VerfGBbg, Beschluss vom 17. Mai 2013 - VfGBbg 4/13 EA -
Verfahrensart: |
Verfassungsbeschwerde EA |
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entscheidungserhebliche Vorschriften: | - VerfGGBbg, § 30 Abs. 1 - BGB, § 1629 Abs. 1 |
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Schlagworte: | - Abwägung - Gemeinwohl - Sorgerechtsstreit - Ergänzungspfleger - Minderjähriger |
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Zitiervorschlag: | VerfGBbg, Beschluss vom 17. Mai 2013 - VfGBbg 4/13 EA -, https://verfassungsgericht.brandenburg.de |
DES LANDES BRANDENBURG
VfGBbg 4/13 EA
IM NAMEN DES VOLKES
B e s c h l u s s
In dem Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
1. Z.,
Antragstellerin zu 1),
2. K.,
Antragstellerin zu 2),
Verfahrensbevollmächtigte: Rechtsanwältin H.,
wegen des Beschlusses des Amtsgerichts Brandenburg an der Havel vom 22. September 2011 (Az.: 42 F 283/10) und der Beschlüsse des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 19. Juli 2012 und 20. Dezember 2012 (Az.: 15 UF 296/11)
hat das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg
durch die Verfassungsrichter Möller, Dr. Becker, Dielitz, Dresen, Dr. Lammer, Nitsche und Schmidt
am 17. Mai 2013
b e s c h l o s s e n :
Die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung und auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe werden zurückgewiesen.
G r ü n d e:
A.
Die Antragstellerinnen begehren den Erlass einer einstweiligen Anordnung in einer familienrechtlichen Angelegenheit.
I.
Die im Februar 2001 geborene Antragstellerin zu 2) ist die gemeinsame Tochter der Antragstellerin zu 1) und des äußerungsberechtigten K. Die Eltern haben in der Vergangenheit eine Vielzahl von familiengerichtlichen Auseinandersetzungen geführt, die insbesondere das Sorgerecht und das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die Antragstellerin zu 2) betrafen.
Mit Beschluss des Amtsgerichts Potsdam vom 23. Februar 2006 war das Sorgerecht dem Kindesvater übertragen worden. Im anschließenden Beschwerdeverfahren übertrug das Brandenburgische Oberlandesgericht das Aufenthaltsbestimmungsrecht, das Recht der Gesundheitssorge und das Recht der Schulwahl dem Kindesvater; im Übrigen verblieb es bei der gemeinsamen elterlichen Sorge.
Im Mai 2008 beantragte die Antragstellerin zu 1) beim Amtsgericht Potsdam erneut die Übertragung des Sorgerechts und begründete dies mit dem Verdacht des sexuellen Missbrauchs der Antragstellerin zu 2) durch den Kindesvater und den Großvater väterlicherseits, nahm diesen Antrag aber nach einer vom Gericht veranlassten Begutachtung des Kindes zurück.
Im März 2010 wurde die Antragstellerin zu 2) – zunächst mit Einverständnis des Kindesvaters – in einer Pflegefamilie untergebracht, bei der sie bis heute lebt. Umgang mit den Eltern findet seitdem an jedem Wochenende statt, und zwar im Wechsel jeweils am Samstag mit dem einen und am Sonntag mit dem anderen Elternteil.
Nachdem der Kindesvater sein Einverständnis mit der Unterbringung der Antragstellerin zu 2) in der Pflegefamilie zurückgezogen hatte, beantragte das zuständige Jugendamt eine familiengerichtliche Entscheidung über die Fortsetzung der Inobhutnahme. Das Amtsgericht Potsdam entzog dem Kindesvater daraufhin per einstweiliger Anordnung das Aufenthaltsbestimmungsrecht und die Gesundheitssorge für die Antragstellerin zu 2) und bestellte das Jugendamt insoweit zum Ergänzungspfleger.
Nachfolgend holte das Jugendamt eine Stellungnahme zweier Psychotherapeutinnen zur Situation der Antragstellerin zu 2) ein. Diese vertraten in ihrem Bericht die Ansicht, dass die Antragstellerin zu 2) durch den neutralen und emotional sicheren Ort der Pflegefamilie bei durchgängig und gleich verteilten Kontakten zum mütterlichen und väterlichen Familiensystem in eine gesunde Balance gekommen sei, die es ihr ermögliche, zu einem normalen kindlichen Verhalten zurückzufinden. Das Sorgerecht sollte einer neutralen dritten Partei übertragen werden, die dann peinlich genau auf eine Gleichbehandlung zwischen den zerstrittenen Familiensystemen achten sollte. Der langjährige Rechtsstreit und der unbelehrbare Widerstand der Eltern gegenüber einer angemessenen Aussöhnung und verantwortungsvollen Sachlichkeit führten zu einer fortlaufenden Schädigung des Kindes. Im Hinblick auf das elterliche Unvermögen sei aus therapeutischer Sicht die weitere Unterbringung in der Pflegfamilie dringend zu empfehlen.
Das Jugendamt schloss sich dieser Einschätzung mit Schreiben an das Familiengericht vom 28. Oktober 2010 an. Das Amtsgericht Potsdam leitete daraufhin ein Verfahren nach § 1666 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ein und verwies dieses an das örtlich zuständige Amtsgericht Brandenburg an der Havel.
Nach Einholung eines psychologischen Sachverständigengutachtens übertrug das Amtsgericht mit Beschluss vom 22. September 2011 das Aufenthaltsbestimmungsrecht und die Gesundheitssorge dem Jugendamt als Ergänzungspfleger. Nach den überzeugenden und nachvollziehbaren Ausführungen der Sachverständigen komme aus Gründen des Kindeswohls weder eine Rückkehr in den Haushalt der Antragstellerin zu 1) noch in den des Vaters in Betracht.
Gegen diesen Beschluss legten die Eltern Beschwerde ein, die Antragstellerin zu 1) verband diesen mit dem Antrag, ihr das alleinige Sorgerecht zu übertragen.
Das Brandenburgische Oberlandesgericht hörte im Termin vom 21. Juni 2012 u. a. die Antragstellerin zu 2) an. Mit Beschluss vom 19. Juli 2012 hob es auf die Beschwerde des Kindesvaters den angegriffenen Beschluss des Amtsgerichts auf. Zugleich ordnete das Oberlandesgericht den Verbleib der Antragstellerin zu 2) in der Pflegefamilie an. Die Beschwerde der Antragstellerin zu 1) wurde zurückgewiesen. Es sei nicht erforderlich, dem Kindesvater das Aufenthaltsbestimmungsrecht und das Recht zur Gesundheitssorge zu entziehen. Zur Abwendung der Kindeswohlgefahr reiche eine Verbleibensanordnung nach § 1632 Abs. 4 BGB aus. Der Antrag der Kindesmutter auf Übertragung des gesamten Sorgerechts sei demgegenüber unbegründet. Der Senat habe mit Beschluss vom 31. August 2006 angeordnet, dass es grundsätzlich beim gemeinsamen Sorgerecht bleibe. Eine Abänderung dieses Beschlusses komme gemäß § 1696 BGB nur in Betracht, wenn dies aus triftigen, dem Wohl des Kindes nachhaltig berührenden Gründen angezeigt sei. Zwar entspreche es dem gefestigten Willen des Kindes, bei seiner Mutter zu leben. Eine Übertragung des gesamten Sorgerechts oder von Teilbereichen der elterlichen Sorge könne gleichwohl nicht erfolgen, da das Kindeswohl im Haushalt der Antragstellerin zu 1) gefährdet sei. Die Antragstellerin zu 1) sei nicht in der Lage, den Kindesvater in seiner Elternrolle anzuerkennen und dessen Bindungen zu der Antragstellerin zu 2) zu fördern. Dies belegten sämtliche eingeholte Sachverständigengutachten. Zudem beharre die Antragstellerin zu 1), obwohl es belastbare Beweise dafür nicht gebe, nach wie vor darauf, dass der Kindesvater die Antragstellerin zu 2) sexuell missbraucht habe. Im Falle des Wechsels der Antragstellerin zu 2) in den Haushalt der Mutter sei ein Abbruch der Beziehungen zum Vater zu befürchten. Die Kindesmutter sei ohne weiteres bereit, die Antragstellerin zu 2) im „Kampf“ um das Kind weiteren Belastungen auszusetzen. So habe sie ihre Tochter kurz vor dem Senatstermin von einer Psychologin zum sexuellen Missbrauch befragen lassen, obwohl die Antragstellerin zu 2) mehrfach zu verstehen gegeben habe, dass sie keine Befragungen mehr wolle.
Die gegen diesen Beschluss erhobene Anhörungsrüge der Antragstellerin zu 1) wies das Brandenburgische Oberlandesgericht mit Beschluss vom 20. Dezember 2012 zurück, der der Antragstellerin zu 1) nach ihren Angaben am 10. Januar 2013 zugegangen ist.
B.
Die Antragstellerin zu 1) hat am Montag, 11. März 2013, im eigenen Namen und im Namen der Antragstellerin zu 2) Verfassungsbeschwerde erhoben und zugleich einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. Mit der Verfassungsbeschwerde wird die Verletzung der Art. 2 Abs. 1, 3 Abs. 1, 6 Abs. 2, 101 Abs. 1 Satz 2 und 103 Abs. 1 Grundgesetz bzw. gleichlautendem Landesrecht sowie der Art. 7, 9, 10, 12 und 17 Verfassung des Landes Brandenburg (LV) gerügt. Zur Begründung des Eilantrags wird vorgetragen, eine Folgenabwägung lasse eine einstweilige Anordnung vertretbar erscheinen. Ergehe die einstweilige Anordnung nicht, so werde das Elternrecht der Antragstellerin zu 1) durch die staatlichen Behörden weiterhin unterlaufen und eine Entwicklungsschädigung der Antragstellerin zu 2) durch die staatlich verfügte Trennung von der Herkunftsfamilie billigend in Kauf genommen. Ergehe demgegenüber die einstweilige Anordnung, so seien Nachteile für die Antragstellerinnen und insbesondere für die Entwicklung des betroffenen Kindes nicht zu befürchten.
Die Antragstellerinnen beantragen, im Wege der einstweiligen Anordnung
1. zu bestimmen, dass die Antragstellerin zu 2) sich bis zur Entscheidung in der Hauptsache unverzüglich und uneingeschränkt im Haushalt der Antragstellerin zu 1) aufhalten kann und mit sofortiger Wirkung an die Antragstellerin zu 1) herauszugeben ist,
2. den Beschluss des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 19. Juli 2012 und dessen Vollstreckung bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde auszusetzen.
C.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zurückzuweisen.
I.
1. Der Antrag ist hinsichtlich der Antragstellerin zu 2) schon unzulässig. Es fehlt an einer wirksamen Vollmachtserteilung an die Verfahrensbevollmächtigte. Die von der Antragstellerin zu 1) ausgestellte Vollmacht ist bereits deshalb nicht ausreichend, weil die minderjährige Antragstellerin zu 2) gemäß § 1629 Abs. 1 Satz 2 BGB nur gemeinschaftlich durch ihre Eltern vertreten werden kann, denen das Sorgerecht vorliegend gemeinsam zusteht. Überdies scheitert die Zulässigkeit des Antrags an einem nicht auszuschließenden Widerstreit zwischen dem wohlverstandenen Interesse der Antragstellerin zu 2) und ihren Eltern, denen die Fachgerichte aus Gründen des Kindeswohls wesentliche Teile des elterlichen Sorgerechts entzogen haben. Die in einer solchen Situation erforderliche Bestellung eines Ergänzungspflegers für das Verfassungsbeschwerdeverfahren hat die Antragstellerin zu 1) nicht betrieben (vgl. zum Bundesrecht: BVerfGE 72, 122, 133 ff und BVerfG, Beschluss vom 14. April 2009 – 1 BvR 467/09 -, juris; ebenso VerfGH Berlin, Beschluss vom 7. Juni 2011 – 38 A/11 -, juris).
2. Hinsichtlich der Antragstellerin zu 1) ist der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zurückzuweisen, weil es an den Voraussetzungen des § 30 Abs. 1 VerfGGBbg fehlt. Danach kann das Verfassungsgericht einen Zustand durch eine einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichts ist insoweit ein strenger Maßstab anzulegen. Die nachteiligen Folgen, die ohne die einstweilige Anordnung für den Fall des Obsiegens in der Hauptsache zu erwarten sind, müssen im Vergleich zu den nachteiligen Folgen, die sich bei Erlass der einstweiligen Anordnung für den Fall der Erfolglosigkeit in der Hauptsache ergeben, deutlich überwiegen, weil sie sonst bei vergleichender Betrachtungsweise nicht schwer genug im Sinne des Gesetzes sind („schwerer Nachteil“) bzw. keinen gleichwertigen „anderen“ Grund im Sinne des Gesetzes darstellen. Bei der Abwägung sind im Allgemeinen nur irreversible Nachteile zu berücksichtigen (vgl. Beschlüsse vom 20. Mai 2010 – VfGBbg 9/10 EA –, vom 30. September 2010 – VfGBbg 8/10 EA – und vom 22. Februar 2013 – 1/13 EA -, jeweils www.verfassungsgericht.brandenburg.de).
Solche deutlich überwiegenden und irreversiblen Nachteile sind nicht erkennbar. Die von der Antragstellerin zu 1) angeführten nachteiligen Folgen der angegriffenen Beschlüsse, namentlich die Beeinträchtigung ihres Elternrechts und die aus ihrer Sicht zu befürchtende Entwicklungsschädigung der Antragstellerin zu 2), wiegen jedenfalls nicht schwerer als der Schaden, der drohte, wenn nach Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung eine Gefährdung oder gar Verletzung des Kindeswohls durch eine Rückkehr des Kindes in den Haushalt der Antragstellerin zu 1) festgestellt würde. Insoweit ist auf die entsprechenden Tatsachenfeststellungen und Tatsachenwürdigungen in den angegriffenen Entscheidungen zu verweisen, die der nach § 30 Abs. 1 VerfGGBbg gebotenen und in Fällen der vorliegenden Art vorrangig am Kindeswohl zu orientierenden Folgenabwägung grundsätzlich zugrunde zu legen sind (vgl. zum Bundesrecht: BVerfG, Beschluss vom 4. Februar 2011 – 1 BvR 303/11 -, juris, m. w. N.).
Darüber hinaus fehlt es auch an dem durch § 30 Abs. 1 VerfGGBbg aufgestellten Erfordernis, dass die begehrte einstweilige Anordnung „zum gemeinen Wohl“ dringend geboten sein muss (st. Rspr., vgl. Urteil vom 4. März 1996 – VfGBbg 3/96 EA -, LVerfGE 4, 109, 113; Beschluss vom 20. Februar 2003 – VfGBbg 1/03 EA -; Beschluss vom 6. Juli 2012 – VfGBbg 5/12 EA -; Beschluss vom 17. August 2012 – VfGBbg 6/12 EA -, jeweils www.verfassungsgericht.brandenburg.de). Es ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass das gemeine Wohl durch den vorliegenden familienrechtlichen Einzelfall betroffen wird.
II.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das einstweilige Anordnungsverfahren ist mangels hinreichender Erfolgsaussicht ebenfalls zurückzuweisen.
III.
Der Beschluss ist einstimmig ergangen. Er ist unanfechtbar
Möller | Dr. Becker |
Dielitz | Dresen |
Dr. Lammer | Nitsche |
Schmidt | |