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VerfGBbg, Beschluss vom 20. Juli 2018 - VfGBbg 186/17 -

 

Verfahrensart: Verfassungsbeschwerde
Hauptsache
entscheidungserhebliche Vorschriften: - LV, Art. 2 Abs. 1; LV, Art. 5; LV, Art. 10
- SGG, § 178; SGG, § 173
Schlagworte: - Stattgabe
- effektiver Rechtsschutz
- Erinnerung
- Bezeichnung der angegriffenen Entscheidung
Zitiervorschlag: VerfGBbg, Beschluss vom 20. Juli 2018 - VfGBbg 186/17 -, https://verfassungsgericht.brandenburg.de

VERFASSUNGSGERICHT
DES LANDES BRANDENBURG

VfGBbg 186/17




IM NAMEN DES VOLKES

B e s c h l u s s

In dem Verfassungsbeschwerdeverfahren

L.

Beschwerdeführerin,

Verfahrensbevollmächtigter:             Rechtsanwalt L.

 

wegen            Beschluss des Sozialgerichts Cottbus vom 21. September 2016 (S 30 SF 71/16 E)

hat das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg

am 20. Juli 2018

durch die Verfassungsrichter Nitsche, Dr. Becker, Dresen, Dr. Lammer, Partikel und Schmidt

beschlossen: 

 

 

Der Beschluss des Sozialgerichts Cottbus vom 21. September 2016 (S 30 SF 71/16 E) verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Recht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 10 LV). Er wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung über die Erinnerung vom 30. Dezember 2015 an das Sozialgericht Cottbus zurückverwiesen.

Das Land Brandenburg hat dem Beschwerdeführer seine notwen­digen Auslagen zu erstatten.

 

Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 10.000,00 Euro festgesetzt.

 

 

Gründe:

 

A.

Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen einen Beschluss des Sozialgerichts Cottbus über eine Erinnerung im Verfahren zur Festsetzung ihrer erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten.

Die Beschwerdeführerin führte beim Sozialgericht Cottbus gegen das Jobcenter des Landkreises Oberspreewald-Lausitz (im Folgenden: Beklagter) eine Klage (S 22 AS 3248/11). Der Rechtsstreit endete durch ein von der Beschwerdeführerin angenommenes Anerkenntnis des Beklagten. Daraufhin beantragte der Bevollmächtigte der Beschwerdeführerin die Festsetzung der zu erstattenden außergerichtlichen Kosten in Höhe von insgesamt 565,96 Euro. Der Beklagte hielt nur eine Summe von 239,90 Euro für erstattungsfähig. Er setzte hierfür eine Verfahrensgebühr von 80,00 Euro, eine Post- und Telekommunikationspauschale von 16,00 Euro und eine Terminsgebühr von 100,00 Euro sowie Fahrkosten von 2,74 Euro und ein Abwesenheitsgeld von 1,35 Euro an.

Mit Kostenfestsetzungsbeschluss vom 20. November 2015 bestimmte die Urkundsbeamtin des Sozialgerichts Cottbus den vom Beklagten zu erstattenden Betrag auf 239,90 Euro und wies den weitergehenden Antrag zurück. Der Bevollmächtigte der Beschwerdeführerin habe sich auch nach wiederholter Aufforderung nicht zum „Kostenangebot“ des Beklagten vom 3. November 2013 geäußert. Da diesem nicht entgegengetreten worden sei, sei dementsprechend festzusetzen gewesen.

Am 30. Dezember 2015 legte der Bevollmächtigte im Namen der Beschwerdeführerin und unter dem Aktenzeichen des Ausgangsverfahrens Erinnerung ein und lehnte zugleich den zuständigen Richter als auch sämtliche seiner Vertreter wegen Befangenheit ab. Diesen Befangenheitsantrag wies das Sozialgericht mit Beschluss vom 30. August 2016 als teilweise unzulässig, teilweise unbegründet zurück.

Mit Beschluss vom 21. September 2016 verwarf das Sozialgericht die Erinnerung als unzulässig. Der angegriffene Kostenfestsetzungsbeschluss sei nicht bezeichnet worden. Der Beschluss wurde dem Bevollmächtigten der Beschwerdeführerin am 23. Oktober 2017 zugestellt.

II.

Mit der am 15. Dezember 2017 erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin einen Verstoß gegen Art. 12 Abs. 1, Art. 52 Abs. 3 und 4 Landesverfassung (LV). Das Sozialgericht überspanne die Anforderungen an die Bezeichnung der angegriffenen Entscheidung. Diese sei durch die Angabe des gerichtlichen Aktenzeichens hinreichend bestimmt.

III.

Das Sozialgericht Cottbus erhielt Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Verfahrensakten S 22 AS 3248/11, S 30 SF 334/16 AB und S 30 SF 71/16 E wurden beigezogen.

B.

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet.

I.

1. Unschädlich ist der Umstand, dass sich die Beschwerdeführerin zur Begründung auf die Gewährleistung des Grundrechts aus Art. 12 Abs. 1 LV sowie Art. 52 Abs. 3 und 4 Landesverfassung (LV) bezogen hat, ohne diese im Einzelnen differenziert in Bezug zu nehmen. Denn ausgehend von dem Grundsatz, dass nicht maßgeblich ist, welches Grundrecht die Beschwerdeführerin ausdrücklich benennt, sondern welche grundrechtliche Gewährleistung mit der Beschwerdeschrift der Sache nach ersichtlich als verletzt gerügt wird (vgl. Beschlüsse vom 24. Januar 2014 - VfGBbg 21/13 -, vom 29. August 2014 - VfGBbg 1/14 - und vom 9. Oktober 2015 - VfGBbg 41/15 -, www.verfassungsgericht.brandenburg.de), prüft das Verfassungsgericht die Sache nach Maßgabe des speziellen und damit hier vorrangig in Betracht kommenden Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz nach Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 10 LV (vgl. Beschlüsse vom 19. Mai 2017 - VfGBbg 2/16 - und vom 15. Juni 2017 - VfGBbg 50/16 -, www.verfassungsgericht.brandenburg.de).

 

2. Die am 15. Dezember 2017 erhobene Verfassungsbeschwerde wahrt die Zwei-Monats-Frist des § 47 Abs. 1 VerfGGBbg. Die Zustellung des Erinnerungsbeschlusses vom 21. September 2016 ist erst am 16. Oktober 2017 veranlasst worden und am 23. Oktober 2017 erfolgt.

3. Die Beschwerdeführerin ist auch beschwerdebefugt. Sie hat hinreichend substantiiert und schlüssig einen Sachverhalt unterbreitet, der hinsichtlich des angegriffenen Beschlusses jedenfalls zu dem behaupteten Verstoß gegen das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz führen kann. Dem steht nicht entgegen, dass die Beschwerdeführerin zur Begründung der Verfassungsbeschwerde auf einen vermeintlichen Grundrechtsverstoß gegen einen Beschluss im Anhörungsrügeverfahren Bezug genommen hat, obwohl ein solches hier nicht durchgeführt worden ist. Es handelt sich insoweit ersichtlich um eine irrtümliche Inbezugnahme eines Beschlusses aus einem anderen Verfahren. Nicht zuletzt wäre ein solches Anhörungsrügeverfahren bereits deswegen entbehrlich gewesen, weil die Beschwerdeführerin mit ihrer Verfassungsbeschwerde keine Verletzung rechtlichen Gehörs rügt. Aus den gleichen Gründen kommt es unter dem Gesichtspunkt der Rechtswegerschöpfung (§ 45 Abs. 2 Satz 1 VerfGGBbg) auf die Durchführung des Anhörungsrügeverfahrens gemäß § 178a SGG nicht an (vgl. Beschlüsse vom 18. März 2010 - VfGBbg 46/09 - und vom 24. März 2017 - VfGBbg 48/16 -, www.verfassungsgericht.brandenburg.de).

4. Schließlich steht der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde nicht entgegen, dass der Beschluss, gegen den sie sich richtet, auf der Grundlage von Verfahrens­recht des Bundes ergangen ist. Die insoweit erforderlichen Voraussetzungen sind erfüllt (vgl. Beschluss vom 16. Dezember 2010 - VfGBbg 18/10 -, www.verfassungs­gericht.brandenburg.de).

II.

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Der Beschluss des Sozialgerichts Cottbus vom 21. September 2016 verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz.

Das Rechtsstaatsgebot (Art. 2 Abs. 1, Art. 5 LV) gewährleistet in Verbindung mit Art.  10 LV effektiven Rechtsschutz im Sinne eines Anspruchs der Bürger auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle in allen gesetzlich vorgesehenen Verfahrensarten. Das Gericht darf insbesondere die von der Rechtsordnung eröffneten Rechtsschutzmöglichkeiten nicht ineffektiv machen und für die Beschwerdeführerin „leerlaufen" lassen (vgl. Beschlüsse vom 16. Dezember 2016 - VfGBbg 33/16 -, vom 21. Oktober 2011 - VfGBbg 35/11 - und vom 21. Januar 2011 - VfGBbg 35/10 - www.verfassungsgericht.brandenburg.de).

Hieraus ergeben sich auch Anforderungen an die gerichtliche Würdigung des Vor­trags und der Erklärungen des Rechtsschutzsuchenden. Auszugehen ist von dem aus dem Gesamtzusammenhang des Antragsvorbringens zu ermittelnden Rechts­schutzziel. Die Auslegung ist grundsätzlich am erkennbaren Rechtsschutzanliegen zu orientieren (vgl. BVerfG NJW 2013, 3506, 3507; NJW 2014, 991, 992). Anträge und sonstige Verfahrenserklärungen sind zweckentsprechend auszulegen und an der recht verstandenen Interessenlage des Erklärenden auszurichten (vgl. BVerfGE 122, 190, 198; E 134, 106, 114). Damit unvereinbar ist eine Würdigung des Verfahrensgegenstandes in einer Weise, die das vom Antragsteller verfolgte Rechtsschutzziel ganz oder in wesentlichen Teilen außer Betracht lässt, und durch die sich das Gericht die - an sich gebotene - Sachprüfung des erhobenen Begehrens verstellt (vgl. BVerfG NJW 2002, 2699, 2700; NVwZ 2005, 1304, 1306; BVerfGK 10, 509, 513).

Das Sozialgericht hat einen Verstoß gegen die Pflicht gemäß § 178, § 173 SGG zur Bezeichnung der angegriffenen Entscheidung angenommen, da Erinnerung „gegen einen nicht bezeichneten Beschluss eingereicht“ worden sei. Dies ist nicht nachvollziehbar. Erforderlich, aber auch ausreichend für die Bezeichnung einer angefochtenen Entscheidung sind bei den Rechtsmitteln der Prozessordnungen solche Angaben, anhand derer sich das angerufene Gericht über die Identität der angegriffenen Entscheidung Gewissheit verschaffen kann. Dies geschieht etwa durch Angabe des Gerichts, des Aktenzeichens, des Datums der Entscheidung und der Beteiligten. Unvollständige oder gar falsche Angaben zu diesen Daten sind unschädlich, wenn im Wege der Auslegung aufgrund der sonstigen Umstände, namentlich des Gesamtinhalts der Rechtsmittel- bzw. Rügeschrift oder der aus den Verfahrensakten erkennbaren Informationen für das Gericht unzweifelhaft erkennbar, welche Entscheidung angefochten wird (vgl. Berchtold/Lüdtke, in: Lüdtke/Berchtold, SGG, 5. Aufl. 2017, § 178a Rn. 20; Rudisile, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 152a Rn. 26; Guckelberger, NVwZ 2005, 11, 15; s. auch BVerfG NJW 1991, 3140).

Von einem „nicht bezeichneten Beschluss“ kann vorliegend ersichtlich nicht die Rede sein. Der Schriftsatz des Bevollmächtigten der Beschwerdeführerin vom 30. Dezember 2016 enthielt genügend klare Angaben, die eine zuverlässige Identifizierung des Beschlusses ermöglichte, gegen den sich die Erinnerung richtete. Darin sind das Aktenzeichen des Ausgangsverfahrens S 22 AS 3248/11 sowie der Name der Beschwerdeführerin aufgeführt. Zudem ist auch nicht ersichtlich, aus welchen Gründen es der Geschäftsstelle des Gerichts ohne weiteres möglich gewesen ist, ein Erinnerungsheft zum Verfahren S 22 AS 3248/11 anzulegen und damit den anwaltlichen Schriftsatz einem Kostenfestsetzungsbeschluss exakt zuzuordnen, der zur Entscheidung berufene Richter dazu aber nicht in der Lage gewesen sein soll. Nicht zuletzt ist in der wenig umfangreichen Akte zum Erinnerungsverfahren auch eine Abschrift des angegriffenen Beschluss selbst enthalten. Dabei kann offen bleiben, ob es sich um eine Anlage zum Erinnerungsschriftsatz der Beschwerdeführerin handelt oder der Beschluss durch die Geschäftsstelle des Gerichts zur Akte gegeben worden ist. Jedenfalls musste sich dem erkennenden Richter der Bezug zu der hier in Rede stehenden Entscheidung geradezu aufdrängen. Die Verwerfung der Erinnerung als unzulässig aufgrund einer vermeintlich fehlenden Bezugnahme auf die angegriffene Entscheidung lässt daher nur den Schluss zu, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruht.

C.

Der Beschluss des Sozialgerichts Cottbus vom 21. September 2016 ist hiernach gemäß § 50 Abs. 3 VerfGGBbg aufzuheben; die Sache selbst ist an das Sozialgericht zurückzuverweisen.

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 32 Abs. 7 Satz 1 VerfGGBbg.

Der Gegenstandswert ist nach § 33 Abs. 1, § 37 Abs. 2 Satz 2 Rechtsanwaltsvergü­tungsgesetz entsprechend der ständigen Praxis des Gerichts in erfolgreichen Verfah­ren über Individualverfassungsbeschwerden gegen Gerichtsentscheidungen auf 10.000,00 Euro festzusetzen.

D.

Der Beschluss ist einstimmig ergangen. Er ist unanfechtbar.

Nitsche Dr. Becker
   
Dresen Dr. Lammer
   
Partikel Schmidt