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VerfGBbg, Beschluss vom 13. August 2018 - VfGBbg 3/18 EA -

 

Verfahrensart: Organstreit
EA
entscheidungserhebliche Vorschriften: - LV, Art. 56 Abs. 3
- VerfGGBbg, § 30 Abs. 1
Schlagworte: - Organstreitverfahren
- Einstweilige Anordnung zurückgewiesen
- unbegründet
- Akteneinsicht durch Abgeordneten
- Interessenabwägung
- Funktionsfähigkeit und Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung der Regierung
- sofortige Ausübung parlamentarischer Kontrolle
- kein irreversibler Nachteil
- Eigene Kontrollrechte des Landtags
Zitiervorschlag: VerfGBbg, Beschluss vom 13. August 2018 - VfGBbg 3/18 EA -, https://verfassungsgericht.brandenburg.de

VERFASSUNGSGERICHT
DES LANDES BRANDENBURG

VfGBbg 3/18 EA




IM NAMEN DES VOLKES

B e s c h l u s s

In dem Organstreitverfahren

1.      Dr. v. R.,

Antragsteller zu 1.,

 

2.      B.

Antragstellerin zu 2.,

Verfahrensbevollmächtigte               P.,

 

g e g e n

Regierung des Landes Brandenburg,
vertreten durch den Minister der Justiz
und für Europa und Verbraucherschutz,
Heinrich-Mann-Allee 107,
14473 Potsdam,

Antragsgegnerin,

 

hier:                Antrag auf den Erlass einer einstweiligen Anordnung

hat das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg

am 13. August 2018

durch die Verfassungsrichter Möller, Dr. Becker und Dielitz

beschlossen: 

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird zurückgewiesen.

 

 

 

 

Gründe:

A.

Die Antragsteller sind Mitglieder des Landtags Brandenburg. Die Antragstellerin zu 2. ist ordentliches Mitglied des Ausschusses für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie im Landtag Brandenburg.

 

I.

Mit Schreiben vom 21. bzw. 26. Juli 2018 begehrten die Antragsteller bei der Antragsgegnerin jeweils die „sofortige Akteneinsicht in sämtliche Unterlagen zum aktuellen Medikamentenskandal“, insbesondere Unterlagen der Staatsanwaltschaft zu Ermittlungen gegen die L GmbH, Unterlagen aus dem Landesamt für Arbeitsschutz, Verbraucherschutz und Gesundheit (LAVG) zu einem Amtshilfeersuchen der griechischen Regierung sowie Unterlagen des Ministeriums für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie (MASGF) zu diesem Fall. Die Antragsgegnerin teilte hierauf mit Schreiben vom 24. bzw. 27. Juli 2018 mit, dass die Anträge zur Bearbeitung an das Ministerium der Justiz und für Europa und Verbraucherschutz (MdJEV) und an das MASGF weitergeleitet worden seien.

Mit Schreiben vom 27. Juli 2018 teilte das MdJEV dem Antragsteller zu 1. mit, dass die begehrte Akteneinsicht nicht wie gewünscht am 30. Juli 2018 erfolgen könne. Die Prüfung des Begehrens nach Maßgabe der hierzu geltenden Verfahrensregelungen (Anlage 7 zu § 19 Abs. 1 der Gemeinsamen Geschäftsordnung für die Ministerien des Landes Brandenburg - GGO) werde noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Unter dem 1. August 2018 verfasste das MASGF ein Schreiben im Wesentlichen gleichen Inhalts an den Antragsteller zu 1.

Nachdem die Antragsteller mit Schreiben vom 1. August 2018 die Antragsgegnerin nochmals um Akteneinsicht bis spätestens 3. August 2018 gebeten hatten, und zwar unter Hinweis auf die Pflicht zur unverzüglichen Vorlage gemäß Art. 56 Abs. 3 Satz 4 Landesverfassung (LV), verwies auch die Antragsgegnerin mit Schreiben vom 2. August 2018 auf das noch laufende Verfahren entsprechend Anlage 7 zu § 19 Abs. 1 GGO.

Mit Schreiben vom 10. August 2018 beantragten drei Mitglieder des Ausschusses für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie im Landtag Brandenburg die außerplanmäßige Durchführung einer Ausschusssitzung nach § 77 Abs. 5 der Geschäftsordnung des Landtages Brandenburg (GOLT), die am 16. August 2018 stattfinden wird.

 

II.

Den am 6. August 2018 beim Verfassungsgericht gestellten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung begründen die Antragsteller im Wesentlichen wie folgt:

Das Hauptsacheverfahren könne nicht abgewartet werden. Da es sich bei dem sog. Medikamentenskandal um ein aktuelles und wichtiges Thema für das Land Brandenburg handele, müsse die Antragsgegnerin unverzüglich ihren verfassungsrechtlichen Pflichten gemäß Art. 56 Abs. 3 LV zur Vorlage der begehrten Akte nachkommen. Die Akteneinsicht sei für die Antragsteller zur Vorbereitung auf eine in der 33. Kalenderwoche stattfindende Sondersitzung des Ausschusses für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie enorm wichtig.

Das bei der Antragsgegnerin vorgesehene Verfahren dürfe nicht dazu führen, dass die Akten auch 14 Tage nach Antragstellung noch nicht vorgelegt worden seien. In Anbetracht der Situation und Wichtigkeit der Angelegenheit habe die Antragsgegnerin die Möglichkeit der Offenlegung der Akte für die Mitglieder des zuständigen Ausschusses gehabt, gegebenenfalls als Verschlusssache. Die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Nichtvorlage der Akten durch die Antragsgegnerin stelle das notwendige Druckmittel dar, um den Antragstellern ihre verfassungsmäßige Arbeit und die Einsicht in die Akten noch vor der Sondersitzung des Ausschusses zu ermöglichen.

Die Antragsteller beantragen

festzustellen, dass die Antragsgegnerin durch die Nichtvorlage der durch die Antragsteller begehrten Akte zwecks Akteneinsicht gegen die Ausübung des freien Mandats der Abgeordneten i. S. d. Art. 56 Abs. 3 der Verfassung des Landes Brandenburg verstoßen hat.

Die Antragsgegnerin verweist auf die Verfahrensregelungen nach Anlage 7 zu § 19 Abs. 1 GGO. Nach Abschluss der ressortinternen Prüfung sei das Abstimmungsverfahren über das Begehren der Antragsteller bezüglich der den Geschäftsbereich des MASGF betreffenden Akten am 3. August 2018 und bezüglich der den Geschäftsbereich des MdJEV betreffenden Akten am 9. August 2018 eingeleitet worden. Der Abschluss des Abstimmungsverfahrens sei in Kürze zu erwarten, sodass die Anträge umgehend beschieden würden.

Eine Gefährdung des Kontrollrechts der Antragsteller sei nicht zu befürchten, weil die nächste reguläre Sitzung des Ausschusses für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie des Landtages bereits für den 5. September 2018 terminiert sei. Aus der Akteneinsicht resultierende Fragen könnten auch dort der Landesregierung zeitnah gestellt werden. Deshalb sei das im Rahmen der Folgenabwägung nach § 30 Abs. 1 Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg (VerfGGBbg) einzustellende Interesse der Antragssteller an der Ausübung parlamentarischer Kontrolle im Falle der Ablehnung der einstweiligen Verfügung auch nicht irreversibel beeinträchtigt.

 

III.

Der Landtag Brandenburg hat von der Einleitung des Verfahrens Kenntnis erhalten (vgl. § 37 Abs. 2 VerfGGBbg).

 

B.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg.

 

I.

Der Antrag ist zulässig, insbesondere statthaft. Das Verfassungsgericht kann gemäß § 30 Abs. 1 VerfGGBbg einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln. Die einstweilige Anordnung ist auch im Organstreitverfahren nach Art. 113 Nr. 1 Landesverfassung (LV) und §§ 12 Nr. 1, 35 ff VerfGGBbg statthaft (vgl. Urteil vom 7. März 1996 - VfGBbg 3/96 EA -, www.verfassungsgericht.brandenburg.de; BVerfG als Landesverfassungsgericht für das Land Schleswig-Holstein, BVerfGE 106, 51; BVerfGE 117, 359; 118, 111; 140, 225).

 

II.

Der Antrag ist unbegründet.

Nach § 30 Abs. 1 VerfGGBbg muss die einstweilige Anordnung zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten sein. Insoweit ist nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichts ein strenger Maßstab anzulegen. Die nachteiligen Folgen, die ohne die einstweilige Anordnung für den Fall des Obsiegens in der Hauptsache zu erwarten sind, müssen im Vergleich zu den nachteiligen Folgen, die sich bei Erlass der einstweiligen Anordnung für den Fall der Erfolglosigkeit in der Hauptsache ergeben, deutlich überwiegen, weil sie sonst bei vergleichender Betrachtungsweise nicht schwer genug im Sinne des Gesetzes sind („schwerer Nachteil“) bzw. keinen gleichwertigen „anderen“ Grund im Sinne des Gesetzes darstellen. Bei der Abwägung sind im Allgemeinen nur irreversible Nachteile zu berücksichtigen. Zudem muss die einstweilige Anordnung im Sinne zusätzlicher Voraussetzungen „zum gemeinen Wohl“ und „dringend geboten“ sein (st. Rspr., zuletzt Beschluss vom 16. März 2018 - VfGBbg 1/18 EA -, www.verfassungsgericht.brandenburg.de, m. w. N.).

1. Der Antrag des Antragstellers zu 1. ist unbegründet. Ein Anordnungsgrund für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung liegt zugunsten des Antragstellers zu 1. offensichtlich nicht vor. Beide Antragsteller begründen die Eilbedürftigkeit für die begehrte Akteneinsicht im Wesentlichen mit der bevorstehenden Sondersitzung des Ausschusses für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie, für deren Vorbereitung die begehrte Akteneinsicht unerlässlich sei. Der Antragsteller zu 1. ist aber weder ordentliches noch stellvertretendes Mitglied dieses Ausschusses.

2. Die Erfolgsaussichten eines Organstreitverfahrens sind offen (vgl. zu diesem Maßstab Beschluss vom 7. März 2016 - VfGBbg 4/16 EA -, www.verfassungsge-richt.brandenburg.de). Die Reichweite des Akteneinsichtsrechts nach Art 56 Abs. 3 LV, insbesondere zu dem Vorbehalt der „Funktionsfähigkeit und Eigenverantwortung“ der Landesregierung, zu der dem Landtag und seinen Ausschüssen zustehende Kontrollbefugnis und die Anforderungen, die an die Frage der „Unverzüglichkeit“ der Beantwortung von Aktenvorlagegesuchen einzelner Abgeordneter zu stellen sind, sind in Rechtsprechung und Literatur im Einzelnen umstritten und in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts nicht so geklärt, dass im vorliegenden Fall das Ergebnis eines Hauptsacheverfahrens eindeutig wäre.

3. Die Voraussetzungen des § 30 Abs. 1 VerfGGBbg für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sind nicht gegeben. Die nach dem Vorstehenden vorzunehmende Folgenabwägung geht zu Lasten der Antragstellerin zu 2. aus.

a. Zwar ist entgegen dem Vorbringen der Antragsgegnerin nicht in die Abwägung einzustellen, dass diese keine ausreichende Zeit zum Zusammenstellen der begehrten Unterlagen gehabt habe. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Antragsgegnerin wegen der Gefahren für Leben und Gesundheit von mit möglicherweise unwirksamen Medikamenten behandelter Patienten gehalten war, nach dem Bekanntwerden des sog. „Medikamentenskandals“ durch die erstmals am 12. Juli 2018 veröffentlichte Medienberichterstattung die erforderlichen personellen und sachlichen Ressourcen - gegebenenfalls auch ressortübergreifend - zusammenzuziehen, um eine unverzügliche Aufarbeitung der Sachlage zu gewährleisten.

Ergebnis einer vorangeschrittenen internen Prüfung, auf welche die Antragsgegnerin hätte zurückgreifen können, wären bereits zum Zeitpunkt des Eingangs des Akteneinsichtsgesuches der Antragstellerin zu 2. bei der Antragsgegnerin am 26. Juli 2018 zu erwarten gewesen, jedenfalls aber zum hier maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts. Unabhängig von der Verfahrensweise hätte danach im Wesentlichen nur noch die Prüfung etwaiger entgegenstehender Interessen im Sinne von Art. 56 Abs. 4 Satz 1 LV ausstehen dürfen.

b. Dennoch überwiegt das öffentliche Interesse an einer späteren Akteneinsicht das Interesse der Antragstellerin zu 2. an der sofortigen Ausübung parlamentarischer Kontrolle. Würde die einstweilige Anordnung wie beantragt ergehen, könnten nicht wiedergutzumachende Beeinträchtigungen eintreten, während sich bei einer Ablehnung der einstweiligen Anordnung sich das Einsichtsrecht der Antragstellerin zu 2. lediglich verzögert.

aa. Eine - unterstellt - zu Unrecht erfolgte Akteneinsicht könnte die Funktionsfähigkeit und den Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung der Antragsgegnerin sowie subjektive Rechte Dritter irreversibel beeinträchtigen, wenn sich im Hauptsacheverfahren herausstellen sollte, dass die Antragsgegnerin zum jetzigen Zeitpunkt nicht zur Gewährung von Akteneinsicht verpflichtet war, weil sie in diesem Fall die dem Auskunftsrecht gegebenenfalls entgegenstehenden Belange nicht berücksichtigen konnte.

bb. In die Abwägung muss auch einfließen, dass das Akteneinsichtsrecht des Abgeordneten nach Art. 56 Abs. 3 LV nicht nur mit den verfassungsrechtlich geschützten Interessen der Landesregierung in Ausgleich zu bringen ist, sondern auch die daneben bestehenden eigenen Rechte des Parlaments insgesamt hinreichend berücksichtigt werden müssen (vgl. Lieber/Iwers/Ernst, Verfassung des Landes Brandenburg, Art. 56 Nr. 2.2.5; zu Formen, Verfahren und Wirkungen der parlamentarischen Kontrolle vgl. Stefani, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, S. 1325). Jedenfalls dann, wenn der Landtag seine Kontrollbefugnisse durch Aufklärung eines für die Landespolitik bedeutsamen Umstandes innerhalb des dafür zuständigen Ausschusses zeitnah wahrnimmt, sind Befugnisse des Landtages und seiner Ausschüsse abwägungsrelevant. Vorliegend hat sich die nach der GOLT erforderliche Anzahl seiner Ausschussmitglieder dafür entschieden, Auskunftsrechte im Wege der Durchführung einer Sondersitzung des Fachausschusses in den nächsten Tagen geltend zu machen. Eine unmittelbar vor der Sitzung gewährte Akteneinsicht könnte die Befugnisse des Ausschusses berühren, in öffentlicher Sitzung Auskunft von der Landesregierung zu verlangen. Durch eine zumindest mittelbare Verpflichtung der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung könnte dieser Prozess parlamentarischer Auseinandersetzung unterlaufen werden, wenn dadurch lediglich einzelnen Abgeordneten kurz vor der Sitzung Zugang zu den Akten der Landesregierung gewährt würde.

cc. Das Interesse der Antragstellerin zu 2. wird durch die einstweilige Nichtvorlage der begehrten Akten demgegenüber nur zeitlich begrenzt beeinträchtigt. Es entsteht daraus kein nicht wiedergutzumachender Nachteil, wenn durch die Ablehnung einer einstweiligen Anordnung die sofortige Akteneinsicht nicht stattfindet, sich aber in der Hauptsache herausstellt, dass die Antragsgegnerin ihrer Pflicht gemäß Art. 56 Abs. 3 Satz 4 LV zur unverzüglichen Vorlage der Akten nicht ausreichend nachgekommen ist; die Akteneinsicht könnte zeitnah nachgeholt werden.

Ein solcher Nachteil ist entgegen der Ansicht der Antragstellerin zu 2. nicht bereits darin zu erblicken, dass diese während der Sondersitzung des Ausschusses für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie an der informierten Mitwirkung eingeschränkt sein könnte. Der Antragstellerin zu 2. bietet sich auch in der für den 5. September 2018 vorgesehenen nächsten planmäßigen Sitzung des Ausschusses noch ausreichend Gelegenheit zum direkten Vorhalt der sich aus den Akten möglicherweise ergebenden Informationen gegenüber der zuständigen Ministerin. Jedenfalls bis dahin ist ein Abschluss der parlamentarischen Diskussion angesichts des für Ende dieses Monats zu erwartenden internen Untersuchungsberichts des MASGF auch nicht zu erwarten.

 

C.

Der Beschluss ist einstimmig ergangen (§ 30 Abs. 7 Satz 1 VerfGGBbg).