe, etwa weil das Verhalten eines Abgeordneten erkennen lasse, dass er den notwendigen Respekt gegenüber den übrigen Parlamentariern oder der Sitzungsleitung vermissen lasse und damit zwangsläufig auch das Ansehen des Hauses nach außen beschädige. Die Frage der zu wahrenden parlamentarischen Höflichkeitsformen betreffe das Binnenverhältnis des Landtages in seinem Kernbereich. Grundlegende Abgeordnetenrechte wie das Rederecht würden hierdurch regelmäßig nur am Rande berührt.

 

Der Versuch des Antragstellers, den Begriff „Lügner“ als zugespitzte, gegebenenfalls polemische, jedenfalls aber zulässige Äußerung darzustellen, sei nicht tragfähig. Das Auseinanderfallen von Tatsachendarstellungen oder Verhaltensweisen umfasse eine große Bandbreite von Bezeichnungen. Der Begriff der Lüge sei mit einem ethischen Unwerturteil verbunden. Eine „Lügner“ täusche seine Adressaten nicht nur, sondern handele absichtlich. Die Verwendung der Personifizierung impliziere zudem, dass die Person die Neigung zur Lüge als Charaktereigenschaft habe. Eine solche Qualifizierung würdige den Adressaten ethisch-moralisch herab. Dies gehöre nicht mehr zu den parlamentarischen Gepflogenheiten, auch wenn zu diesen gehöre, eine Auffassung des politischen Konkurrenten mit sachbezogenen, auch scharfen oder polemischen Argumenten, zu bekämpfen.

 

Auch sei zu bedenken, dass vorliegend zur mildesten Form der Ordnungsmaßnahmen nach der Geschäftsordnung gegriffen worden sei.

 

IV.

Der Landtag Brandenburg und die Landesregierung erhielten Gelegenheit zur Stellungnahme.

 

B.

Soweit der Antragsteller den Antrag gegen den Antragsgegner zu 2. zurückgenommen hat, ist das Verfahren gemäß § 13 Abs. 1 Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg (VerfGGBbg) i. V. m. § 92 Abs. 3 Verwaltungsgerichtsordnung einzustellen.

 

C.

Der verbleibende, gegen die Antragsgegnerin zu 1. gerichtete Antrag ist zulässig, aber unbegründet.

 

I.

1. Der Rechtsweg zum Verfassungsgericht ist gemäß Art. 113 Nr. 1 LV, § 12 Nr. 1 VerfGGBbg gegeben.

 

2. Der Antragsteller ist als Abgeordneter, der gemäß Art. 56 LV mit eigenen Rechten ausgestattet ist, nach Art. 113 Nr. 1 LV und § 35 i. V. m. § 12 Nr. 1 VerfGGBbg im Organstreitverfahren beteiligtenfähig.

 

Die Beteiligtenfähigkeit der Antragsgegnerin zu 1. ergibt sich aus ihrer Rechtsstellung nach § 69 LV und der Geschäftsordnung des Landtages Brandenburg (GO-LT). Sie ist Organ des Landtags und kann mit der Behauptung in Anspruch genommen werden, sie habe bei der Ausübung der Ordnungsgewalt den verfassungsrechtlichen Status eines Abgeordneten verletzt (vgl. BVerfGE 60, 374, 379 m. w. Nachw.). Das Plenum des Landtags hat die ihm aufgrund der Geschäftsordnungsautonomie (Art. 68 LV) zustehende Ordnungsgewalt gemäß § 12 Abs. 2 Satz 1, §§ 33 ff GO-LT auf die Antragsgegnerin zu 1. delegiert, so dass sie die Ordnungsgewalt kraft Übertragung in eigener Verantwortung und unabhängig ausübt (vgl. Ritzel/Bücker/Schrei­ner, Handbuch für die parlamentarische Praxis, Stand: Dezember 2014, Vorb. zu §§ 36-41 Anm. 4. a)).

 

3. Antragsteller und Antragsgegnerin zu 1. stehen auch in einem für die verfassungsgerichtliche Überprüfung im Organstreitverfahren erforderlichen streitigen verfassungsrechtlich geprägten Rechtsverhältnis zueinander, denn zwischen ihnen besteht Streit über den Umfang der Rechte und Pflichten aus dem Abgeordnetenstatus einerseits und aus der parlamentarischen Ordnungs- oder Disziplinargewalt der Präsidentin andererseits.

 

4. Der Antragsteller ist gemäß § 36 Abs. 1 VerfGGBbg antragsbefugt. Dies ergibt sich aus Art. 56 Abs. 2 Satz 1 LV, denn die Frage, ob ein Abgeordneter wegen einer Äußerung in einer Plenardebatte mit einer Ordnungsmaßnahme belegt werden darf, berührt regelmäßig die darin verbürgte Redefreiheit (vgl. Beschluss vom 28. März 2001 - VfGBbg 46/00 -, LVerfGE 12, 92, 100; BVerfGE 60, 374 ff).

 

Ein Abgeordneter kann im verfassungsrechtlichen Organstreitverfahren allerdings nur eine Verletzung der Rechte geltend machen, die mit seinem Status als Abgeordneter verfassungsrechtlich verbunden sind. Soweit sich der Antragsteller auch auf die Meinungsfreiheit (Art. 19 LV) und den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 12 LV) berufen hat, sind diese Grundrechte von vornherein nicht geeignet, die Antragsbefugnis im Organstreitverfahren zu begründen. Sie schützen den Bürger, während den Abgeordneten Art. 56 Abs. 2 LV bei Wahrnehmung seiner politischen Aufgabe absichert.

 

5. Das auch im Organstreitverfahren erforderliche Rechtsschutzbedürfnis (vgl. Beschluss vom 20. Februar 2003 - VfGBbg 112/02 -, LVerfGE 14, 139, 141 m. w. Nachw.) ist gegeben.

 

Parlamentarisches Handeln darf nicht durch einen verfassungsgerichtlichen Organstreit ersetzt werden, wenn der Träger verfassungsmäßiger Rechte diese auf parlamentarischem Weg genauso effektiv durchsetzen kann wie mit Hilfe des Verfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 68, 1, 77). Alternative und in ihrer Effektivität gleichwertige parlamentarische Rechtsschutzmöglichkeiten bestehen für den Antragsteller jedoch nicht. Das Einspruchsverfahren gemäß § 36 GO-LT hat er erfolglos durchgeführt.

 

Für das Rechtsschutzinteresse ist unerheblich, dass der Ordnungsruf erst nach dem Wortbeitrag des Antragstellers ausgesprochen wurde und deshalb keine Grundlage mehr für weitere Maßnahmen der Ordnungsgewalt der Antragsgegnerin zu 1. hätte sein können. Ein förmlicher Ordnungsruf ist stets ein rechtserheblicher Eingriff in das durch Art. 56 Abs. 2 Satz 1 LV garantierte Rederecht der Abgeordneten, und zwar unabhängig davon, ob er zur Grundlage weiterer ordnungsrechtlicher Maßnahmen wurde oder werden konnte. Dies folgt schon aus seinem disziplinarrechtlichen Charakter (vgl. BVerfGE 80, 188; Bücker, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, § 34 Rn. 3). Ein Ordnungsruf ist darauf gerichtet, betroffene Abgeordnete nicht nur für zurückliegendes Verhalten zu tadeln, sondern sie auch durch die öffentliche und förmliche Aussprache des Tadels im künftigen Verhalten bei der Ausübung des Rederechts im Sinne des Ordnungsrufs zu beeinflussen. Der Ordnungsruf ist durch den Landtag in seiner Geschäftsordnung rechtsförmig ausgestaltet worden, indem nach § 36 GO-LT hiergegen ein Einspruchsverfahren möglich ist. Im Hinblick auf die Justiziabilität eines Ordnungsrufes nach § 34 Abs. 1 Satz 1 GO-LT kommt es daher weder auf seinen genauen Zeitpunkt noch auf die Frage an, ob er Grundlage weiterer Sanktionen wurde (vgl. LVerfG SH, Urteil vom 17. Mai 2017 - LVerfG 1/17 -, juris Rn. 29 f).

 

Dem Rechtsschutzbedürfnis steht auch nicht entgegen, dass der Ordnungsruf durch das Organstreitverfahren nicht wieder rückgängig gemacht werden kann und er nach Ende der fraglichen Sitzung erledigt war. Denn im Organstreitverfahren geht es nicht nur um die Durchsetzung der verfassungsmäßigen Rechte des Antragstellers, sondern auch um die objektive Klärung der zwischen den beteiligten Organen umstrittenen verfassungsrechtlichen Fragen. Können - wie vorliegend - weitere Fälle dieser Art nicht nur theoretisch in Betracht kommen, kann sich ein vergleichbarer Streit also jederzeit wiederholen, besteht im Organstreitverfahren das erforderliche Rechtschutzbedürfnis des Antragstellers selbst dann, wenn die angegriffene Maßnahme selbst inzwischen keine konkreten Wirkungen mehr entfaltet (vgl. Beschluss vom 20. Februar 2003 - VfGBbg 112/02 -, LVerfGE 14, 139, 141; Urteil vom 16. Oktober 2003 - VfGBbg 95/02 -, LVerfGE 14, 179, 186 f; Urteil vom 19. Februar 2016 - VfGBbg 57/15 -, www.verfassungsgericht.brandenburg.de).

 

6. Mit dem am 15. September 2016 eingegangenen Antrag wahrt der Antragsteller die Sechsmonatsfrist des § 36 Abs. 3 VerfGGBbg bezüglich der am 8. Juni 2016 ausgesprochenen Ordnungsmaßnahme.

 

II.

Der dem Antragsteller in der 29. Plenarsitzung des Landtages Brandenburg am 8. Juni 2016 erteilte Ordnungsruf verletzt ihn nicht in seinen durch Art. 56 Abs. 2 Satz 1 der Verfassung des Landes Brandenburg (LV) gesicherten Abgeordnetenrechten.

 

1. Nach Art. 56 Abs. 2 Satz 1 LV haben die Abgeordneten das Recht, im Landtag und seinen Ausschüssen das Wort zu ergreifen, Fragen und Anträge zu stellen sowie bei Wahlen und Beschlüssen ihre Stimme abzugeben. Die Redebefugnis, welche die brandenburgische Verfassung damit ausdrücklich einräumt, sichert die Ausübung des freien Mandats des Abgeordneten (Art. 56 Abs. 1 Satz 1 LV) und gehört zum Grundbestand seiner Statusrechte (Lieber, in: Lieber/Iwers/Ernst, LV, 2012, Art. 56 Abm. 2.1).

 

a. Die Abgeordneten repräsentieren in ihrer Gesamtheit das Volk und nehmen die Rechte des Landtags in der Gesamtheit seiner Mitglieder wahr (vgl. BVerfGE 80, 188, 218; E 104, 310, 329). In der repräsentativen Demokratie stellt das Rederecht des Abgeordneten eine unverzichtbare Befugnis zur Wahrnehmung seiner parlamentarischen Aufgaben dar, die seinen Status wesentlich mitbestimmt (vgl. BVerfGE 10, 4, 12; E 60, 374, 380; E 80, 188, 218). Jedem Abgeordneten kommt danach das Recht zu, Gegenstände im Landtag und seinen Ausschüssen zu beraten und seine Anliegen in den parlamentarischen Entscheidungsprozess einzubringen (vgl. BVerfGE 125, 104, 123; BayVerfGH, Entscheidung vom 17. Februar 1998 - Vf. 81-IVa-96 -, NVwZ-RR 1998, 409). Die Beratung im Plenum des Landtags wie in seinen Ausschüssen setzt die Auseinandersetzung in Rede und Gegenrede voraus. Das Rederecht ist insoweit nicht Ausdruck der Meinungsfreiheit des Abgeordneten; seine Reichweite muss daher mit der der Meinungsfreiheit nicht übereinstimmen (vgl. BVerfGE 60, 374, 380).

 

b. Der Schutz des Rederechts gilt jedoch nicht absolut. Denn der Status des Abgeordneten ist eingebunden in die vom Parlament sowohl im Interesse der Arbeitsfähigkeit als auch im Interesse der zur Verhandlung stehenden Gegenstände gesetzten Schranken (vgl. Badura, in: Bonner Kommentar zum GG, Stand: Mai 2017, Art. 38 Rn. 61; Bücker, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 34 Rn. 10). Die Repräsentations‐ und die Funktionsfähigkeit des Parlaments sind Rechtsgüter von Verfassungsrang, die eine Begrenzung der Freiheit des Mandats und damit der Redefreiheit begründen können (vgl. BVerfGE 80, 188, 219, 222; E 84, 304, 321; E 99, 19, 32). Das Rederecht unterliegt demgemäß nach Art. 56 Abs. 2 Satz 3 LV der Ausgestaltung durch die vom Landtag im Rahmen seiner Geschäftsordnungsautonomie (Art. 68 LV) geschaffenen Regeln (vgl. Urteil vom 17. September 2009 - VfGBbg 45/08 -, www.verfassungsgericht.brandenburg.de; BVerfGE 10, 4, 13; Achterberg, Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, 1966, S. 74). Diese ist Ausprägung der Parlamentsautonomie, die ihrerseits Ausdruck der Gewaltenteilung ist und die Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Volksvertretung von anderen Verfassungsorganen sichern soll (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 19. August 2002 - VGH O 3/02 -, NVwZ 2003, 75, 76; Morlok, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 40 Rn. 5; Magiera, in Sachs, GG, 7. Aufl. 2014, Art. 40 Rn. 1).

 

aa. Das Recht des Parlaments, seine Geschäftsordnungsangelegenheiten autonom zu regeln, berechtigt den Landtag, sich selbst zu organisieren und die zur sachgerechten Erfüllung seiner Aufgaben notwendigen Regelungen zu schaffen. Weil die Statusrechte der Abgeordneten nur als Mitgliedschaftsrechte bestehen und verwirklicht werden können und daher einander zugeordnet und aufeinander abgestimmt werden müssen, damit das Parlament seine Aufgaben erfüllen kann, wird die Ausübung dieser Rechte durch die jeweils gleichen Rechte aller anderen Abgeordneten und die Funktionsfähigkeit des Parlaments insgesamt beschränkt. Denn die Rechte des einzelnen Abgeordneten müssen sich als Mitgliedschaftsrechte in die notwendig gemeinschaftliche Ausübung einfügen. Die Geschäftsordnung setzt dafür grundlegende Bedingungen und schafft den notwendigen Rahmen für die geordnete Wahrnehmung der Abgeordnetenrechte (vgl. BVerfGE 80, 188, 218 f; Schürmann, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, 2016, § 20 Rn. 59; Butzer, in: Epping/Hillgruber, BeckOK-GG, Stand: März 2017, Art. 38 Rn. 121).

 

Das Geschäftsordnungsautonomie erstreckt sich traditionell auf die Bereiche „Geschäftsgang“ und „Ordnung“ (vgl. Urteil vom 17. September 2009 - VfGBbg 45/08 -, LKV 2009, 517; BVerfGE 44, 308, 314 f; E 80, 188, 218 f) und berechtigt das Parlament zum Erlass sämtlicher von ihm für notwendig erachteten Regeln, um ein ordnungsgemäßes Arbeiten zu gewährleisten, was nicht zuletzt die Befugnis einschließt, die zur Beseitigung von Störungen im Plenarsaal erforderlichen Normen aufzustellen. Dabei hat der Landtag einen weiten Gestaltungsspielraum, welche Regeln es für die Organisation seiner Arbeit, den Ablauf der Verhandlungen, den Umgang seiner Mitglieder miteinander und im Verhältnis zur Sitzungsleitung für sachgerecht und erforderlich hält (vgl. BVerfGE 80, 188, 220; LVerfG MV, Urteil vom 29. Januar 2009 - LVerfG 5/08 -, LVerfGE 20, 255, 264 f).

 

Die Bestimmungen der Geschäftsordnung ebenso wie ihre Anwendung im Einzelfall müssen sich aber an ihrem von der Verfassung vorausgesetzten Zweck orientieren, dass sich das Parlament durch die Geschäftsordnung in den Stand setzt, seine Aufgaben zu erfüllen. Gerade auch für die nach der Geschäftsordnung möglichen Ordnungsmaßnahmen bedeutet dies, dass sie allein zulässig sind, wenn sie zur Gewährleistung der Arbeitsfähigkeit nötig sind. Dabei umfasst die Arbeitsfähigkeit zum einen die Gewährleistung eines sachgerechten und sachbezogenen, ordnungsgemäßen Beratungsgangs und der Entscheidungsfähigkeit des Plenums insgesamt (vgl. Dicke, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 40 Rn. 16; Butzer, in: Epping/Hillgruber, BeckOK-GG, Art. 38 Rn. 122). Zum anderen kann ein Parlament, das zur Wahrnehmung der Repräsentation berufen ist (Art. 55 Abs. 1, Art. 56 Abs. 1 Satz 1 LV), seine Aufgaben nur dann erfüllen, wenn ihm Ansehen, Respekt und Akzeptanz gerade auch der Wählerschaft als der Gesamtheit der Repräsentierten entgegengebracht wird und es als ein besonderer, herausgehobener Ort der Entscheidungsfindung erkannt wird. Integrität und politische Vertrauenswürdigkeit der Volksvertretung zählen somit gleichermaßen zu den schützenswerten Grundlagen parlamentarischer Arbeit (vgl. Schürmann, in: Morlok/Schlie­sky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 20 Rn. 59; Ritzel/Bü­cker/Schreiner, Handbuch für die parlamentarische Praxis, Stand: November 2016, Vorbem. zu §§ 36-41 Anm. 1. b); Badura, in: Bonner Kommentar, Art. 38 Rn. 61; Wiese, AöR 101 (1976), 548, 561). In diesem Sinne ist auch die „Würde des Landtages“ Bestandteil der parlamentarischen Ordnung. Dies zu wahren, ist eine Aufgabe, die dem Parlament selbst und damit jedem einzelnen seiner Mitglieder gestellt ist (vgl. LVerfG MV, Urteil vom 11. Juli 1996 - LVerfG 1/96 -, LVerfGE 5, 203, 225); § 12 Abs. 2 Satz 1 GO-LT nimmt die Landtagspräsidentin zu ihrer Wahrung dementsprechend ausdrücklich in die Pflicht.

 

Zu den vom Parlament zu beachtenden verfassungsrechtlichen Vorgaben gehören die Rechts- und Verfahrenspositionen des einzelnen Abgeordneten. Das Parlament darf diese Rechte ausgestalten, aber nicht substantiell in Frage stellen (vgl. Urteil vom 17. September 2009 - VfGBbg 45/08 -, www.verfassungsgericht.branden­burg.de; Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: September 2016, Art. 38 Rn. 220). Jeder Abgeordnete muss befähigt bleiben, effektiv an den Verhandlungen und Entscheidungen des Landtages mitwirken zu können (vgl. Morlok, in: Dreier, GG, Art. 38 Rn. 162)

 

bb. Entsprechend der langwährenden Tradition des Parlamentsrechts (vgl. im Einzelnen: Franke, Ordnungsmaßnahmen der Parlamente, 1990, S. 13 ff) enthält die hier maßgebliche Geschäftsordnung des Landtages Brandenburg vom 24. März 2015 (GVBl. I Nr. 8) ein gegliedertes Instrumentarium von Interventionsmöglichkeiten der Präsidentin des Landtages (§§ 33 ff GO-LT), das in seiner Ausdifferenzierung einen ausgewogenen Ausgleich zwischen dem Rederecht des Abgeordneten und den übrigen zu berücksichtigenden Rechtsgütern ermöglicht (vgl. Ritzel/Bü­cker/Schreiner, Handbuch für die Parlamentarische Praxis, Vorbem. zu §§ 36-41 Anm. 1. c)).

 

(1) Der von der Antragsgegnerin zu 1. angewandte § 34 Abs. 1 Satz 1 GO-LT begegnet als solcher insoweit keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Nach der Bestimmung ruft die Präsidentin, wenn sie Ordnungsverletzungen oder Redewendungen feststellt, die geeignet sind, die parlamentarische Ordnung zu verletzen, das betreffende Mitglied des Landtages unter Nennung des Namens zur Ordnung. Denn es lässt sich nicht feststellen, dass die Möglichkeit, einem Abgeordneten einen Ordnungsruf zu erteilen, mit dessen Parlamentarierrechten schlechthin unvereinbar wäre (vgl. zu den Grenzen der Gestaltungsbefugnis: Achterberg, Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, S. 71 ff).

 

(2) Dabei kommt der Unterscheidung in § 34 Abs. 1 Satz 1 GO-LT zwischen „Ordnungsverletzungen“ und „Redewendungen, die geeignet sind, die parlamentarische Ordnung zu verletzen“, keine ausschlaggebende Bedeutung zu, wie sich aus der historischen Entwicklung der Ordnungsmaßnahmen und den hiermit verbundenen Vorstellungen des Landtages, auf die es angesichts der Geschäftsordnungsautonomie maßgeblich ankommt, ergibt. Die aktuell geltende Fassung geht zurück auf die Novellierung der Geschäftsordnung durch den 4. Landtag. Dessen Hauptausschuss schlug eine Neuordnung des bis dahin bestehenden Stufenmodells der Ordnungsmaßnahmen vor, das ursprünglich seit der Vorläufigen Geschäftsordnung vom 26. Oktober 1990 einerseits dem Präsidenten des Landtags für den Fall, dass dieser Redewendungen feststellte, die geeignet sind, die parlamentarische Ordnung zu verletzen, die Befugnis einräumte, den Redner zu ermahnen oder eine Rüge zu erteilen, und andererseits den Ordnungsruf für den Fall vorsah, dass der Präsident Ordnungsverletzungen feststellte. Den Vorschlag, die bisherigen Absätze 1 und 2 des § 34 zusammenzuziehen (LT-Ds. 4/400 S. 25), begründete der Hauptausschuss damit, dass die Tatbestände, die eine nach den bis dahin bestehenden Bestimmungen der Geschäftsordnung sanktionslose Rüge rechtfertigten, unter den Sammelbegriff „Ordnungsverletzung“ subsumiert werden könnten, so dass die Rüge entfallen könne und Redewendungen, die die parlamentarische Ordnung verletzten, unmittelbar einen Ordnungsruf zur Folge hätten (vgl. Hauptausschuss, Ausschussprotokoll 4/57 vom 13. Januar 2005, Anlage III S. 8). Das Plenum schloss sich diesem Vorschlag an (Pl.Pr. 4/8 vom 19. Januar 2005, S. 448; s. auch GVBl. 2005 I S. 6). Sowohl der 5. als auch der 6. Landtag übernahmen diese neugefasste Bestimmung (vgl. § 34 der Geschäftsordnung vom 11. Mai 2010 (GVBl. I Nr. 19), § 34 der Geschäftsordnung vom 24. März 2015 (GVBl. I Nr. 8)).

 

(3) Die parlamentarische Ordnung, deren Verletzung demnach die Erteilung eines Ordnungsrufes voraussetzt, ist ein unbestimmter, ausfüllungsbedürftiger Rechtsbegriff. Seine nähere Bestimmung hat maßgeblich von der dargelegten Zwecksetzung der Ordnungsmaßnahmen der Geschäftsordnung auszugehen, da er sich angesichts der Vielgestaltigkeit parlamentarischer Verhandlungsabläufe, der großen Bandbreite der Randbedingungen der jeweiligen Debatte und demzufolge der Vielzahl möglicher Ordnungsverletzungen einer abstrakten Erfassung entzieht (vgl. Zeh, in: Isensee/ Kirch­hof, HdbStR, Bd. 3, 3. Aufl. 2005, § 53 Rn. 36; Franke, Ordnungsmaßnahmen der Parlamente, 1990, S. 68; Jacobs, DÖV 2016, 563, 566). Deskriptiv lassen sich darunter die geschriebenen und ungeschriebenen Regeln des Parlamentsrechts zum innerparlamentarischen Geschäftsgang ebenso fassen wie Werte und Verhaltensweisen, die sich in der demokratischen und vom Repräsentationsgedanken getragenen parlamentarischen Praxis entwickelt haben und die durch die historische und politische Entwicklung geformt worden sind (vgl. LVerfG MV, Urteil vom 29. Januar 2009 - LVerfG 5/08 -, LVerfGE 20, 255, 265; Schürmann, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 20 Rn. 59; Köhler, Die Rechtsstellung der Parlamentspräsidenten, S. 167; Borowy, ZParl 2012, 635, 637 f).

 

Eine Verletzung liegt vor, wenn gegen die parlamentarische Ordnung durch Äußerungen oder Handlungen, die den parlamentarischen Regeln widersprechen und das Ansehen des Parlamentes zu schädigen geeignet sind, verstoßen wird. Ein Verhalten eines Abgeordneten, das einen Mindeststandard im Umgang der Parlamentarier miteinander unterschreitet und erkennen lässt, dass der für eine sachbezogene Arbeit notwendige Respekt gegenüber den übrigen Parlamentariern oder der Sitzungsleitung verwehrt und damit zwangsläufig auch das Ansehen des Hauses nach außen beschädigt wird, fällt darunter (vgl. LVerfG MV, Urteil vom 27. Januar 2011 - LVerfG 4/09 -, juris Rn. 31; Brandt/Gosewinkel, ZRP 1986, 33, 36). Die Bestimmungen über Ordnungsmaßnahmen eröffnen dem amtierenden Parlamentspräsidenten demnach insbesondere auch dann die Befugnisse zum Eingriff, sofern und sobald die Verhandlungen des Landtags den Boden der Sachlichkeit verlassen und persönlich werden oder die reibungslose Durchführung der Sitzung durch störende Einwirkungen bedroht sind (vgl. Köhler, Rechtsstellung der Parlamentspräsidenten, S. 176; Rothaug, Die Leitungskompetenz des Bundestagspräsidenten, 1979, S. 62). Dabei ist zu berücksichtigen, dass Redebeiträge schon aufgrund ihres Wortlauts Raum für verschiedene Deutungsmöglichkeiten eröffnen können. Die Anwendung von Ordnungsmaßnahmen darf daher nicht von vornherein Deutungen zugrunde legen, die die Ordnungsmaßnahmen rechtfertigen, wenn auch andere Deutungen möglich sind, wobei freilich dem situativen Charakter der mündlichen Rede und der Notwendigkeit der zeitnahen Reaktion des Präsidenten hinreichend Rechnung zu tragen ist (vgl. VerfGH Sachsen, Urteil vom 3. Dezember 2010 - Vf. 12-I-10 -, juris Rn. 58; Urteil vom 3. November 2011 - Vf. 30-I-11 -, NVwZ-RR 2012, 89, 90; Schürmann, in: Morlok/Schliesky/Wiefel­spütz, Parlamentsrecht, § 20 Rn. 61).

 

cc. Liegt eine Verletzung der parlamentarischen Ordnung durch einen Abgeordneten vor, steht die Ausübung der Ordnungsmaßnahme nach dem Wortlaut des § 34 Abs. 1 Satz 1 GO-LT nicht im Ermessen der Antragsgegnerin zu 1., vielmehr ist das betreffende Mitglied des Landtags unter Nennung des Namens zur Ordnung zu rufen.

 

Die Ausübung der Ordnungsbefugnisse durch den sitzungsleitenden Landtagspräsidenten muss aber, da auch dessen Tätigkeit dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 2 Abs. 1 LV unterworfen ist, den Maßgaben des Verhältnismäßigkeitsprinzips genügen (vgl. Bücker, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 34 Rn. 10; Franke, Ordnungsmaßnahmen der Parlamente, S. 70). Dies erfordert namentlich bei an der Äußerung eines Abgeordneten anknüpfenden Ordnungsmaßnahmen die Berücksichtigung der Bedeutung des Rederechts für die repräsentative Demokratie und die Funktionsfähigkeit des Parlaments. Das Parlament ist das maßgebliche Forum für die Öffentlichkeit der politischen Willensbildung und als solches der Ort von Rede und Gegenrede, der Darstellung unterschiedlicher Perspektiven und der Formulierung anderer, von der Mehrheit nicht getragener Sichtweisen. Darin gründet seine Repräsentationsfunktion, die eine - wenn nicht die - Grundfunktion des Parlaments ist (vgl. Meyer, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht, § 4 Rn. 11; Brenner, in: Isensee/Kirch­hof, HdbStR, Bd. 3, § 44 Rn. 39). Insoweit ist das Parlament der Raum für Interessendarstellung, Interessenvermittlung und Kontrolle. Der Widerstreit der politischen Positionen auf diesem Forum der Repräsentation lebt nicht zuletzt von Debatten, die auch mit Stilmitteln wie Überspitzung, Polarisierung, Vereinfachung oder Polemik arbeiten (vgl. VerfGH Sachsen, Urteil vom 3. Dezember 2010 - Vf. 12-I-10 -, juris Rn. 55).

 

Das Ordnungsrecht des Landtags ist im Lichte dieser mit der Repräsentationsfunktion zusammenhängenden Bedeutung des Rederechts kein Instrumentarium zur Ausschließung bestimmter inhaltlicher Positionen aus der parlamentarischen Debatte. Vielmehr ist das Parlament seinerseits das Forum des Austragens inhaltlicher Meinungsverschiedenheiten. Diese sind so lange hinzunehmen, wie ihre Darstellung nicht in einer Weise geschieht, die die Arbeit des Landtags und damit seine Ordnung in Frage stellt. Je mehr die inhaltliche Auseinandersetzung im Vordergrund steht, je gewichtiger die mit dem Redebeitrag thematisierten Fragen für das Parlament und die Öffentlichkeit sind und je intensiver diese politische Auseinandersetzung geführt wird, desto eher müssen konkurrierende Rechtsgüter hinter dem Rederecht zurückstehen. Die Grenzen des Rederechts sind aber jedenfalls dort erreicht, wo es sich nicht mehr um eine inhaltliche Auseinandersetzung handelt, sondern eine bloße Provokation im Vordergrund steht oder wo es um die schiere Herabwürdigung Anderer oder die Verletzung von Rechtsgütern Dritter geht (vgl. VerfGH Sachsen, Urteil vom 3. Dezember 2010 - Vf. 12-I-10 -, juris Rn. 56; VerfGH Sachsen, Urteil vom 3. No­vember 2011 - Vf. 30-I-11 -, NVwZ-RR 2012, 89, 90; LVerfG MV, Urteil vom 29. Ja­nuar 2009 - LVerfG 5/08 -, LVerfGE 20, 255, 266). Tragfähige Anhaltspunkte hierfür stellen nicht zuletzt die Tatbestände der §§ 185 bis 189 Strafgesetzbuch (StGB) dar, ohne dass es darauf ankäme, dass eine Beleidigung (ungeachtet des Immunitäts- und Indemnitätsschutzes) auch bestraft werden könnte (vgl. Ritzel/Bücker/Schreiner, Handbuch für die parlamentarische Praxis, Vorbem. zu §§ 36-41 Anm. 1. c) aa); Franke, Ordnungsmaßnahmen der Parlamente, S. 77 f).

 

dd. Das Spannungsverhältnis, in das die Maßnahmen des parlamentarischen Ordnungsrechts eingebunden sind, hat auch Auswirkungen auf die Reichweite der verfassungsgerichtlichen Prüfung eines Ordnungsrufs in einem Organstreitverfahren.

 

Im Hinblick auf den Tatbestand des Ordnungsrufs nach § 34 Abs. 1 Satz 1 GO-LT, d. h. ob eine Verletzung der parlamentarischen Ordnung vorliegt, ist der Antragsgegnerin zu 1. ein im Organstreit nur begrenzt überprüfbarer Beurteilungsspielraum eröffnet. Dieser gründet maßgeblich auf dem Rechtsgedanken der Parlamentsautonomie, die das Verfassungsgericht zu respektieren hat. Die Regelung der parlamentarischen Ordnungsgewalt in der jeweiligen Geschäftsordnung ist, auch hinsichtlich der Ausgestaltung um Einzelnen, Ausdruck der von anderen Trägern staatlicher Gewalt unabhängigen Stellung des Parlaments als Verfassungsorgan. Diese Autonomie zur Gestaltung der parlamentsinternen Abläufe bezieht sich aber nicht nur auf die Schaffung der maßgeblichen Bestimmungen selbst, sondern erfasst auch deren Konkretisierung, allgemeine Auslegung und Anwendung im jeweiligen Einzelfall. Denn schon infolge der Einbeziehung ungeschriebener Regeln der Parlamentspraxis in die parlamentarische Ordnung ist die Rezeption und Auslegung dieses unbestimmten Rechtsbegriffs als Ausdruck organschaftlicher Selbstregulierung zu allererst Sache des Parlaments und seiner Organe. Nicht minder relevant ist der Umstand, dass die Einordnung des Verhaltens eines Abgeordneten als Ordnungsverletzung immer der wertenden Betrachtung im Hinblick auf Ablauf und Atmosphäre der jeweiligen Sitzung bedarf, damit stark situativ bedingt ist, was einer nachvollziehenden gerichtlichen Überprüfung auch unter Berücksichtigung von Plenarprotokollen und audiovisueller Aufzeichnungen erkennbare Grenzen zieht (vgl. LVerfG MV, Urteil vom 29. Januar 2009 - LVerfG 5/08 -, LVerfGE 20, 255, 267; VerfGH Sachsen, Urteil vom 3. November 2011 - Vf. 30-1-11 -, NVwZ-RR 2012, 89, 90; LVerfG SH, Urteil vom 17. Mai 2017 - LVerfG 1/17 -, juris Rn. 43; Schürmann, in: Morlok/Schliesky/Wiefels­pütz, Parlamentsrecht, § 20 Rn. 64; Ritzel/Bücker/Schreiner, Handbuch für die parlamentarische Praxis, § 36 Rn. 2b; Bücker, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, § 34 Rn. 21; Franke, Ordnungsmaßnahmen der Parlamente, S. 146). Daher beschränkt sich insoweit die Prüfung des Verfassungsgerichts darauf, ob bei der Erteilung des Ordnungsrufes bestehende Verfahrensbestimmungen eingehalten worden sind, von einem erkennbar fehlsamen Verständnis der relevanten anzuwendenden Rechtsbegriffe ausgegangen und ein zutreffender Sachverhalt zugrunde gelegt wurde, ob die allgemein gültigen Wertungsmaßstäbe eingehalten wurden und das Willkürverbot nicht verletzt wurde.

 

Mit Blick auf die Verhältnismäßigkeit des erteilten Ordnungsrufs ist angesichts der Bedeutung des Rederechts eines Abgeordneten im demokratischen Prozess zu prüfen, ob das Rederecht abwägend berücksichtigt wurde und ob es in seinem im konkreten Fall zuzubilligenden Gewicht gegenüber der Schwere der gewählten Ordnungsmaßnahme eingestellt worden ist. Wegen des zugleich repressiven wie auch präventiven Charakters des Ordnungsrufs kann es aber auch dabei lediglich um die Verhängung einer angemessenen, nicht hingegen um die Wahl der mildesten Sanktion gehen.

 

2. Ausgehend von diesen Prämissen ist eine Verletzung des Abgeordnetenstatus des Antragstellers durch den Ordnungsruf vom 8. Juni 2016 nicht festzustellen.

 

a. Die Einordnung der Äußerung des Antragstellers, die Abgeordneten der Fraktion DIE LINKE seien „überwiegend Lügner“, als Verletzung der parlamentarischen Ordnung lässt einen Verstoß gegen die Landesverfassung nicht erkennen.

 

Ein Verstoß gegen verfahrensrechtliche Bestimmungen ist ebenso wenig erkennbar wie die Zugrundelegung eines falschen Sachverhalts. Für Letzteres lässt sich insbesondere nicht die Äußerung des Vizepräsidenten im Zusammenhang mit dem Ordnungsruf anführen, einer anderen Meinung zu sein bedeute nicht, dass man andere als Lügner bezeichnen dürfe. Der Vizepräsident hat die Debatte geleitet und die Äußerung des Antragstellers und deren Kontext selbst gehört, wie die ausdrückliche Zitierung der Worte des Antragstellers offenbart. Die Aussage des Sitzungsleiters spricht - entgegen der Einschätzung des Antragstellers - nach ihrem Wortlaut und dem Kontext („… nicht meine Aufgabe, Sie zu belehren …“) dafür, sie im Sinne einer Ermahnung zu verstehen, dass auch den Abgeordneten vom entgegengesetzten Ende des politischen Spektrums ein Mindestmaß an Respekt in einer Plenardebatte entgegenzubringen ist.

 

Für ein erkennbar fehlerhaftes Verständnis des Begriffs der parlamentarischen Ordnung ist bei der Entscheidung des Vizepräsidenten zur Formulierung des Antragstellers kein Anhaltspunkt deutlich geworden. Ausschlaggebender Anlass für die Ordnungsmaßnahme war erkennbar die nach Einschätzung des sitzungsleitendenden Vizepräsidenten in der Wortwahl des Antragstellers zum Ausdruck kommende Haltung, den angesprochenen Parlamentariern des Fraktion DIE LINKE durch die Zuschreibung bewusst unwahrer Aussagen in der Vergangenheit das Mindestmaß an Achtung und Rücksicht zu versagen, die Grundlage für eine sachgemäße Auseinandersetzung über zu behandelnde Sachthemen ist, und damit das Ansehen des Landtags nach außen sowie zugleich dessen Arbeitsfähigkeit zu gefährden. Dies bewegt sich im oben dargestellten Bedeutungsrahmen.

 

Es entspricht im Übrigen auch einer langwährenden Tradition der Parlamente in Deutschland, gerade den Begriff „Lügner“ in Bezug auf andere Abgeordnete wegen seines diffamierenden Charakters als außerhalb des für den sachbezogenen Umgang innerhalb des Parlaments herausgebildeten Sprachgebrauchs einzustufen, der zu Ordnungsmaßnahmen Anlass gibt. Das gilt für den Bundestag wie für die Parlamente der Bundesländer (vgl. u. a. Bundestag, Plenarprotokolle Nr. 1/252 vom 4. März 1953 S. 12091 A, Nr. 7/88 vom 21. März 1974 S. 5797 A, Nr. 10/220 vom 6. Juni 1986 S. 17061 A oder Nr. 13/87 vom 9. Februar 1996 S. 7693 B; Abgeordnetenhaus von Berlin, Plenarprotokoll Nr. 16/72 vom 11. November 2010 S. 6787; Bayerischer Landtag, Plenarprotokoll Nr. 12/35 vom 6. November 1991 S. 2198, Nr. 14/102 vom 13. November 2002 S. 7421, Nr. 15/122 vom 6. Mai 2008 S. 8914; Niedersächsischer Landtag, Plenarprotokoll Nr. 13/106 vom 19. Februar 1998 S. 10286, Nr. 14/66 vom 15. Dezember 2000 S. 6410, Nr. 16/93 vom 10. Dezember 2010 S. 11889; Schleswig-Holsteini­scher Landtag, Plenarprotokoll Nr. 15/77 vom 18. Dezember 2002 S. 5818; Thüringer Landtag, Plenarprotokoll Nr. 4/41 vom 9. Juni 2006 S. 4104 und Nr. 5/79 vom 24. Februar 2012 S. 7470).

 

Für eine willkürliche Auslegung der Ordnungsvorschrift oder einen Verstoß gegen allgemein gültige Wertungsmaßstäbe zeigt der Antragsteller nichts auf; auch ist hierfür sonst nichts zu erkennen. Der Antragsteller macht selbst nicht geltend, dass seitens der Antragsgegnerin zu 1. bzw. ihrer Stellvertreter in der Vergangenheit die Verwendung des Begriffs „Lügner“ durch Abgeordnete des Landtags als vereinbar mit dem parlamentarischen Sprachgebrauch eingestuft worden wäre.

 

b. Der streitgegenständliche Ordnungsruf erweist sich nach dem dargelegten Prüfungsmaßstab auch nicht als unverhältnismäßig.

 

Als unschädlich erweist sich dabei vorliegend der Umstand, dass die Entscheidung des Präsidiums nach § 36 GO-LT vom 8. Juli 2016 über den Einspruch des Antragstellers keine Begründung enthielt. Zwar wäre sie in einer solchen Form besonders geeignet, in Auseinandersetzung mit den Einwänden des betroffenen Abgeordneten durch das zur Auslegung der Geschäftsordnung berufene Gremium (§ 101 GO-LT) die der Ordnungsmaßnahme zugrunde liegende Wertung und Abwägung konkreter offenzulegen, als dies in der Situation der laufenden Sitzung möglich wäre, und auch entspräche dies seinem Charakter als parlamentsinterner Rechtsbehelf in besonderer Weise. Einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung stehen im hier zu beurteilenden Sachverhalt gleichwohl hinreichende Anhaltspunkte zur Frage der Verhältnismäßigkeit der angegriffenen Maßnahme zur Verfügung.

 

In diese Betrachtung ist vorliegend einzustellen, dass die Äußerung des Antragstellers in Wahrnehmung seines Rederechts im Rahmen der politischen Auseinandersetzung über die Frage des Quorums für den Erfolg bei der Direktwahl eines Landrates nach § 72 Abs. 2 Satz 1, § 83 BbgKWahlG erfolgte, deren Senkung der Antragsteller mit seinen Fraktionskollegen mit dem Antrag vom 31. Mai 2016 angeregt hatte, und er mit seinem Redebeitrag auf die (weitgehend ablehnenden) Stellungnahmen der Vertreter der anderen Fraktionen auf den Antrag und seine einleitenden Ausführungen der Debatte reagiert hat.

 

Dennoch erscheint die Erteilung des Ordnungsrufes nicht als unangemessen. Denn die Wertung der Antragsgegnerin zu 1., die Äußerung habe nach ihrem konkreten Kontext den noch tragbaren Bereich polemischer Zuspitzung einer sachlich-inhaltlichen Kritik verlassen und es habe bei dieser erkennbar die provokative Diffamierung der angesprochenen Abgeordneten erkennbar im Vordergrund gestanden, ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden.

 

Es ist auch nicht erkennbar, dass sich die Antragsgegnerin zu 1. zunächst auf eine formlose Rüge des Verhaltens des Antragstellers hätte beschränken müssen. Somit bedarf es keiner Entscheidung, ob angesichts der dargestellten Entwicklung der Geschäftsordnung des Landtags Brandenburg die Annahme weiter gerechtfertigt wäre, dass eine Rüge als ungeschriebenes, gewohnheitsmäßig anerkanntes milderes Ordnungsmittel zur Verfügung stehe (vgl. hierzu Franke, Ordnungsmaßnahmen, S. 117 ff; Köhler, Die Rechtsstellung der Parlamentspräsidenten, S. 191 ff; Bücker, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, § 34 Rn. 16).

 

D.

Das Verfassungsgericht hat einstimmig eine mündliche Verhandlung für nicht erforderlich gehalten (§ 22 Abs. 1 VerfGGBbg).

 

Die Entscheidung ist einstimmig ergangen.

Möller Dr. Becker
   
Dielitz Dr. Lammer
   
Nitsche Partikel
   
Schmidt