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VerfGBbg, Beschluss vom 19. Mai 2017 - VfGBbg 1/16 -

 

Verfahrensart: Verfassungsbeschwerde
Hauptsache
entscheidungserhebliche Vorschriften: - LV, Art. 7 Abs. 1; LV, Art. 8 Abs. 1; LV, Art. 52
- VerfGGBbg, § 20 Abs. 1 Satz 1; VerfGGBbg, § 21 Satz 1; VerfGGBbg, § 46
- SGG, § 75
- SGB 2, § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB
Schlagworte: - Verfassungsbeschwerde unzulässig
- Begründung
- Subsidiarität
- Beschluss über Gehörsrüge nicht selbständig angreifbar
- Grundsicherung für Arbeitsuchende
- Leistungsausschluss
- Beiladung des Sozialhilfeträgers im sozialgerichtlichen Verfahren
- Vorherige Antragstellung beim Sozialhilfeträger
Zitiervorschlag: VerfGBbg, Beschluss vom 19. Mai 2017 - VfGBbg 1/16 -, https://verfassungsgericht.brandenburg.de

VERFASSUNGSGERICHT
DES LANDES BRANDENBURG

VfGBbg 1/16




IM NAMEN DES VOLKES

B e s c h l u s s

In dem Verfassungsbeschwerdeverfahren

D.,

Beschwerdeführer,

wegen Beschlüsse des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 18. November 2015 (L 19 AS 2477/15 B ER) und 22. Dezember 2015 (L 19 AS 2979/15 B ER RG)

hat das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg

am 19. Mai 2017

durch die Verfassungsrichter Dielitz, Dr. Becker, Dresen, Dr. Lammer, Partikel und Schmidt

beschlossen: 

 

 

Die Verfassungsbeschwerde wird verworfen.

 

Gründe:

 

A.

Der Beschwerdeführer wendet sich gegen zwei Entscheidungen des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg in einem vorläufigen Rechtsschutzverfahren.

 

I.

Der 1987 geborene Beschwerdeführer ist britischer Staatsangehöriger. Er zog zum 1. März 2015 vom Ausland aus nach Bernau bei Berlin und beantragte Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II), die ihm vorübergehend im einstweiligen Rechtsschutzverfahren zuerkannt wurden.

 

Mitte August 2015 beantragte der Beschwerdeführer erneut die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II, die das Jobcenter wiederum ablehnte. Sein Widerspruch blieb erfolglos. Über die hiergegen erhobene Klage ist noch nicht entschieden. Das Sozialgericht Frankfurt (Oder) verpflichtete das Jobcenter im Wege der einstweiligen Anordnung, dem Beschwerdeführer vorläufig bis zum 28. Februar 2016 Leistungen in Höhe von 351,10 € zu gewähren. Das Landessozialgericht änderte die erstinstanzliche Entscheidung am 18. November 2015 und lehnte den Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ab (L 19 AS 2477/15 B ER). Dem Beschwerdeführer stehe kein Anordnungsanspruch zu, denn die Voraussetzungen eines Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II lägen vor. Aus den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (vom 15. September 2015 - C 67/14 - und vom 11. November 2014 - C 333/13 -) zu Vorlagebeschlüssen des Bundessozialgerichts ergebe sich, dass der Zugang zu Leistungen nach dem SGB II für wirtschaftlich inaktive oder arbeitssuchende Unionsbürger in europarechtskonformer Weise beschränkt werden dürfe. Arbeitsuchende Unionsbürger seien nach Ablauf von sechs Monaten nach ihrem Zuzug von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Der Beschwerdeführer sei trotz des Vertrages über eine geringfügige Beschäftigung kein Arbeitnehmer, denn eine tatsächliche und echte Tätigkeit sei nicht überwiegend wahrscheinlich. Es bestünden bereits Zweifel, ob der Beschwerdeführer überhaupt die sich aus dem Arbeitsvertrag ergebende Tätigkeit ausübe. Der Vortrag hierzu sei so allgemein und so widersprüchlich, dass die konkret behauptete Tätigkeit damit nicht glaubhaft gemacht worden sei. Zudem begründe die behauptete geringfügige Tätigkeit keine Arbeitnehmereigenschaft. Auf der Grundlage der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Bundessozialgerichts sei die behauptete Tätigkeit sowohl nach der wöchentlichen Arbeitszeit (fünf Stunden) als auch aufgrund des erzielten Einkommens, das zudem widersprüchlich angegeben worden sei, nur untergeordnet. Ein Anspruch ergebe sich auch nicht in Anwendung des Europäischen Fürsorgeabkommens. Der dazu erklärte Vorbehalt der Bundesrepublik sei wirksam. Einer Beiladung des örtlichen Sozialhilfeträgers bedürfe es nicht. Die dagegen gerichtete Anhörungsrüge und Gegenvorstellung verwarf das Landessozialgericht mit Beschluss vom 22. Dezember 2015 als unzulässig.

 

II.

Der Beschwerdeführer hat am 4. Januar 2016 Verfassungsbeschwerde erhoben und zugleich den Erlass einer einstweiligen Anordnung begehrt. Der Beschluss des Landessozialgerichts verstoße gegen Art. 7, 8 und 52 Landesverfassung (LV). Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz (GG) stehe deutschen wie ausländischen Staatsangehörigen, die sich dauerhaft im Inland aufhielten, gleichermaßen zu. Zudem ergäben sich aus Art. 19 Abs. 4 GG besondere Anforderungen an die Gestaltung des gerichtlichen Eilverfahrens, wenn ohne Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, nicht anders abwendbare Beeinträchtigungen drohten. Vorliegend habe das Landessozialgericht eine mögliche Grundrechtsverletzung des Beschwerdeführers nicht abschließend geprüft und die Anforderungen an die Glaubhaftmachung überspannt. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II müsse im Einklang mit völkerrechtlichen Vorschriften angewendet werden. Es sei unzulässig, Unionsbürger von Fürsorgeleistungen auszuschließen, wenn sie Staatsangehörige eines Vertragsstaates des Europäischen Fürsorgeabkommens seien. Im Übrigen zwinge auch die VO (EG) 883/2004 zur Gleichbehandlung bei Leistungen sozialer Sicherheit. In der Sache überspanne das Landessozialgericht den Arbeitnehmerbegriff. Er habe glaubhaft gemacht, dass er Lohnfortzahlung im Krankheitsfall erhalte und Anspruch auf Urlaub habe. Dennoch berücksichtige das Landessozialgericht nur sein Einkommen aus der Erwerbstätigkeit. Auch dass das Landessozialgericht die für Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (SGB XII) zuständige Behörde nicht hinzugezogen habe, verstoße gegen Art. 19 GG. Wenn er keinen Anspruch nach dem SGB II habe, dann doch wohl jedenfalls nach dem SGB XII. Das sei nach neuerer höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht durch den Vorbehalt zum Fürsorgeabkommen ausgeschlossen. Indem das Landessozialgericht hiervon abgewichen sei, verstoße es gegen Art. 52 LV. Zudem müsse beachtet werden, dass er sich in psychotherapeutischer Behandlung befinde und Medikamente benötige, jedoch in England nicht mehr versichert sei. Er befinde sich in einer akuten finanziellen Notlage, in der jedenfalls Leistungen nach dem SGB XII zu erbringen seien. Ein vollständiger Ausschluss der Leistungen verstoße gegen die Menschenwürde.

 

B.

I.

Die Verfassungsbeschwerde ist nach § 21 Satz 1 Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg (VerfGGBbg) zu verwerfen. Sie ist unzulässig.

 

1. Hinsichtlich des Beschlusses über die Anhörungsrüge und die Gegenvorstellung vom 22. Dezember 2015 fehlt dem Beschwerdeführer das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis. Der genannte Beschluss enthält gegenüber dem Beschluss vom 18. November 2015 keine eigenständige Beschwer, sondern lässt allenfalls eine bereits durch die gleichfalls angefochtene Ausgangsentscheidung des Landessozialgerichts eingetretene Rechtsverletzung fortbestehen, indem eine Selbstkorrektur durch das Fachgericht unterbleibt  (Beschlüsse vom 17. April 2015 - VfGBbg 41/14 -, und vom 21. November 2014 - VfGBbg 15/14 -, www.verfassungsgericht.brandenburg.de).

 

2. Die Rüge des Beschwerdeführers, der Beschluss des Landessozialgerichts vom 18. November 2015 verletze Art. 52 LV, genügt nicht dem sich aus § 46 VerfGGBbg ergebenden Erfordernis, das als verletzt gerügte Grundrecht konkret zu bezeichnen. Es ist schon unklar, welches der verschiedenen durch Art. 52 LV gewährleisteten Justizgrundrechte verletzt worden sein soll.

 

3. Die weitere Rüge, der Beschluss des Landessozialgerichts, mit dem vorläufig Leistungen nach dem SGB II versagt worden sind, verstoße gegen die Menschenwürde, weil dem Beschwerdeführer das für eine menschenwürdige Existenz notwendige Minimum vorenthalten werde, genügt nicht den sich aus § 20 Abs. 1 Satz 2, § 46 VerfGGBbg ergebenden Begründungsanforderungen. Danach ist im Einzelnen substantiiert darzulegen, welchen verfassungsrechtlichen Anforderungen die angegriffene Maßnahme nicht genügt und inwieweit dadurch das bezeichnete Grundrecht verletzt sein soll (Beschluss vom 21. November 2014 - VfGBbg 15/14 -, www.verfassungsgericht.brandenburg.de). Bei einer gegen eine gerichtliche Entscheidung gerichteten Verfassungsbeschwerde hat der Beschwerdeführer sich mit dieser inhaltlich auseinanderzusetzen. Es muss deutlich werden, inwieweit durch die angegriffene Maßnahme das bezeichnete Grundrecht verletzt sein soll (Beschluss vom 22. Mai 2015 - VfGBbg 32/14 -, www.verfassungsgericht.brandenburg.de). Unschädlich ist hier zwar, dass sich der Beschwerdeführer vorrangig auf die vom Verfassungsgericht des Landes Brandenburg wegen Art. 6 Abs. 2 LV, § 45 Abs. 1 VerfGGBbg nicht zu prüfende grundgesetzliche Gewährleistung aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs.1 GG berufen hat. Enthält die Landesverfassung  inhaltsgleiche Gewährleistungen, so ist zu vermuten, dass mit der Erhe­­bung einer Ver­fas­sungs­beschwerde zum Verfassungsgericht des Lan­­des Bran­­denburg eine Überprüfung am Maßstab der Lan­des­ver­­­fas­sung begehrt wird (Beschluss vom 19. Juni 2013 - VfGBbg 61/12 -, www.verfassungsgericht.brandenburg.de).

 

Das Vorbringen des Beschwerdeführers ergibt nicht, dass der Beschluss des Landessozialgerichts gegen Art. 7 Abs. 1 LV verstoßen würde. Er setzt sich nicht hinreichend mit der Annahme des Gerichts auseinander, er sei als arbeitsuchender Ausländer nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von der Leistungsgewährung ausgeschlossen. Auf die insoweit selbstständig entscheidungstragende Feststellung des Landessozialgerichts, er habe die konkret behauptete geringfügige Tätigkeit schon nicht glaubhaft gemacht, geht er gar nicht ein. Insofern ist auch ein Verstoß gegen die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes durch Überspannung der Anforderungen an die Glaubhaftmachung nicht dargelegt.

 

4. In Bezug auf den weiter als verletzt gerügten Art. 8 LV, der in seinem Absatz 1 das Recht auf Leben und Unversehrtheit gewährleistet, steht der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde der in § 45 Abs. 2 Satz 1 VerfGGBbg zum Ausdruck kommende Grundsatz der Subsidiarität entgegen. Dieser verlangt von einem Beschwerdeführer, dass er über das Gebot der Rechtswegerschöpfung im engeren Sinne hinaus die ihm zur Verfügung stehenden und zumutbaren Möglichkeiten ergreift, um eine Korrektur der gerügten Grundrechtsverletzung ohne Inanspruchnahme des Verfassungsgerichts zu erwirken. Dazu gehört einerseits, dass er die aus seiner Sicht für die Grundrechtsverletzung maßgeblichen Umstände bereits im fachgerichtlichen Verfahren unterbreitet, um dem Gericht die Möglichkeit zu eröffnen, dies bei seiner Entscheidung zu berücksichtigen. Ungeachtet der Frage, ob es für das Landessozialgericht auf der Grundlage von dessen materiell-rechtlicher Auffassung überhaupt darauf angekommen wäre, ist nicht erkennbar, dass der Beschwerdeführer die attestierte behandlungsbedürftige psychische Erkrankung bereits im Verfahren vor dem Landessozialgericht geltend gemacht hat. Das vorgelegte Attest, aus dem sich eine Behandlung seit dem 23. September 2015 ergibt, datiert jedenfalls vom 23. Dezember 2015 und konnte daher nicht Gegenstand der angefochtenen Beschlüsse sein. Die Verfassungsbeschwerde dient nicht dazu, im fachgerichtlichen Verfahren versäumten Vortrag nachholen zu können.

 

Andererseits kann der Beschwerdeführer auch darauf verwiesen werden, dass er sich hätte bemühen müssen, das Ziel, wenigstens vorübergehend existenzsichernde Leistungen zu erhalten, auch durch eine Antrag auf Leistungen nach dem SGB XII beim zuständigen Leistungsträger zu erreichen. Dies war dem Beschwerdeführer insoweit zumutbar, als bereits vor der letzten hier angegriffenen Entscheidung des LSG durch das Bundessozialgericht klargestellt worden war, dass der Ausschluss von Leistungen nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II im Hinblick auf das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG nicht die Gewährung von Leistungen der Sozialhilfe hindert (BSG, Urteile vom 3. Dezember 2015 - B 4 AS 44/15 R - und vom 16. Dezember 2015 - B 14 AS 15/14 R -, Juris). Da das LSG in der angegriffenen Entscheidung jedoch ausdrücklich nicht über den erst mit der Verfassungsbeschwerde geltend gemachten Anspruch nach dem SGB XII entschieden hat, muss aus Gründen der Subsidiarität zunächst im behördlichen und gegebenenfalls anschließend im fachgerichtlichen Verfahren geklärt werden; ob ein solcher Anspruch besteht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. April 2010 - 1 BvR 688/10 -, Juris). Dass das Landessozialgericht von der nach § 75 SGG auch im einstweiligen Rechtsschutzverfahren bestehenden Möglichkeit, den örtlichen Träger der Sozialhilfe beizuladen, keinen Gebrauch gemacht hat, greift der Beschwerdeführer nicht mit zulässigen Grundrechtsrügen an. 

II.

Der Beschluss ist einstimmig ergangen. Er ist unanfechtbar.

Dielitz Dr. Becker
   
Dresen Dr. Lammer
   
Partikel Schmidt