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VerfGBbg, Beschluss vom 16. Oktober 2003 - VfGBbg 67/03 -

 

Verfahrensart: Kommunalverfassungsbeschwerde
Hauptsache
entscheidungserhebliche Vorschriften: - LV, Art. 97; LV, Art. 98 Abs. 2 Satz 3
- VerfGGBbg, § 22 Abs. 1; VerfGGBbg, § 32 Abs. 7
- BRAGO, § 113 Abs. 2 Satz 3
Schlagworte: - kommunale Selbstverwaltung
- Anhörung
- Gemeindegebietsreform
- Gegenstandswert
- Auslagenerstattung
nichtamtlicher Leitsatz: Nichtigkeit der Auflösung einer Gemeinde bei Unterbleiben der Anhörung der Bevölkerung nach Art. 98 Abs. 2 Satz 3 Verfassung des Landes Brandenburg.
Fundstellen: - LKV 2004, 123
- NJ 2003, 644 (nur LS)
- LVerfGE 14, 199
Zitiervorschlag: VerfGBbg, Beschluss vom 16. Oktober 2003 - VfGBbg 67/03 -, https://verfassungsgericht.brandenburg.de

VERFASSUNGSGERICHT
DES LANDES BRANDENBURG

VfGBbg 67/03



IM NAMEN DES VOLKES
 
B E S C H L U S S

In dem verbundenen kommunalen Verfassungsbeschwerdeverfahren

Gemeinden Groß Oßnig, Drieschnitz-Kahsel, Laubsdorf, Roggosen, Groß Döbbern, Kathlow, Gablenz, Koppatz, Frauendorf, Klein Döbbern, Haasow, Komptendorf, Sergen, Bagenz, Neuhausen,
jeweils vertreten durch das Amt Neuhausen/Spree,
dieses vertreten durch den Amtsdirektor,
Amtsweg 1,
03058 Neuhausen,

Beschwerdeführerinnen,

Verfahrensbevollmächtigte: Rechtsanwältin M.,

gegen § 1 des 2. Gemeindegebietsreformgesetzes Brandenburg

hat das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg
durch die Verfassungsrichter Dr. Macke, Prof. Dr. Dombert, Prof. Dr. Harms-Ziegler, Havemann, Dr. Knippel, Prof. Dr. Schröder, Weisberg-Schwarz und Prof. Dr. Will

am 16. Oktober 2003

für R e c h t erkannt:

1. § 1 Absätze 2 und 3 des 2. Gemeindegebietsreformgesetzes Brandenburg vom 24. März 2003 (GVBl I S. 82) verletzen die Beschwerdeführerinnen in ihrem Recht auf kommunale Selbstverwaltung und sind nichtig.

2. Das Land Brandenburg hat den Beschwerdeführerinnen die notwendigen Auslagen nach einem Gegenstandswert von 150.000,00 € zu erstatten.

G r ü n d e :

I.

Die Beschwerdeführerinnen, 15 amtsangehörige Gemeinden, wehren sich gegen ihre Auflösung durch ihre in § 1 Abs. 2 des Zweiten Gesetzes zur landesweiten Gemeindegebietsreform betreffend die kreisfreie Stadt Cottbus und das Amt Neuhausen/Spree (2. GemGebRefGBbg) vom 24. März 2003 (GVBl I S. 82) vorgesehene Zusammenlegung zu einer neuen amtsfreien Gemeinde namens Neuhausen/Spree. Gleichzeitig soll gemäß § 1 Abs. 3 des 2. GemGebRefGBbg das Amt aufgelöst werden. Drei der insgesamt 18 Gemeinden des bisherigen Amtes sollen nach § 1 Abs. 1 des 2. GemGebRefGBbg in die Stadt Cottbus eingegliedert werden. Die Regelungen treten zufolge § 11 Satz 1 des 2. GemGebRefGBbg am Tage der nächsten - auf den 26. Oktober 2003 festgesetzten - landesweiten Kommunalwahlen in Kraft. Inzwischen steht fest, daß zu der konkreten Neugliederungsmaßnahme, nämlich Zusammenlegung von (nur) 15 Gemeinden des bisherigen Amtes zu einer amtsfreien Großgemeinde, keine (förmliche) Anhörung der Bevölkerung stattgefunden hat.

Die Beschwerdeführerinnen beantragen festzustellen, daß

§ 1 des 2. Gemeindegebietsreformgesetzes Brandenburg sie in ihren verfassungsmäßigen Rechten verletzt und nichtig ist.

Der Landtag Brandenburg, die Landesregierung und der Städte- und Gemeindebund Brandenburg hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Landesregierung hat davon Gebrauch gemacht.

II.

Die kommunale Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerinnen, die das Landesverfassungsgericht allein auf die Absätze 2 und 3 (und nicht auch auf die die Beschwerdeführerinnen gar nicht betreffenden weiteren Absätze) des § 1 des 2. GemGebRefGBbg bezieht, ist zulässig und hat Erfolg. § 1 Abs. 2 des 2. GemGebRefGBbg ist unter Verletzung der Landesverfassung zustande gekommen und deshalb nichtig; die Nichtigkeit erfaßt auch § 1 Abs. 3 des GemGebRefGBbg.

1. a) Art. 98 Abs. 2 Satz 3 LV schreibt vor, daß vor einer Änderung des Gemeindegebiets die Bevölkerung der unmittelbar betroffenen Gebiete gehört werden muß. „Änderung des Gemeindegebietes“ in diesem Sinne ist, wie keiner näheren Begründung bedarf, auch die Auflösung einer Gemeinde unter (gänzlichem) Wegfall eines eigenen Gemeindegebietes. Daß Art. 98 Abs. 2 Satz 2 LV die Auflösung von Gemeinden besonders anspricht, um hierfür - wenn die Auflösung gegen den Willen der Gemeinde erfolgen soll - einen Gesetzesvorbehalt zu bestimmen, besagt nicht etwa, daß bei einer Gemeindeauflösung die sonstigen für Gemeindegebietsänderungen geltenden Verfassungsbestimmungen nicht anzuwenden wären. Nach der Systematik des § 98 Abs. 2 LV ist die Gemeindeauflösung vielmehr ein Unterfall der Gemeindegebietsänderung, für den es zusätzlich eines Gesetzes bedarf, wenn die Gemeinde nicht einverstanden ist.

b) Art. 98 Abs. 2 Satz 3 LV gehört - wie auch schon der Gesamtzusammenhang der Art. 97 bis 100 LV nahelegt - zu den Verfassungsbestimmungen mit Bezug auf die kommunale Selbstverwaltung. Das erkennende Gericht ist bereits zu Art. 98 Abs. 2 Satz 2 LV davon ausgegangen, daß ein Verstoß hiergegen einen Eingriff in die kommunale Selbstverwaltung bedeutet (Urteil vom 1. Juni 1995 - VfGBbg 6/95 - LVerfGE 3, 157, 162), und hat sich allgemein auf den Standpunkt gestellt, daß Gegenstand einer kommunalen Verfassungsbeschwerde sämtliche Verfassungsbestimmungen sein können, „die die kommunale Selbstverwaltung prägen oder doch mit der kommunalen Selbstverwaltung - wie dies bei den Anhörungsrechten nach Art. 97 Abs. 4 und 98 Abs. 3 der Fall ist - zu tun haben“ (Urteil vom 29. August 2002 - VfgBbg 15/02 - S. 12 m. w. N., zur Veröffentlichung in LVerfGE bestimmt). In den Kreis dieser Verfassungsbestimmungen fällt auch Art. 98 Abs. 2 Satz 3 LV. Art. 98 ist als demokratisches Element bei Gemeindegebietsänderungen und in Anlehnung an die Verfassung von Baden-Württemberg in die Landesverfassung eingestellt worden (vgl. Dokumentation Verfassung des Landes Brandenburg, Bd. 3, S. 824, 874, 917). Für die damit der Sache nach in Bezug genommene Regelung in Art. 74 Abs. 2 Satz 3 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg hat der Staatsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg die Nachprüfung im verfassungsgerichtlichen Verfahren auf Antrag der Gemeinde ohne weiteres bejaht (StGH BW, Urteile vom 25. April 1975 - GR 6/74 - DÖV 1975, 500 f. und vom 6. Februar 1976 - GR 66/74 - DÖV 1976, 245, 246 f.). Ebenso haben es der Thüringer Verfassungsgerichtshof für die gleichartige Regelung in Art. 92 Abs. 2 Satz 3 der Thüringer Verfassung (vgl. Urteile vom 18. September 1998 - VerfGH 1/97 - VwRR MO 1999, 87, 89 und vom 28. Mai 1999 - VerfGH 39/97 - S. 18 [in LKV 2000, 31 insoweit nicht mit abgedruckt]; teilweise abweichend - jedoch für den Rechtszustand vor Inkrafttreten der Thüringer Verfassung - Urteil vom 18. Dezember 1996 - VerfGH 2/95 und 6/95 -, LVerfGE 5, 391, 411) und der Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen zu Art. 88 Abs. 2 Satz 3 Sächsische Verfassung (vgl. Urteile vom 18. Juni 1999 - Vf. 54-VIII-98 -, SächsVBl 1999, 237, 238 und - Vf. 51-VIII-98 - LKV 2000, 21) gesehen. Für Art. 98 Abs. 2 Satz 3 der brandenburgischen Landesverfassung gilt nichts anderes. Kommunale Selbstverwaltung bedeutet nicht zuletzt auch Mitwirkung und Beteiligung an der Meinungsbildung „vor Ort“ sowie „Aktivierung der Beteiligten für ihre eigenen Angelegenheiten .... mit dem Ziel, das Wohl der Einwohner zu fördern und die geschichtliche und heimatliche Eigenart zu wahren“ (BVerfGE 11, 266, 275 f.). Das Unterbleiben der in Art. 98 Abs. 2 Satz 3 LV eigens angeordneten „Anhörung der Bevölkerung“ vor einer Änderung des Gemeindegebietes ist deshalb ein Verstoß gegen die kommunale Selbstverwaltung in ihrer Ausgestaltung durch die Landesverfassung.

2. Eine Anhörung der Bevölkerung nach Art. 98 Abs. 2 Satz 3 LV ist hier unterblieben. Die etwas anderes suggerierende Stellungnahme des Amtsdirektors gegenüber dem Innenminister (zur Weiterleitung an den Innenausschuß) vom 12. September 2002 entspricht ersichtlich nicht den Tatsachen. Daß die Bürger die Möglichkeit hatten, sich von sich aus, etwa mit Eingaben an Landtag, Landesregierung und Gemeindeverwaltung, zu Wort zu melden, reicht nicht aus. Eine Anhörung nach Art. 98 Abs. 2 Satz 3 LV setzt mindestens voraus, daß die Bürger des unmittelbar betroffenen Gebietes förmlich Gelegenheit erhalten, sich innerhalb einer bestimmten Frist zu einer konkret ins Auge gefaßten Gebietsänderung oder auch zu mehreren alternativ in Betracht kommenden Gebietsänderungen zu äußern. Eine solchen Anforderungen genügende Anhörung hat, wie inzwischen als „Panne“ feststeht, im Gebiet der Beschwerdeführerinnen nicht stattgefunden. Sie war auch nicht etwa im Hinblick darauf entbehrlich, daß es offenbar einen Bürgerentscheid zu der Frage eines Zusammenschlusses aller 18 amtsangehörigen Gemeinden zu einer amtsfreien Großgemeinde gegeben hat. Dies hätte zwar ebenfalls den Verlust der gemeindlichen Selbständigkeit der Beschwerdeführerinnen bedeutet, jedoch unter nennenswert anderen Bedingungen, nämlich in der Form eines Verbunds in den Grenzen des bisherigen Amtes und ohne Schwächung durch Eingliederung eines Teils der bisher zu dem Amt gehörenden Gemeinden in die Stadt Cottbus. Zu der mit dem Entwurf des 2. GemGebRefGBbg konkret verfolgten Auflösung durch Aufgehen in einer nur aus 15 Gemeinden des Amtes gebildeten Großgemeinde ist hingegen die Bevölkerung unter Verstoß gegen Art. 98 Abs. 2 Satz 3 LV nicht angehört worden; daß auch diese Möglichkeit schon in der öffentlichen Diskussion gewesen sein mag, macht die Anhörung der Bevölkerung hierzu nicht entbehrlich, um so weniger, als auch andere Varianten, auch als Amtslösung (vgl. auch - in der Nachbarschaft - die Ämter Döbern-Land, Peitz und Burg [Spreewald]), vorstellbar sind. Damit erweist sich Art. 1 Abs. 2 des 2. GemGebRefGBbg schon aus diesem Grunde in Bezug auf die Beschwerdeführerinnen als verfassungswidrig und nichtig. Auf Kausalitätsfragen kommt es insoweit nicht an (so auch StGH BW DÖV 1976, 245, 246 f.). Das von der Landesregierung in diesem Zusammenhang angeführte Urteil des Niedersächsischen Staatsgerichtshofes vom 3. Juni 1980 - StGH 2/79 -, DVBl 1981, 214 betrifft nicht die Anhörung der Bevölkerung, sondern der Kommune durch ihren Hauptverwaltungsbeamten. Eine Argumentation etwa dahin, daß der Gesetzgeber ein abweichendes Votum der Bevölkerung sowieso nicht beachtet hätte, würde Art. 98 Abs. 2 Satz 3 LV als bindende Verfassungsbestimmung relativieren und ist in einer Demokratie nicht angängig.

3. Die Nichtigkeit von § 1 Abs. 2 ergreift auch § 1 Abs. 3 des 2. GemGebRefGBbg. Die Beschwerdeführerinnen bleiben als amtsangehörige Gemeinden bestehen und haben damit Anspruch auf eine geeignete Amtsverwaltung. Das Amt muß daher „aus denselben Gründen“ (§ 41 Satz 2 Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg - VerfGGBbg -) bestehen bleiben. Das Schicksal derjenigen Gemeinden des Amtes, die gemäß § 1 Abs. 1 des 2. GemGebRefGBbg nach Cottbus eingegliedert werden sollen und in denen nach Mitteilung der Landesregierung eine Anhörung nach Art. 98 Abs. 2 Satz 3 LV stattgefunden hat, bleibt hierbei offen. Insoweit gelten die auf Antrag dieser Gemeinden ergangenen einstweiligen Anordnungen.

III.

Vorsorglich weist das Landesverfassungsgericht darauf hin, daß mit der hier getroffenen Entscheidung für die Beschwerdeführerinnen die im Verfahren der einstweiligen Anordnung ergangenen Beschlüsse vom 6. August 2003 gegenstandslos werden und für die Beschwerdeführerinnen jeweils eine eigenständige Gemeindevertretung zu wählen ist. Die bisherige Gemeindevertretung, die zunächst im Amt bleibt (§ 4 Satz 2 Brandenburgisches Kommunalwahlgesetz), und die fortbestehende Amtsverwaltung haben die Wahl der neuen Vertretung in die Wege zu leiten. Auf die Wahlen für den Kreistag ergeben sich, soweit ersichtlich, keine Auswirkungen.

IV.

Die Nebenentscheidungen beruhen auf § 32 Abs. 7 VerfGGBbg und § 113 Abs. 2 Satz 3 der Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung. In dem festgesetzten Gegenstandswert ist die Erhöhung durch Zusammenfassung von 15 kommunalen Verfassungsbeschwerden zur gemeinsamen Entscheidung berücksichtigt.

V.

Das Gericht hat einstimmig eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich gehalten (§ 22 Abs. 1 VerfGGBbg). Auf weiteren Vortrag der Beschwerdeführerinnen kommt es nicht an, da die Beschwerdeführerinnen schon aus den dargelegten Gründen Erfolg haben.


 
Dr. Macke Prof. Dr. Dombert
   
Prof. Dr. Harms-Ziegler Havemann
   
Dr. Knippel Prof. Dr. Schröder
 
Weisberg-Schwarz Prof. Dr. Will