Toolbar-Menü
Hauptmenü

VerfGBbg, Beschluss vom 17. Juli 2015 - VfGBbg 9/15 -

 

Verfahrensart: Verfassungsbeschwerde
Hauptsache
entscheidungserhebliche Vorschriften: - LV, Art. 52 Abs. 3 Alt. 2
- VerfGGBbg, § 50
- ZPO, § 179; ZPO, § 180
Schlagworte: - Rechtliches Gehör
- Ersatzzustellung
Zitiervorschlag: VerfGBbg, Beschluss vom 17. Juli 2015 - VfGBbg 9/15 -, https://verfassungsgericht.brandenburg.de

VERFASSUNGSGERICHT
DES LANDES BRANDENBURG

VfGBbg 9/15




IM NAMEN DES VOLKES

B e s c h l u s s

In dem Verfassungsbeschwerdeverfahren

G.,

Beschwerdeführer,

Verfahrensbevollmächtigter:             Rechtsanwalt B.,

 

wegen            Urteil des Amtsgerichts Schwedt/Oder vom 23. September 2014 (14 C 47/14)

hat das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg

am 17. Juli 2015

durch die Verfassungsrichter Möller, Dr. Becker, Dielitz, Dresen, Dr. Lammer, Nitsche, Partikel und Schmidt

beschlossen: 

 

  1. Das Urteil des Amtsgerichts Schwedt/Oder vom 23. September 2014 (14 C 47/14) verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf rechtliches Gehör. Das Urteil wird aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht Eberswalde zurückverwiesen. Der Beschluss vom 2. Dezember 2014 ist damit gegenstandslos.

 

  1. Das Land Brandenburg hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.

 

  1. Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 10.000,00 Euro festgesetzt.

 

 

Gründe:

 

A.

 

Der Beschwerdeführer wendet sich gegen ein amtsgerichtliches Urteil.

 

I.

 

Nachdem das Amtsgericht Mayen einen Mahnbescheid über 432,18 € gegen den Beschwerdeführer erlassen hatte, erging am 18. Januar 2011 ein Vollstreckungsbescheid. Nach der im Aktenausdruck wiedergegebenen Postzustellungsurkunde legte die Postbotin den Vollstreckungsbescheid am 28. Januar 2011 in den zur Wohnung (…) in Oderberg gehörenden Briefkasten ein, die als Zustelladresse des Beschwerdeführers angegeben war.

 

Der Beschwerdeführer legte am 11. März 2014 Einspruch gegen den Vollstreckungsbescheid ein. Nach Abgabe der Sache an das Amtsgericht Schwedt/Oder wies dieses auf die Unzulässigkeit des Einspruchs hin, worauf der Beschwerdeführer unter Beweisantritt geltend machte, er habe den Vollstreckungsbescheid nicht erhalten. Zum angenommenen Zustelldatum im Januar 2011 habe er nicht mehr in der Wohnung seiner Mutter in der (…) in Oderberg, sondern bei einer anderen Person unter der Anschrift (…) in Oderberg gewohnt.

 

Das Amtsgericht Schwedt/Oder verwarf den Einspruch mit Urteil vom 23. September 2014 (14 C 47/14), dem Beschwerdeführer am 2. Oktober 2014 zugestellt, als unzulässig. Die Einspruchsfrist sei abgelaufen, denn der Vollstreckungsbescheid sei bereits am 28. Januar 2011 zugestellt worden. Wiedereinsetzung sei schon nicht beantragt und der vorgetragene Sachverhalt nicht glaubhaft gemacht worden. Der Beschwerdeführer erhob am 15. Oktober 2014 Anhörungsrüge. Das Amtsgericht habe seinen Vortrag übergangen, dass die Zustellung fehlgeschlagen sei. Das Amtsgericht wies die Anhörungsrüge mit Beschluss vom 2. Dezember 2014, dem Beschwerdeführer am 8. Dezember 2014 zugestellt, zurück. Das Urteil verletze den Anspruch auf rechtliches Gehör nicht. Die Rechtsansicht des Beschwerdeführers, die Rechtsbehelfsfrist habe nicht zu laufen begonnen, treffe nicht zu. Tatsächlich sei die Zustellung des Vollstreckungsbescheids durch Niederlegung mittels öffentlicher Urkunde belegt. Wenn er behaupte, er habe unter der dort genannten Anschrift zum Zeitpunkt der Zustellung nicht mehr gewohnt, so habe er dies glaubhaft machen müssen, um die Richtigkeit des Urkundeninhalts in Frage zu stellen. Daran habe es gefehlt.

 

II.

 

Der Beschwerdeführer hat am 7. Februar 2015 Verfassungsbeschwerde erhoben. Er rügt die Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör. Das Amtsgericht habe entscheidungserhebliches Vorbringen übergangen, indem es die unter Beweis gestellte Behauptung des Beschwerdeführers außer Acht gelassen habe, er habe bereits seit Dezember 2010 nicht mehr unter der Zustellanschrift gewohnt. Dennoch sei das Amtsgericht ohne weitere Begründung davon ausgegangen, dass eine wirksame Zustellung vorliege. Zudem sei sein Vortrag zum Auszug aus der Wohnung der Mutter nicht bestritten worden und daher der gerichtlichen Entscheidung zugrunde zu legen gewesen. Danach sei die Zustellung des Vollstreckungsbescheids unter der Anschrift seiner Mutter unwirksam. Auch eine Ersatzzustellung sei fehlgeschlagen. §§ 178, 180 Zivilprozessordnung (ZPO) setzten voraus, dass er tatsächlich unter der Zustellanschrift wohnhaft gewesen sei.

 

Darüber hinaus verstoße das Urteil gegen das Willkürverbot, denn es sei unter keinem rechtlichen Aspekt vertretbar. Der Aktenausdruck erbringe nicht den Vollbeweis für eine ordnungsgemäße Zustellung, sondern sei nur ein Indiz. Dass der Beschwerdeführer verpflichtet gewesen sein solle, den Wegzug glaubhaft zu machen, treffe nicht zu. Tatsächlich trete er sogar den (Voll-)Beweis für den Wegzug an. Das Urteil sei unter Außerachtlassung der zwingenden gesetzlichen Regelungen zur Zustellung ergangen und schneide ihm durch das Erfordernis der Glaubhaftmachung die Möglichkeit ab, den Beweis für seine Behauptungen zu erbringen.

 

III.

 

Die Klägerin des Ausgangsverfahrens hat zur Verfassungsbeschwerde Stellung genommen. Die Verfahrensakten waren beigezogen.

 

B.

 

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet.

 

Das Urteil des Amtsgerichts Schwedt/Oder vom 23. September 2014 verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf rechtliches Gehör nach Art. 52 Abs. 3 Alt. 2 Landesverfassung (LV).

 

Der grundrechtliche Anspruch auf rechtliches Gehör gewährleistet, dass ein Gericht seiner Entscheidung nur solche Tatsachen oder Beweisergebnisse zugrunde legt, zu denen es den Beteiligten zuvor Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hatte, und dass es rechtzeitiges und möglicherweise erhebliches Vorbringen bei seiner Entscheidung in Betracht zieht (st. Rspr., vgl. etwa Beschlüsse vom 15. September 1994 - VfGBbg 10/93 -, LVerfGE 2, 179, 182; vom 16. Juni 2005 - VfGBbg 2/05 -, LVerfGE 16, 157, 162; vom 10. Mai 2007 - VfGBbg 8/07 -, LVerfGE 18, 150, 157). Bedeutung und Tragweite des Gehörsgrundrechts müssen auch bei der Auslegung und Anwendung des jeweiligen Prozessrechts beachtet werden, das gerade darauf angelegt ist, dem Rechtsschutzsuchenden rechtliches Gehör zu ermöglichen. Demzufolge müssen gerichtliche Zustellungsvorschriften, die unter anderem gewährleisten sollen, dass der Adressat tatsächlich Kenntnis von einem Schriftstück erhält und seine Rechtsverteidigung darauf einrichten kann, so ausgelegt werden, dass das Grundrecht auf rechtliches Gehör verwirklicht werden kann (vgl. BVerfGE 67, 208, 211; NJW-RR 2010, 421, 422). An ihre Anwendung und Auslegung dürfen keine überspannten Anforderungen gestellt werden. Das gilt umso mehr, wenn dabei der erste Zugang zum Gericht infrage steht (vgl. Beschluss vom 16. Mai 2002 - VfGBbg 46/02 - NStZ-RR 2002, 239; BVerfG NJW 2007, 2241; BayVerfGH BayVBl. 2008, 674).

 

Die vom Amtsgericht Schwedt/Oder im angegriffenen Urteil vorgenommene Auslegung der Zustellvorschriften wird diesen Anforderungen nicht gerecht.  Das Urteil beruht auf einer verfassungsrechtlich nicht mehr vertretbaren Anschauung von Bedeutung und Tragweite des Anspruchs auf rechtliches Gehör, indem es angenommen hat, dem Beschwerdeführer sei am 28. Januar 2011 ein Vollstreckungsbescheid wirksam zugestellt worden.

 

Die Zustellungsvorschriften ermöglichen eine Zustellung auch dann, wenn das zuzustellende Schriftstück dem Adressaten nicht persönlich übergeben werden kann, jedoch die Gewähr besteht, dass er von dem Schriftstück Kenntnis erlangt, etwa durch Einwurf in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten (§ 180 ZPO). Demzufolge ist eine solche Ersatzzustellung im Lichte des Gehörsgrundrechts nur dann wirksam, wenn der Schuldner unter der Zustellungsanschrift tatsächlich wohnt (vgl. BVerfG NJW 1992, 224, 225; NStZ-RR 1997, 70; BGH NJW 2011, 2440, 2441; NJW-RR 2010, 489). Liegt ein Nachweis über die förmliche Zustellung vor, darf sich das Gericht allerdings regelmäßig darauf verlassen, dass der Adressat das zuzustellende Schriftstück erhalten hat, auch wenn sich die Beweiskraft der Zustellurkunde nicht darauf erstreckt, wo der Zustelladressat tatsächlich wohnt (vgl. BVerfG NJW 1992, 224, 225; NStZ-RR 1997, 70). Die Erklärung des Zustellers, er habe den Zustellungsadressaten in seiner Wohnung nicht angetroffen, ist ein beweiskräftiges Indiz dafür, dass der Zustellungsempfänger unter der Zustellungsanschrift wohnt (vgl. BVerfG NJW 1992, 224, 225). Die Indizwirkung der Ersatzzustellung und ihre Beurkundung kann jedoch durch eine plausible, schlüssige Darstellung entkräftet werden, die sich nicht in einem schlichten Bestreiten erschöpft, unter der Zustellungsanschrift zu wohnen. Der Zustellungsempfänger muss regelmäßig den anderweitigen Ort seines Lebensmittelpunktes offenlegen, wobei sich das Maß der gebotenen Substantiierung nach den Umständen des Einzelfalles richtet (vgl. BVerfG NJW 1992, 224, 225; NStZ-RR 1997, 70; allgemein Stöber, in: Zöller, ZPO, 30. Aufl. § 178 Rn. 29). Genügt der Vortrag des Zustellungsempfängers diesen Anforderungen, so hat das Gericht sich unter Berücksichtigung aller ihm zugänglichen Informationen darüber zu vergewissern, ob er unter der Zustellungsadresse wohnt und gegebenenfalls darüber Beweis zu erheben.

 

Das Amtsgericht hat diese Grundsätze nicht beachtet, indem es ohne ausreichende Prüfung der vom Beschwerdeführer insoweit vorgebrachten Einwände von einer ordnungsgemäßen Zustellung des Vollstreckungsbescheids ausgegangen ist und den Einspruch infolgedessen als unzulässig verworfen hat.

 

Das Amtsgericht hat angenommen, die im maschinellen Aktenausdruck des Amtsgerichts Mayen wiedergegebene Zustellungsurkunde, die den vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen erbringt (§ 700 Abs. 3 Satz 2, § 696 Abs. 2 ZPO), belege, dass der Vollstreckungsbescheid dem Beschwerdeführer am 28. Januar 2011 im Wege der Ersatzzustellung zugestellt worden ist. Dem klaren und vollständigen Vorbringen des Beschwerdeführers, er habe zu diesem Zeitpunkt bereits unter der Anschrift (…) in Oderberg gewohnt, wofür er zudem Beweis durch Benennung von zwei Zeugen – eines Umzugshelfers und des Wohnungsgebers – antrat, ist es nicht nachgegangen. Vielmehr hat es die Auffassung vertreten, der Beschwerdeführer habe es versäumt, seine Behauptung glaubhaft zu machen. Angesichts der Bedeutung der Zustellung für den ersten Zugang des Beschwerdeführers zum Gericht und damit für die Wahrung des rechtlichen Gehörs muss sich das Fachgericht im Rahmen der Beurteilung der Verfahrensvoraussetzungen darüber vergewissern, dass der Vollstreckungsbescheid dem Antragsgegner tatsächlich bekannt gegeben wurde. Es muss daher in Fällen wie dem vorliegenden prüfen, ob der Vortrag zum (Nicht-)Vorhandensein eines Wohnsitzes unter der Zustellungsadresse hinreichend substantiiert und schlüssig ist und deshalb Anlass besteht, sich über den tatsächlichen Wohnsitz zu vergewissern. Dem hat sich das Amtsgericht entzogen, indem es das formale Erfordernis einer Glaubhaftmachung des Vorbringens aufgestellt und damit Überlegungen zur Schlüssigkeit des Vorbringens des Beschwerdeführers umgangen hat, obwohl es aus verfassungsrechtlicher Sicht geboten gewesen wäre, dem Zweifel an einer wirksamen Zustellung des Vollstreckungsbescheids weckenden Vorbringen des Beschwerdeführers nachzugehen. Dessen konkrete Angaben begründeten gewichtige Bedenken gegen die Richtigkeit der Urkunde, deren Beweiskraft (§ 418 ZPO) sich gerade nicht darauf erstreckt, dass der Zustellungsempfänger unter der Zustellungsanschrift tatsächlich wohnt. Diesen Bedenken ist das Amtsgericht zum Nachteil des Beschwerdeführers nicht nachgegangen, obwohl sich dies aufgedrängt hätte (vgl. BayVerfGH BayVBl 2008, 674, 675)

 

Abgesehen davon, dass der Wortlaut des etwas eingehender begründeten Beschlusses über die Anhörungsrüge eher den Eindruck nahelegt, das Amtsgericht sei von einem grundsätzlich anderen Verständnis der Beweiswirkung der Zustellungsurkunde ausgegangen, überdehnt es mit der Forderung der Glaubhaftmachung jedenfalls die Anforderungen an den vom Zustellempfänger zu haltenden Vortrag in einer mit der Bedeutung von Art. 52 Abs. 3 Alt. 2 LV nicht mehr zu vereinbarenden Weise. Es ist Sache des Gerichts, sich gegebenenfalls im Wege des Freibeweises darüber Gewissheit zu verschaffen, ob und wann der Vollstreckungsbescheid zugestellt worden ist (vgl. BGH DGVZ 2008, 83; NJW 2000, 814). Bestreitet der Zustellempfänger, dass er unter der Zustellanschrift gewohnt hat, schuldet er mangels abweichender gesetzlicher Regelungen schon einfachrechtlich lediglich einen schlüssigen und substantiierten Vortrag, nicht aber dessen Glaubhaftmachung (vgl. § 294 Abs. 1 ZPO). Wird die sachliche Überprüfung der Zustellung dennoch rein formal davon abhängig gemacht, dass der Vortrag glaubhaft gemacht worden ist, schränkt das den Zugang zum Gericht in unverhältnismäßiger Weise ein. So liegt es hier. Obwohl der Beschwerdeführer im gerichtlichen Verfahren die Umstände seines Auszugs aus der bisherigen Wohnung um Weihnachten 2010 herum näher geschildert und eine von der Zustellanschrift abweichende Wohnanschrift angegeben hatte, verlangt das Amtsgericht eine Glaubhaftmachung dieses klaren und vollständigen Vortrags, ohne sich in der Sache damit zu befassen, ob der Vortrag Anlass zu Zweifeln an der Zustellung des Vollstreckungsbescheides bieten könnte. Dazu hätte jedoch umso mehr Anlass bestanden, als der Beschwerdeführer, wie er zu Recht bemerkt, sein Vorbringen vorliegend sogar unter Beweis gestellt hat.

 

Das Urteil vom 23. September 2014 beruht auf der festgestellten Gehörsverletzung. Es ist nicht auszuschließen, dass das Amtsgericht für den Beschwerdeführer günstiger entschieden hätte, wenn es erkannt hätte, dass es nicht auf die Glaubhaftmachung des Vorbringens des Beschwerdeführers ankam und daher dessen Beweisangeboten nachgegangen wäre.

 

C.

 

Das Urteil vom 23. September 2014 ist gemäß § 50 Abs. 3 VerfGGBbg aufzuheben. Der die Anhörungsrüge zurückweisende Beschluss vom 2. Dezember 2014 ist damit gegenstandslos geworden. Das Verfassungsgericht macht von der Befugnis nach § 50 Abs. 3 VerfGGBbg Gebrauch und verweist die Sache an das nach § 2 Abs. 1 Nr. 6 Brandenburgisches Gerichtsorganisationsgesetz für das Gebiet der Gemeinde Oderberg, dem Wohnsitz des Beschwerdeführers, schon von Anfang an örtlich zuständige Amtsgericht Eberswalde zurück.

 

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 32 Abs. 7 Satz 1 VerfGGBbg. Der Gegenstandswert ist nach § 33 Abs. 1, § 37 Abs. 2 Satz 2 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz auf 10.000,00 Euro festzusetzen.

 

Der Beschluss ist einstimmig ergangen. Er ist unanfechtbar.

Möller Dr. Becker
   
Dielitz Dresen
   
Dr. Lammer Nitsche
   
Partikel Schmidt