VerfGBbg, Beschluss vom 17. März 1994 - VfGBbg 1/94 -
Verfahrensart: |
Verfassungsbeschwerde Hauptsache |
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entscheidungserhebliche Vorschriften: | - LV, Art. 6 Abs. 2; LV, Art. 7 Abs. 1 - VerfGGBbg, § 45 Abs. 2 Satz 2 - StPO, § 458 - EV, Art. 18 Abs. 1 |
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Schlagworte: | - Strafvollstreckungsrecht - Strafprozeßrecht - Rechtswegerschöpfung - Beschwerdegegenstand - Vorabentscheidung - Beschwerdefrist - Fristversäumung - Verhältnismäßigkeit |
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nichtamtlicher Leitsatz: | 1. Ein rechtskräftig Verurteilter, der sich mit der Verfassungsbeschwerde gegen die unmittelbar bevorstehende Vollstreckung einer Freiheitsstrafe wendet, kann in der Regel nicht auf die vorherige Erschöpfung des Rechtsweges verwiesen werden. 2. Zur Frage der Vollstreckbarkeit einer von einem Strafgericht der ehemaligen DDR verhängten kurzen Freiheitsstrafe. |
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Fundstellen: | - NJ 1995, 28 - LVerfGE 2, 88 |
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Zitiervorschlag: | VerfGBbg, Beschluss vom 17. März 1994 - VfGBbg 1/94 -, https://verfassungsgericht.brandenburg.de |
DES LANDES BRANDENBURG
VfGBbg 1/94

B E S C H L U S S | ||||||||||||
In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Herrn H., Beschwerdeführer, Verfahrensbevollmächtigter: Rechtsanwalt S., gegen die Vollstreckung aus dem Urteil des Kreisgerichts Neuruppin vom 29.8.1989 hat das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg am 17. März 1994 b e s c h l o s s e n : Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen. G r ü n d e : A. Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner am 1. März 1994 erhobenen Verfassungsbeschwerde gegen die Zulässigkeit der Vollstreckung des gegen ihn ergangenen Strafurteils des Kreisgerichts Neuruppin vom 29. August 1989. Hilfsweise begehrt er die Aussetzung der Vollstreckung bis zur Entscheidung über ein Gnadengesuch bzw. einen Rehabilitierungsantrag. I. Das Kreisgericht Neuruppin verurteilte den bis November 1989 in der vormaligen DDR lebenden Beschwerdeführer durch Urteil vom 29. August 1989 (S 133/89) wegen mehrfachen sexuellen Mißbrauchs von Kindern gemäß §§ 148 Abs. 1, 63 Abs. 2 StGB/DDR zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten. Die gegen diese Verurteilug gerichtete Berufung verwarf das Bezirksgericht Potsdam mit Beschluß vom 6. Oktober 1989 (BS8 506/89) als offensichtlich unbegründet. Durch § 1 des Gesetzes zum teilweisen Straferlaß vom 28. September 1990 (GBl. DDR I S. 1987) wurde die siebenmonatige Freiheitsstrafe um ein Drittel auf nunmehr vier Monate und 20 Tage ermäßigt. Das vom Beschwerdeführer eingeleitete Kassationsverfahren blieb erfolglos. Das Bezirksgericht Frankfurt/Oder verwarf den Antrag mit Beschluß vom 20. März 1992 als offensichtlich unbegründet. Weder beruhe die Entscheidung auf einer schwerwiegenden Verletzung des Gesetzes noch sei sie im Strafausspruch gröblich unrichtig oder mit rechtsstaatlichen Maßstäben unvereinbar. Unter dem 26. August und dem 30. August 1993 richtete der Beschwerdeführer Gnadengesuche an den Minister der Justiz und den Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg mit dem Ziel, die gegen ihn verhängte Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen. Der Minister der Justiz traf am 11. November 1993 eine ablehnende Gnadenentscheidung. Ein wiederholtes Gnadengesuch an den Ministerpräsidenten vom 2. Dezember 1993 lehnte der Minister der Justiz mit Schreiben vom 18. Dezember 1993 gleichermaßen ab. Gegen diese Ablehnung der Gnadenentscheidung wandte sich der Beschwerdeführer am 17. Januar 1994 mit einer Verfassungsbeschwerde sowie einem Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung an das Bundesverfassungsgericht, das die Verfassungsbeschwerde durch Beschluß vom 2. Februar 1994 nicht zur Entscheidung annahm. Am 11. Januar 1994 stellte die Staatsanwaltschaft Potsdam dem Beschwerdeführer erstmals eine Ladung zum Strafantritt zu. Unter dem 24. Januar 1994 richtete der Beschwerdeführer an das Amtsgericht Neuruppin und die Staatsanwaltschaft Potsdam ein Begehren auf vorübergehenden Aufschub der Vollstreckung gemäß § 456 StPO. Die Staatsanwaltschaft lehnte dies mit Schreiben vom 1. Februar 1994 ab. Unter dem 4. Februar 1994 erhielt der Beschwerdeführer eine neuerliche Ladung zum Strafantritt, wonach er binnen 14 Tagen seit ihrer Zustellung die Strafe anzutreten habe. Am 7. Februar 1994 richtete der Beschwerdeführer ein weiteres Gnadengesuch an den Minister der Justiz, das am 10. März 1994 abschlägig beschieden wurde. Am 14. Februar 1994 folgte ein Antrag auf Rehabilitierung an das Landgericht Potsdam mit dem Begehren, das Strafurteil für rechtswidrig zu erklären und aufzuheben, hilfsweise, die Strafe zur Bewährung auszusetzen. Über diesen Antrag ist noch nicht entschieden worden. II. Mit seiner Verfassungsbeschwerde macht der Beschwerdeführer eine Verletzung sowohl des Grundrechts der Menschenwürde als auch des Gleichheitssatzes durch das nunmehr eingeleitete Vollstreckungsverfahren geltend. Er ist der Auffassung, die Vollstreckung der inzwischen beinahe viereinhalb Jahre zurückliegenden rechtskräftigen Verurteilung verletze ihn in diesen Grundrechten. Den Grundrechtsverstoß sieht der Beschwerdeführer namentlich darin, daß die Freiheitsstrafe nach seiner Übersiedlung in das Gebiet der alten Bundesrepublik Deutschland allein infolge der Herstellung der Einheit Deutschlands vollstreckt werde. Überdies hält er die Strafvollstreckung wegen der inzwischen vergangenen Zeitspanne und der für unausweichlich gehaltenen nachteiligen Folgen für seine berufliche und private Existenz für unverhältnismäßig und rechtsstaatswidrig. Bereits seine Verurteilung zu einer nicht zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe stehe in grobem Mißverhältnis zu der Tat und mißachte ohnehin die Grundrechte des Beschwerdeführers auf Achtung seiner Menschenwürde wie auf Gleichbehandlung. Im Fall der Verurteilung zu einer Bewährungsstrafe, die allein der Tat angemessen gewesen wäre, hätte es wegen seines seither straffreien Lebens zu keiner Strafvollstreckung kommen können. B. Die auf der Grundlage von Art. 6 Abs. 2, 113 Nr. 4 VerfBbg (Verfassung des Landes Brandenburg), §§ 45 ff. VerfGGBbg (Verfassungsgerichtsgesetz) erhobene Verfassungsbeschwerde hat keinen Erfolg. 1) Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, soweit sie sich gegen das Strafurteil richtet. Mängel eines Strafverfahrens können nur mit der Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil selbst geltend gemacht werden (BVerfGE 15, 309, 311). Der Beschluß des Bezirksgerichts Frankfurt (Oder) vom 20. März 1992 (1 (2) BSK 96/90), mit dem die Kassation als offensichtlich unbegründet verworfen ist, ist gemäß § 47 Abs. 1 Satz 1 VerfGGBbg schon mangels Einhaltung der Beschwerdefrist mit der Verfassungsbeschwerde nicht mehr angreifbar. 2) Die Verfassungsbeschwerde ist weiterhin unzulässig, soweit sie sich ersichtlich auch gegen die Zulassung der Vollstreckung von Entscheidungen der Strafgerichte der Deutschen Demokratischen Republik auf dem Gebiet der (alten) Bundesrepublik Deutschland allein in Folge der Einheit durch Art. 18. Abs. 1 in Verbindung mit Anlage I Kapitel III Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 14 lit. d) des Einigungsvertrages richtet. Das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg ist nicht berufen, die Vereinbarkeit der bundesrechtlichen Regelungen des Einigungsvertrages mit (Landes- oder Bundes-) Grundrechten zu überprüfen. 3) Die Verfassungsbeschwerde ist allerdings insoweit zulässig, als der Beschwerdeführer geltend macht, die Staatsanwaltschaft als Vollstreckungsbehörde habe bei der Durchführung des Vollstreckungsverfahrens im Rahmen ihrer eigenen Entscheidungsbefugnis Grundrechte verletzt. Gegen die Zulässigkeit spricht nicht, daß dem Beschwerdeführer das Verfahren nach § 458 StPO (gerichtliche Entscheidung bei Strafvollstreckung) noch offen steht und er diesen Rechtsweg noch nicht ausgeschöpft hat. Im vorliegenden Fall kann zweifelhaft sein, ob im Hinblick auf Art. 18 Abs. 1 in Verbindung mit Anlage I Kapitel III Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 14 lit. d) des Einigungsvertrages der Beschwerdeführer vor dem Amtsgericht mit seinem Vortrag, er werde durch die Vollstreckung in seinen Grundrechten verletzt, Gehör findet. Jedoch ent- stünde dem Beschwerdeführer ein schwerer und unabwendbarer Nachteil im Sinne des § 45 Abs. 2 Satz 2 VerfGGBbg, falls er zunächst auf die Ausschöpfung des Rechtsweges verwiesen würde. Denn unabhängig von der Einlegung des Antrages auf gerichtliche Entscheidung gegen die Strafvollstreckung könnte gemäß § 458 Abs. 3 Satz 1 HS. 1 StPO mit der Vollstreckung begonnen werden. Bereits darin läge aber die vom Beschwerdeführer behauptete Grundrechtsverletzung. Eine Entscheidung des Verfassungsgerichts käme zu spät. II. Die Verfassungsbeschwerde ist allerdings unbegründet. Eine vor dem Verfassungsgericht des Landes Brandenburg allenfalls zu rügende Verletzung von Landesgrundrechten bei der Anwendung der bundesrechtlichen Vorschriften der Strafprozeßordnung durch die Entscheidung der Staatsanwaltschaft ist im vorliegenden Fall nicht feststellbar. Nach Art. 7 Abs. 1 VerfBbg ist es die vornehmste Pflicht der staatlichen Gewalt, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen. Das Recht auf Achtung seiner Würde kann auch dem Straftäter nicht abgesprochen werden. Auch in der Strafvollstreckung ist zu beachten, daß der Täter nicht unter Verletzung seines verfassungsrechtlich geschützten Wert- und Achtungsanspruches zum bloßen Objekt der Vollstreckung herabgewürdigt wird (BVerfGE 72, 105 (115 f.)). Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe des Beschwerdeführers fünf Jahre nach der Tat verstößt nicht gegen seine Menschenwürde. Wie die Bestimmungen der §§ 78, 79 StPO über die Verfolgungs- und die Vollstreckungsverjährung deutlich machen, läßt die geltende Rechtsordnung einen nach der Schwere der Tat und der Höhe des Strafmaßes abgestuften zeitlichen Abstand zwischen der Begehung der Straftat und der Strafverfolgung bzw. zwischen der Verurteilung und dem Strafvollzug zu. Dies ist verfassungs- rechtlich unbedenklich (BVerfGE 1, 418 (423)). Der vorliegende Fall des Beschwerdeführers läßt keine andere Bewertung zu. Im Hinblick auf den negativen Ausgang des Berufungs- und des Kassationsverfahrens konnte er zu keinem Zeitpunkt schutzwürdig darauf vertrauen, seine Strafe nicht verbüßen zu müssen. Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe des Beschwerdeführers ist auch unter Berücksichtigung ihrer Kürze von 4 Monaten und 20 Tagen verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Sie verstößt auch insoweit nicht gegen seine Menschenwürde. Das Verfassungsgebot, sinn- und maßvoll zu strafen, kann die Verhängung und Vollstreckung auch einer kurzen Freiheitsstrafe in den Fällen erforderlich machen, in denen nach der Überzeugung des Strafgerichts der Täter durch eine Geldstrafe nicht nachhaltig zu beeinflussen ist oder wo um des Bestandes und der Wahrung der Rechtsordnung willen auf die Ahndung des Rechtsbruches mit einer Freiheitsstrafe nicht verzichtet werden kann (BVerfGE 28, 386 (390 f.)). Das Bezirksgericht Frankfurt (Oder) hat in seiner - hier durch das Verfassungsgericht nicht mehr zu überprüfenden - Entscheidung den Strafausspruch des Kreisgerichts Neuruppin als mit rechtsstaatlichen Maßstäben vereinbar erachtet. Es sind für das Verfassungsgericht keinerlei Gründe erkennbar, aus denen der Beschwerdeführer infolge der Herabsetzung seiner Strafe durch das Gesetz zum teilweisen Straferlaß vom 28. September 1990 im Rahmen der Vollstreckung mit denjenigen Straftätern gleichbehandelt werden müßte, gegen die unter Anwendung des § 47 Abs. 1 StGB von vornherein anstelle einer kurzzeitigen Freiheitsstrafe eine Geldstrafe verhängt worden ist. C. Die hilfsweise gestellten Anträge sind durch die erneute Ablehnung des Gnadengesuches bzw. durch die vorstehende Entscheidung gegenstandslos geworden. | ||||||||||||
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