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VerfGBbg, Beschluss vom 17. September 1998 - VfGBbg 7/98 -

 

Verfahrensart: Verfassungsbeschwerde
Hauptsache
entscheidungserhebliche Vorschriften: - VerfGGBbg, § 45 Abs. 2 Satz 1; VerfGGBbg, § 45 Abs. 2 Satz 2
- ArbGG, § 72a Abs. 1; ArbGG, § 72 Abs. 2 Nr. 2
Schlagworte: - Rechtswegerschöpfung
- Vorabentscheidung
- Bundesgericht
- Arbeitsrecht
amtlicher Leitsatz:
Fundstellen: - NJ 1999, 33 (nur LS)
- DÖV 1999, 395
- NVwZ 1999, 295
- LVerfGE 9, 83
Zitiervorschlag: VerfGBbg, Beschluss vom 17. September 1998 - VfGBbg 7/98 -, https://verfassungsgericht.brandenburg.de

VERFASSUNGSGERICHT
DES LANDES BRANDENBURG

VfGBbg 7/98



IM NAMEN DES VOLKES
B E S C H L U S S

In dem Verfassungsbeschwerdeverfahren

S.,

Beschwerdeführerin,

Verfahrensbevollmächtigte: Rechtsanwälte B. und M.-D.,

gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Brandenburg
vom 28. Oktober 1997 und das Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt (Oder) vom 25. September 1996

hat das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg
durch die Verfassungsrichter Dr. Macke, Dr. Dombert,
Dr. Knippel, Prof. Dr. Mitzner, Prof. Dr. Schöneburg, Weisberg-Schwarz und Prof. Dr. Will

am 17. September 1998

b e s c h l o s s e n :

Die Verfassungsbeschwerde wird verworfen.

G r ü n d e :

A.
I.

Die Beschwerdeführerin arbeitete seit 1965 als Lehrerin in der DDR und stand nach der deutschen Wiedervereinigung im Dienste des Landes Brandenburg. In einem Personalfragebogen verneinte sie 1991 alle Fragen zu einer möglichen Zusammenarbeit mit dem ehemaligen Staatssicherheitsdienst der DDR (MfS). Im August 1995 teilte der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR dem Land Brandenburg mit, daß die Beschwerdeführerin vom MfS als inoffizielle Mitarbeiterin geführt worden sei. Sie habe sich im Oktober 1979 schriftlich zur Mitarbeit verpflichtet und dem MfS bis zum Dezember 1983 in unregelmäßigen Abständen ein Zimmer ihrer Wohnung für konspirative Treffen zur Verfügung gestellt. Das Land Brandenburg sprach nach Anhörung der Beschwerdeführerin die ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses zum 31. Dezember 1996 aus personenbedingten Gründen aus, die es in der Falschbeantwortung des Personalfragebogens und der Aufrechterhaltung dieser Täuschung in den nachfolgenden Anhörungen sah. Die hiergegen erhobene Kündigungsschutzklage wies das Arbeitsgericht (ArbG) Frankfurt (Oder) mit Urteil vom 25. September 1996 ab. Die Kündigung sei aus den genannten Gründen gemäß § 1 Abs. 2 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) gerechtfertigt, weil die Klägerin bewußt wahrheitswidrige Angaben im Personalfragebogen gemacht habe.

Das Landesarbeitsgericht (LAG) Brandenburg hat die Berufung der Beschwerdeführerin mit Urteil vom 28. Oktober 1997 zurückgewiesen. Die Kündigung sei nach § 1 Abs. 2 KSchG aus personenbedingten Gründen wegen fehlender persönlicher Eignung der Beschwerdeführerin rechtswirksam. Schon die inoffizielle Tätigkeit der Beschwerdeführerin für das MfS rechtfertige die Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Insoweit seien die gleichen Grundsätze heranzuziehen wie für eine Kündigung nach dem Einigungsvertrag wegen einer Tätigkeit für das MfS. Die Beschwerdeführerin sei in erheblichem Maße noch sieben Jahre vor der sogenannten Wende in das Unrechtsregime des Staatssicherheitsdienstes verstrickt gewesen. Dies lasse ein Festhalten am Arbeitsverhältnis als unzumutbar erscheinen. Auch die falschen Antworten im Personalfragebogen rechtfertigten eine ordentliche Kündigung. Die Prognose falle zu Ungunsten der Beschwerdeführerin aus. Durch ihre frühere Tätigkeit für das MfS habe sie gezeigt, daß sie als Lehrerin grundsätzlich ungeeignet sei. Dies gelte erst recht angesichts ihrer groben Unehrlichkeit. Bei einer Interessenabwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls überwiege das Interesse des Arbeitgebers an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses.

Eine gegen die Entscheidung des LAG zunächst erhobene Nichtzulassungsbeschwerde zum Bundesarbeitsgericht (BAG) hat die Beschwerdeführerin wieder zurückgenommen.

II.

Mit der am 2. Februar 1998 erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihres Grundrechts auf freie Berufswahl gemäß Art. 49 Abs. 1 Landesverfassung (LV), des Anspruchs auf Gleichheit vor Gericht und auf rechtliches Gehör gemäß Art. 52 Abs. 3 LV sowie des Anspruchs auf ein faires Verfahren gemäß Art. 52 Abs. 4 LV. Die Rücknahme der Nichtzulassungsbeschwerde stehe der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde nicht entgegen. Die Nichtzulassungsbeschwerde sei lediglich ein zusätzlicher Rechtsbehelf, der erst die Möglichkeit zur Einlegung eines Rechtsmittels - der Revision - schaffen solle. Erst die Revisionsrücknahme führe zur Nichterschöpfung des Rechtswegs. Werde eine Nichtzulassungsbeschwerde zurückgenommen, so habe das Verfassungsgericht vor einer Verwerfung der Verfassungsbeschwerde mangels Erschöpfung des Rechtswegs festzustellen, daß die Nichtzulassungsbeschwerde Erfolg gehabt hätte. Dies sei hier nicht ersichtlich.

In der Sache macht die Beschwerdeführerin im wesentlichen geltend: Das LAG habe zu Unrecht personenbedingte Kündigungsgründe bejaht. Die Überlassung eines Zimmers sei nicht notwendigerweise eine Tätigkeit für das MfS. Jedenfalls müsse eine solche Aktivität als unbedeutend angesehen werden. Das ArbG und das LAG hätten ferner einen falschen Bewertungsmaßstab zugrundegelegt, indem sie für die Frage der Zumutbarkeit nur den Zeitraum bis zur sogenannten Wende zugrundegelegt hätten, statt auf den Zeitpunkt der Kündigung im Mai 1996 abzustellen. Dies widerspreche der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG). Das LAG habe auch das rechtliche Gehör verletzt, indem es einem Beweisangebot zu den näheren Umständen der Beendigung ihrer MfS-Mitarbeit nicht nachgegangen sei. Die Beantwortung des Fragebogens und ihr nachfolgendes Verhalten könnten ferner nicht als “beharrliche Lüge” gewertet werden. Vielmehr sei sie durchgängig davon ausgegangen, daß die Bereitstellung eines Zimmers nicht als Tätigkeit für das MfS zu bewerten sei.

B.

Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig. Die Beschwerdeführerin hat vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde den Rechtsweg im Sinne des § 45 Abs. 2 Satz 1 Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg (VerfGGBbg) nicht ausgeschöpft.

1. Zum Rechtsweg gehört auch die auf eine Divergenz gestützte Nichtzulassungsbeschwerde nach §§ 72a Abs. 1, 72 Abs. 2 Nr. 2 Arbeitsgerichtsgesetz - ArbGG - (vgl. BVerfG, NJW 1996, 45 und Beschluß vom 18. März 1998 - 1 BvR 1759/96 -; s. auch VerfGH Berlin, LVerfGE 5, 30, 33 f.). Ein Beschwerdeführer ist deshalb gehalten, vor Anrufung des Verfassungsgerichts auch diese Möglichkeit fachgerichtlichen Rechtsschutzes unter Beachtung der jeweiligen Zulässigkeitsvoraussetzungen in Anspruch zu nehmen, um auf eine Korrektur der geltend gemachten Grundrechtsverletzung hinzuwirken.

Die Beschwerdeführerin hat die zunächst erhobene Nichtzulassungsbeschwerde zum BAG wieder zurückgenommen. Die Rücknahme eines Rechtsbehelfs aber ist - worauf das Gericht bereits mit Schreiben vom 2. April 1998 hingewiesen hat - nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Gerichts der Nichterschöpfung des Rechtswegs gleichzuachten, weil sich ein Beschwerdeführer dadurch von sich aus der Möglichkeit fachgerichtlichen Rechtsschutzes begibt (vgl. Verfassungsgericht Brandenburg, Beschluß vom 16. Oktober 1997 - VfGBbg 26/97, 26/97 EA -, vorgesehen zur Veröffentlichung in LVerfGE 6, Teil Brandenburg, Nr. 12, und Beschluß vom 20. November 1997 - VfGBbg 33/97 -).

2. Etwas anderes ergibt sich hier auch nicht unter Zumutbarkeitsgesichtspunkten. Das Gebot der vorgängigen Erschöpfung des Rechtsweges kann zwar unter dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit Einschränkungen erfahren, wenn der Rechtsbehelf offensichtlich aussichtslos ist (BVerfG a.a.O.; vgl. auch BVerfGE 16, 1, 2 f.). Einem Beschwerdeführer ist jedoch zuzumuten, sich auch einer fachgerichtlichen Rechtsschutzmöglichkeit zu bedienen, deren Erfolgsaussicht ungewiß ist, solange sie nicht von vornherein aussichtslos erscheint (vgl. BVerfGE 16, 1, 3; vgl. auch Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Beschluß vom 20. Februar 1997 - VfGBbg 30/96 -, S. 8 des Entscheidungsumdrucks). Wenn ein Beschwerdeführer die ihm zu Gebote stehenden prozessualen Möglichkeiten vor den Fachgerichten nicht ausschöpft, ist es nicht Aufgabe des Verfassungsgerichts, sich gleichsam an die Stelle des nicht angerufenen Fachgerichts zu setzen und zu prüfen, ob das ungenutzt gebliebene Rechtsmittel bzw. der Rechtsbehelf erfolgreich gewesen wäre. Vielmehr ist eine unter solchen Umständen erhobene Verfassungsbeschwerde bereits dann mangels Erschöpfung des Rechtswegs unzulässig, wenn dem Beschwerdeführer nach den dargelegten Maßstäben die Weiterführung des fachgerichtlichen Prozesses als nicht völlig aussichtslos zumutbar gewesen wäre. Das Verfassungsgericht beschränkt sich insoweit auf eine Evidenzkontrolle. Als “aussichtslos” stellt sich die weitere Prozeßführung dann dar, wenn im Hinblick auf eine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung im konkreten Einzelfall eine von dieser Rechtsprechung abweichende Entscheidung völlig ausgeschlossen erscheint (vgl. BVerfGE 9, 3, 7; 78, 155, 160). Ob die Erfolgsaussicht in diesem Sinne aus der Sicht der Beschwerdeführerin ganz und gar negativ eingeschätzt werden konnte, ist hier schon angesichts ihrer eigenen juristischen Bewertung zweifelhaft. Immerhin weist sie selbst darauf hin, daß der vom LAG zugrunde gelegte Prüfungsmaßstab der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts widerspreche.

Eine nähere Auseinandersetzung kann in diesem Punkt indes dahinstehen. Denn von einer “völligen Aussichtslosigkeit” kann auch aus anderen Gründen nicht ausgegangen werden. Es ist nicht Aufgabe des Verfassungsgerichts, die Auslegung und Anwendung einfachen Gesetzesrechts durch die zuständigen Fachgerichte an deren Stelle vorzunehmen. Es würde die unterschiedlichen Aufgaben- und Prüfungsbereiche von Verfassungs- und Fachgerichtsbarkeit verwischen, wenn bei der Beurteilung nach § 45 Abs. 2 Satz 2 VerfGGBbg das Verfassungsgericht die Entscheidung des Fachgerichts - hier über die arbeitsgerichtliche Nichtzulassungsbeschwerde - quasi mit zu treffen hätte.

Hier ist davon auszugehen, daß der Weiterführung des Verfahrens nicht von vornherein jede Erfolgsaussicht fehlte. Die auf Divergenz gestützte Nichtzulassungsbeschwerde war nicht zweifelsfrei aussichtslos. Eine Divergenz liegt nach der ständigen Rechtsprechung des BAG vor, wenn das angefochtene Urteil einen abstrakten die Entscheidung tragenden Rechtssatz enthält, der von einem abstrakten Rechtssatz einer Entscheidung im Sinne von § 72 Abs. 2 Nr. 2 ArbGG - also u.a. von einer Entscheidung des BVerfG oder des BAG - abweicht, und das angefochtene Urteil auf dem abweichenden Rechtssatz beruht (vgl. BAG, AP Nr. 3 zu § 72a ArbGG 1979 Divergenz; Grunsky, ArbGG, 7. Aufl. 1995, § 72 Rdn. 31 ff.). Der die Entscheidung tragende Rechtssatz braucht vom Gericht nicht ausdrücklich formuliert zu werden, sondern kann sich auch aus fallbezogenen Ausführungen ergeben, solange sich eindeutig feststellen läßt, daß das Gericht den Rechtssatz wirklich vertreten wollte und nicht lediglich das Recht falsch angewendet oder ein Rechtsproblem übersehen hat (vgl. BAG, AP Nr. 9 u. 15 zu § 72a ArbGG 1979 Divergenz).

a. Eine Divergenzrüge hätte denkbarerweise darauf gestützt werden können, daß das LAG die - mit Ausnahme der Falschbeantwortung - offenbar beanstandungsfreie Durchführung des Arbeitsverhältnisses nach der Wende bis zur Kündigung nicht in seine Einzelfall- und Interessenabwägung einbezogen hat. Damit könnte es von einem Rechtsgrundsatz etwa der Art ausgegangen sein, daß es für die Rechtswirksamkeit einer Kündigung wegen einer Tätigkeit für das MfS und/oder wegen einer Falschbeantwortung von Fragen hinsichtlich einer solchen Tätigkeit auf das sonstige Verhalten eines Arbeitnehmers nach der Wende nicht mehr ankomme. Es ist auch nicht auszuschließen, daß das Urteil auf diesem Rechtssatz beruht.

Ein solcher Rechtssatz aber stünde, worauf der Prozeßbevollmächtigte der Beschwerdeführerin selbst hingewiesen hat, im Widerspruch zur Rechtsprechung des BVerfG, wonach maßgeblicher Bezugszeitpunkt der Ausspruch der Kündigung ist (BVerfGE 92, 140, 155; vgl. auch BVerfG, LKV 1998, 141). Auch das BAG hat in vergleichbarem Zusammenhang - und ebenfalls zu § 1 Abs. 2 KSchG - ausgeführt, daß die Bewährung im öffentlichen Dienst der Nach-Wende-Zeit im Rahmen der Kündigungsentscheidung mit zu berücksichtigen sei (BAG, NJ 1996, 668, 670; vgl. auch NJ 1997, 52 ).

b. Nachdem schon aus diesem Grunde eine Nichtzulassungsbeschwerde nicht evident aussichtslos gewesen wäre, kann dahinstehen, ob der zuständige Senat des BAG eine Divergenz möglicherweise auch in den Ausführungen des LAG zum Prüfungsmaßstab für eine Kündigung nach § 1 KSchG gesehen hätte. Immerhin hat das LAG ausgeführt, daß insoweit die zu den Sonderkündigungstatbeständen des Einigungsvertrages entwickelten Grundsätze anwendbar seien (S. 10 des Urteils), während das BAG wiederholt betont hat, daß die genannten Kündigungstatbestände nicht ohne weiteres vergleichbar seien (vgl. BAG, NJ, 1997, 606, 607; s. auch BAG, NJ 1996, 668, 669; NJ 1997, 52 und VIZ 1998, 284).

c. Soweit die Beschwerdeführerin geltend macht, daß das LAG einen Beweisantrag dazu übergangen habe, daß die Zusammenarbeit mit dem MfS seinerzeit deshalb ihr Ende gefunden habe, weil das MfS sie wegen nicht aufgegebener Westkontakte nicht mehr für verläßlich genug gehalten habe, bedarf es keiner abschließenden Entscheidung, ob ein solcher Hergang die Gesamtabwägung hätte beeinflussen und deshalb die Nichtzulassungsbeschwerde zum BAG womöglich auch unter diesem Gesichtspunkt hätte Erfolg haben können. Es genügt, daß die Nichtzulassungsbeschwerde schon aus dem dargelegten Grund nicht von vornherein aussichtslos gewesen wäre.

3. Auf Fragen der Begründetheit der Verfassungsbeschwerde, so auch auf die Ausführungen in dem Schriftsatz der Beschwerdeführerin vom 25. Juni 1998, kommt es hiernach nicht an.

Diese Entscheidung ist mit 5 gegen 2 Stimmen ergangen.

Dr. Macke Dr. Dombert
Dr. Knippel Prof. Dr. Mitzner
Prof. Dr. Schöneburg Weisberg-Schwarz
Prof. Dr. Will