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VerfGBbg, Beschluss vom 15. September 1994 - VfGBbg 10/93 -

 

Verfahrensart: Verfassungsbeschwerde
Hauptsache
entscheidungserhebliche Vorschriften: - LV, Art. 52 Abs. 3; LV, Art. 52 Abs. 4
Schlagworte: - Zivilprozeßrecht
- Bundesrecht
- Zuständigkeit des Landesverfassungsgerichts
- rechtliches Gehör
- faires Verfahren
amtlicher Leitsatz: 1. Regelt eine bundesrechtliche Verfahrensordnung die fachgerichtliche Verfahrensweise abschließend und zwingend, ist für eine Überprüfung am Maßstab der Landesverfassung kein Raum. Ob sich landesverfassungsrechtliche Grundrechtsgewährleistungen auswirken können, wo das Bundesverfahrensrecht Handlungs- und Ermessensspielräume läßt, bleibt offen.

2. Zur Frage der Vereinbarkeit des Anwaltszwangs mit dem Gebot des rechtlichen Gehörs und dem Grundsatz des fairen Verfahrens.
Fundstellen: - DVBl 1995, 306 (nur LS)
- NVwZ 1995, 583 (nur LS)
- LKV 1995, 583
- NJW 1995, 1018
- NJ 1995, 202
- DÖV 1995, 331
- LVerfGE 2, 179
Zitiervorschlag: VerfGBbg, Beschluss vom 15. September 1994 - VfGBbg 10/93 -, https://verfassungsgericht.brandenburg.de

VERFASSUNGSGERICHT
DES LANDES BRANDENBURG

VfGBbg 10/93



IM NAMEN DES VOLKES
B E S C H L U S S

In dem Verfahren der Verfassungsbeschwerden

1. der Frau I. U. E.,

2. der Frau K. E.,

Beschwerdeführerinnen,

betreffend das Urteil des Bezirksgerichts Cottbus vom 4.11.1993

hat das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg
durch die Verfassungsrichter Dr. Macke, Dr. Dombert, Prof. Dr. Harms-Ziegler, Prof. Dr. Mitzner, Prof. Dr. Schröder undWeisberg-Schwarz

am 15. September 1994

b e s c h 1 o s s e n :

Die Verfassungsbeschwerden werden zurückgewiesen.

G r ü n d e :

A.

Die Beschwerdeführerinnen wenden sich mit ihrer Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des Bezirksgerichts Cottbus vom 4.11.1993.

I.

Im Ausgangsverfahren machten die Beschwerdeführerinnen vermögensrechtliche Ansprüche geltend, die Folge eines Unfalls sind, der sich am 19.7.1990 auf dem Bahnhof Berlin-Lichtenberg ereignet hatte. Zum Unfallzeitpunkt gingen die Beschwerdeführerinnen - Mutter (Beschwerdeführerin zu 1.) und Tochter (Beschwerdeführerin zu 2.) - die Treppe des S-Bahnsteiges hinab. Der Beklagte des Ausgangsverfahrens benutzte ebenfalls diese Treppe, als er eine Diebin verfolgte, die gerade zuvor seiner Ehefrau die Geldbörse gestohlen hatte. Dabei stieß er gegen die Beschwerdeführerin zu 1., die auf ihr Knie fiel und sich dabei verletzte.

Die Beschwerdeführerin zu 1. machte den ihr entstandenen materiellen Schaden in Höhe von 615,73 DM vor dem zuständigen Kreisgericht Cottbus geltend. Beide Beschwerdeführerinnen beantragten darüber hinaus, den Beklagten zur Zahlung eines in das Ermessen des Gerichts gestellten Schmerzensgeldes an sie zu verurteilen; soweit es dabei um die Beschwerdeführerin zu 2. ging, wurde der Beklagten wegen des bei ihr durch den Unfall der Mutter ausgelösten Schocks sowie eines dadurch vereitelten Urlaubs auf ein Schmerzensgeld in Höhe von 1.500,-- DM in Anspruch genommen.

Nachdem das Kreisgericht auf Seiten des Beklagten Nothilfe als Rechtfertigungsgrund angenommen und deshalb die Klage abgewiesen hatte, legten die Beschwerdeführerinnen dagegen Berufung ein.

In der Berufungsbegründung vom 1.7.1993 beantragten die Prozeßbevollmächtigten der Beschwerdeführerinnen, den Beklagten unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zu verurteilen, "an die Klägerin" 1.848,30 DM zu zahlen. Daraufhin wies der Vorsitzende des zuständigen Senates die Prozeßbevollmächtigten der Beschwerdeführerinnen darauf hin, daß sich die Berufungsbegründung nur auf eine der beiden Klägerinnen beziehe, ohne daß sich erkennen lasse, um welche von ihnen es sich dabei handele.

Mit Schriftsatz vom 11.8.1993 und in der mündlichen Verhandlung stellten die Rechtsanwälte der Beschwerdeführerinnen klar, die Beschwerdeführerin zu 1. begehre 615,73 DM materiellen Schadensersatz und 3.500 DM "angemessenen Ausgleich gemäß § 338 Abs. 3 ZGB der DDR"; die Beschwerdeführerin zu 2. beantragte nunmehr, den Beklagten zu verurteilen, einen angemessenen Ausgleich gemäß vorstehend genannter Vorschrift zu zahlen.

Das Bezirksgericht Cottbus verurteilte den Beklagten am 4.11.1993 unter Klageabweisung im übrigen, der Beschwerdeführerin zu 1. 500,-- DM zu zahlen. Die Berufung der Beschwerdeführerin zu 2. wurde als unzulässig verworfen. Zur Begründung verwies der entscheidende Senat darauf, daß nach Klarstellung des Prozeßbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung in bezug auf sie kein Berufungsantrag angekündigt worden sei. Die Anträge in den nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist eingegangenen Schriftsätzen hätten nicht berücksichtigt werden önnen. Dies gelte auch für den später nachgereichten "privaten Schriftsatz" der Beschwerdeführerin zu 1. vom 5.10.1993, der wegen des vor dem Bezirksgericht bestehenden Anwaltszwanges (§ 78 ZPO) rechtlich unbeachtlich sei. Gleichwohl habe der Senat geprüft, ob dieser Schriftsatz Veranlassung zur Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung (§ 156 ZPO) gebe. Dies sei jedoch nicht der Fall. Beide Beschwerdeführerinnen hätten unter Beachtung der Verfahrensordnung hinreichendes rechtliches Gehör gehabt.

II.

Mit ihren Verfassungsbeschwerden machen die Beschwerdeführerinnen eine Verletzung sowohl ihres Grundrechtes auf rechtliches Gehör als auch auf ein faires Verfahren geltend. Sie meinen, aus dem Recht auf ein faires Verfahren auch die Befugnis ableiten zu können, prozessuale Rechte "mit der erforderlichen Sachkunde selbständig wahrnehmen" zu können. Da sie an den "verspäteten Begründungen" der Prozeßbevollmächtigten im Berufungsverfahren kein Verschulden treffe, hätte das Gericht den "privaten" Vortrag bei der Entscheidung mitberücksichtigen müssen.

Im Übrigen treffe das Gericht die Pflicht, Anträge und Ausführungen der Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei seiner Entscheidung zu berücksichtigen. Der Verfahrensbeteiligte müsse Gelegenheit haben, durch einen sachlich fundierten Vortrag die Willensbildung des Gerichtes zu beeinflussen. Das Bezirksgericht Cottbus habe den im Schreiben vom 5.10.1993 gestellten Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen des verspäteten Vortrages nicht in Erwägung gezogen. Auch der Anwaltszwang habe das Gericht nicht dazu berechtigt, hinsichtlich der "selbstgemachten Anträge und Ausführungen" das rechtliche Gehör zu verweigern: Wenn die Richter Wert darauf gelegt hätten, daß die Form "Vortrag durch Anwalt" gewahrt werde, hätte es den Verkündungstermin verschieben und die Prozeßbevollmächtigten auffordern müssen, den Vortrag schriftlich zu wiederholen.

B.

Die Verfassungsbeschwerden haben keinen Erfolg.

1. Die Verfassungsbeschwerden sind unzulässig, soweit die Beschwerdeführerinnen eine Verletzung des Art. 103 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG rügen. Voraussetzung für die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde ist nach § 45 Abs. 1 VerfGGBbg, daß sich die Verfassungsbeschwerde gegen die Verletzung eines "in der Verfassung gewährleisteten" Grundrechtes richtet. Angesprochen sind damit die durch die Landesverfassung geschützten Grundrechte. Nicht rügefähig ist die Verletzung von Normen des Bundesverfassungsrechts.

2. Soweit die Beschwerdeführerinnen eine Verletzung von Art. 52 Abs. 3 und Abs. 4 der Verfassung des Landes Brandenburg (LV) geltend machen, ist ihre Verfassungsbeschwerde unbegründet. Es bleibt dabei ausdrücklich offen, ob Grundrechtsverletzungen, die im Rahmen eines bundesrechtlich geordneten Verfahrens - wie hier in einem durch die Zivilprozeßordnung geregelten bürgerlich-rechtlichen Rechtsstreit - erfolgt sein sollen, vor dem Verfassungsgericht des Landes unter Berufung auf die verfahrensrechtlichen Grundrechtsgewährleistungen der LV geltend gemacht werden können. Selbst wenn dies möglich wäre, könnte das Landesverfassungsgericht die richterliche Rechtsanwendung lediglich im Rahmen (bundes-)verfahrensrechtlich bestehender Handlungs- und Ermessensspielräume überprüfen. Regelt die jeweilige bundesrechtliche Verfahrensordnung das fachgerichtliche Verhalten abschließend und zwingend, bleibt hingegen für eine darauf bezogene Prüfung am Maßstab der LV kein Raum. Soweit frühere Entscheidungen des erkennenden Gerichts abweichend verstanden werden können, wird hieran nicht festgehalten. In den betreffenden Verfahren kam es auf die Frage letztlich nicht an.

Letzteres gilt auch für den vorliegenden Fall, weil die beiden von den Beschwerdeführerinnen in Anspruch genommenen Landesverfassungsnormen jedenfalls nicht verletzt sind.

a) Die Beschwerdeführerinnen rügen ohne Erfolg eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör i.S. von Art. 52 Abs. 3 LV. Rechtliches Gehör bedeutet zunächst Gelegenheit zur Äußerung zu den entscheidungserheblichen Fragen. Diese Gelegenheit war über den Prozeßbevollmächtigten der Beschwerdeführerinnen - oder einen anderen postulationsfähigen Rechtsanwalt, den sie hätten beauftragen können, wenn sie sich nicht gut genug vertreten fühlten - gegeben. Abgesehen davon, hat das Bezirksgericht ausweislich des angegriffenen Urteils sogar das ohne anwaltliche Vermittlung dem Gericht übersandte Schreiben der Beschwerdeführerin zu 1. zum Anlaß genommen, eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung (§ 156 ZPO) zu prüfen. Damit hat das BG zu erkennen gegeben, daß es den genannten Vortrag in Erwägung gezogen hat. Unabhängig davon, ob das Grundrecht auf Gewährung rechtlichen Gehörs eine solche Handhabung mit Blick auf die abschließenden bundesrechtlichen Vorschriften der §§ 78 Abs. 1, 85 Abs. 2 ZPO überhaupt verlangt, ist Art. 52 Abs. 3 LV somit auf jeden Fall Genüge getan.

b) Es ist auch kein Verstoß des BG gegen das Grundrecht auf ein faires Verfahren i.S. von Art. 52 Abs. 4 LV zu erkennen. Soweit die Beschwerdeführerinnen unter diesem Gesichtspunkt den Anwaltszwang (vor dem Bezirksgericht bzw. - nach der nunmehr auch im Land Brandenburg geltenden Gerichtsverfassungsrecht - vor dem Landgericht) als solchen in Frage stellen, läßt die insoweit maßgebliche Zivilprozeßordnung, die als bundesrechtliche Regelung der Überprüfung durch das Landesverfassungsgericht entzogen ist, keinen Spielraum. Und selbst wenn der Grundsatz des fairen Verfahrens geeignet sein sollte, den Entscheidungsspielraum des Richters bei Anwendung des § 156 ZPO zu verengen, kann er nicht dazu dienen, Parteien die Gelegenheit zu geben, wirkliches oder vermeintliches anwaltliches Fehlverhalten zu korrigieren. Denn damit würde die durch § 85 Abs. 2 ZPO getroffene Regelung unterlaufen, demzufolge das Verschulden des Prozeßbevollmächtigten dem Verschulden der Partei gleichstellt. § 85 Abs. 2 ZPO unterliegt auch nicht etwa seinerseits (bundes-)verfassungsrechtlichen Bedenken. Der Gesetzgeber der ZPO war vielmehr frei, im Rahmen seines Abwägungsspielraums zwischen Gerechtigkeit im Einzelfall und der Rechtssicherheit eine Zurechnung des Verschuldens des Prozeßbevollmächtigten vorzusehen. Soweit sich dies im Einzelfall zu Lasten der Einzelfallgerechtigkeit auswirkt, muß dies vom betroffenen Bürger hingenommen werden (BVerfGE 60, 253, 299 f.). Ihm verbleibt ggfls. die Möglichkeit, zivilrechtliche Ansprüche gegen seinen Anwalt geltend zu machen.

Dr. Macke Dr. Dombert
Prof. Dr. Harms-Ziegler Prof. Dr. Mitzner
Prof. Dr. Schröder Weisberg-Schwarz