VerfGBbg, Beschluss vom 9. Oktober 2015 - VfGBbg 41/15 -
Verfahrensart: |
Verfassungsbeschwerde Hauptsache |
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entscheidungserhebliche Vorschriften: | - LV, Art. 52 Abs. 3 Alt. 1 - FGO, § 74 - EStG, § 62 Abs. 2 |
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Schlagworte: | - Prozesskostenhilfe - Aussetzung des Verfahrens - Vorgreiflichkeit eines Normenkontrollverfahrens |
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Zitiervorschlag: | VerfGBbg, Beschluss vom 9. Oktober 2015 - VfGBbg 41/15 -, https://verfassungsgericht.brandenburg.de |
DES LANDES BRANDENBURG
VfGBbg 41/15
IM NAMEN DES VOLKES
B e s c h l u s s
In dem Verfassungsbeschwerdeverfahren
K.,
Beschwerdeführerin,
Verfahrensbevollmächtigter: Rechtsanwalt G.,
wegen | Beschluss des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 1. April 2015 (3 K 3010/15) |
hat das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg
am 9. Oktober 2015
durch die Verfassungsrichter Möller, Dr. Becker, Dielitz, Dr. Fuchsloch, Dr. Lammer und Schmidt
beschlossen:
1. Der Beschluss des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 1. April 2015 (3 K 3010/15 PKH) verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht auf Gleichheit vor dem Gericht (Art. 52 Abs. 3 Alt. 1 Landesverfassung). Er wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Finanzgericht Berlin-Brandenburg zurückverwiesen.
2. Das Land Brandenburg hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.
3. Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 10.000,00 Euro festgesetzt.
Gründe:
A.
Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe.
I.
Die Beschwerdeführerin, X Staatsangehörige, ist Mutter einer im Juni 2009 im Bundesgebiet geborenen Tochter, die Y Staatsangehörige sein soll. Im Hinblick darauf beantragte sie im Mai 2011 eine Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers, deren Erteilung die Ausländerbehörde im November 2013 ablehnte. Stattdessen erhielt die Beschwerdeführerin eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz.
Bereits im Februar 2013 beantragte die Beschwerdeführerin die Gewährung von Kindergeld rückwirkend auf den Zeitpunkt der Geburt des Kindes. Die Familienkasse lehnte dies mit Bescheid vom 5. Juni 2013 mangels Vorliegens der Voraussetzungen nach § 62 Abs. 2 Einkommensteuergesetz (EStG) ab. Den dagegen eingelegten Einspruch wies die Familienkasse mit Einspruchsentscheidung vom 2. Dezember 2014 als unbegründet zurück. Zwar komme es wegen der für die Tochter der Beschwerdeführerin bestehenden Freizügigkeitsberechtigung nicht auf § 62 Abs. 2 EStG an, doch habe die Beschwerdeführerin verschiedene von ihr angeforderte Nachweise nicht beigebracht, sodass eine abschließende Prüfung des Anspruchs nicht möglich sei und der Einspruch erfolglos bleiben müsse.
Die Beschwerdeführerin hat am 5. Januar 2015 Klage erhoben, über die noch nicht entschieden ist (3 K 3010/15). Einen ersten Antrag, der Beschwerdeführerin Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihres Bevollmächtigten zu gewähren, wies das Finanzgericht mit Beschluss vom 5. März 2015 unter Auseinandersetzung mit der Frage zurück, ob die Beschwerdeführerin im Hinblick auf die Staatsangehörigkeit der Tochter freizügigkeitsberechtigt sein könne.
Nach Erhalt des Beschlusses hat die Beschwerdeführerin ihre rechtliche Argumentation dahin geändert, dass sie geltend macht, der an dem ihr erteilten Aufenthaltstitel anknüpfende Leistungsausschluss im Kindergeldrecht sei verfassungswidrig. Zugleich begehrte sie erneut die Gewährung von Prozesskostenhilfe. Nachdem das Finanzgericht das Verfahren im Hinblick auf mehrere konkrete Normenkontrollverfahren zu dieser Frage beim Bundesverfassungsgericht (2 BvL 9-14/14) am 31. März 2015 ausgesetzt hatte, wies es den weiteren Prozesskostenhilfeantrag am 1. April 2015 als unbegründet zurück. Der erneute Antrag sei zwar im Hinblick auf die geänderte Prozesslage zulässig, doch fehle dem Begehren der Beschwerdeführerin auch mit der geänderten Begründung die hinreichende Aussicht auf Erfolg. In der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs sei geklärt, dass die durch § 62 Abs. 2 EStG bewirkte, an die Arbeitsmarktintegration anknüpfende Leistungseinschränkung verfassungsrechtlich unproblematisch sei, zumal das Kindergeld in der Regel auf andere Sozialleistungen anzurechnen sei und damit ein allenfalls geringer wirtschaftlicher Restvorteil verbleibe. Dem hätten sich eine Reihe von Finanzgerichten angeschlossen, während allein ein Senat des Niedersächsischen Finanzgerichts die Vorschriften für verfassungswidrig erachte, dessen Erwägungen in der Sache aber nicht durchgriffen.
II.
Die Beschwerdeführerin hat am 24. April 2015 Verfassungsbeschwerde erhoben, mit der sie geltend macht, das Finanzgericht habe sie durch den Beschluss vom 1. April 2015 in ihrem Grundrecht auf Rechtsschutzgleichheit aus Art. 12 Abs. 1 i. V. m. Art. 6 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1, Art. 2 Abs. 5 Satz 2 Landesverfassung (LV) verletzt. Das Grundrecht vermittele einen Anspruch auf weitgehende Angleichung beim Zugang zu Rechtsschutzmöglichkeiten für Unbemittelte und Bemittelte. Die Bewilligung der Prozesskostenhilfe dürfe zwar davon abhängig gemacht werden, dass die Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg habe und nicht mutwillig sei, doch müsse die Prüfung der Erfolgsaussichten summarisch erfolgen. Die umfassende rechtliche Prüfung sei allein dem Hauptsacheverfahren vorbehalten. Das Verfahren der Prozesskostenhilfe solle nicht selbst Rechtsschutz bieten, sondern diesen ermöglichen. Demzufolge sei Verfassungsrecht verletzt, wenn die gerichtliche Entscheidung Fehler erkennen lasse, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung der Rechtsschutzgleichheit beruhten. Prozesskostenhilfe sei danach immer dann zu bewilligen, wenn die Entscheidung in der Hauptsache von der Beantwortung einer schwierigen, bislang ungeklärten Rechtsfrage abhänge. Vorliegend stehe im Hinblick auf die Vorlagebeschlüsse des Niedersächsischen Finanzgerichts fest, dass die maßgebliche Rechtsfrage offen sei. Die Rechtsfrage erweise sich auch als schwierig. Die vom Finanzgericht zur Begründung seiner Auffassung herangezogenen Entscheidungen anderer Gerichte beträfen teilweise andere Fallgestaltungen, die mit der hiesigen nicht vergleichbar seien. Zudem stehe die Auffassung, wegen der Anrechnung des Kindergeldes auf Leistungen nach dem SGB II biete eine Kindergeldberechtigung der Beschwerdeführerin keinen Vorteil, mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz nicht in Einklang, wie sich etwa den umfangreichen Ausführungen des vorlegenden Gerichts entnehmen lasse.
Dem Finanzgericht Berlin-Brandenburg ist Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden.
B.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet.
I.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.
Die Beschwerdeführerin ist beschwerdebefugt, denn sie hat substantiiert und schlüssig einen Sachverhalt unterbreitet, der zu dem behaupteten Verstoß gegen das Grundrecht der Rechtsschutzgleichheit aus Art. 52 Abs. 3 Alt. 1 LV führen kann. Dass sie sich dabei zur Begründung nicht auf Art. 52 Abs. 3 Alt. 1 LV, sondern auf Normen der Landesverfassung bezogen hat, die entweder keine mit der Verfassungsbeschwerde rügefähigen Grundrechte beinhalten (Art. 2 Abs. 5 Satz 2, Art. 5 Abs. 1 LV) oder durch die speziellere Gewährleistung verdrängt werden (Art. 12 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 LV) steht dem nicht entgegen. Maßgeblich ist nicht, welches Grundrecht die Beschwerdeführerin ausdrücklich benennt, sondern welche grundrechtliche Gewährleistung mit der Beschwerdeschrift der Sache nach ersichtlich als verletzt gerügt wird (vgl. Beschlüsse vom 24. Januar 2014 - VfGBbg 21/13 -, und vom 29. August 2014 - VfGBbg 1/14 -; www.verfassungsgericht.brandenburg.de). Das ist vorliegend die spezielle Gewährleistung der Rechtsschutzgleichheit in Art. 52 Abs. 3 Alt. 1 LV.
II.
Das Finanzgericht verkennt in dem angegriffenen Beschluss den Gehalt des Rechts auf Rechtsschutzgleichheit und verletzt die Beschwerdeführerin hierdurch in ihrem Grundrecht aus Art. 52 Abs. 3 Alt. 1 LV.
1. Art. 52 Abs. 3 Alt. 1 LV enthält mit dem Gebot, dass alle Menschen vor dem Gericht gleich sind, in Bezug auf die Auslegung der Vorschriften über die Prozesskostenhilfe die Verpflichtung zur weitgehenden Angleichung der Situation von bemittelten und unbemittelten Personen bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes. Es ist verfassungsrechtlich unbedenklich, die Gewährung von Prozesskostenhilfe davon abhängig zu machen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint. Prozesskostenhilfe darf verweigert werden, wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance aber nur eine entfernte ist. Die Anforderungen an die Erfolgsaussichten dürfen jedoch nicht überspannt werden. Die Prüfung der Erfolgsaussichten soll nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Nebenverfahren der Prozesskostenhilfe vorzuverlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen (Beschlüsse vom 26. August 2004 - VfGBbg 10/04 -, LVerfGE 15, 110, 114; 30. September 2010 - VfGBbg 52/09 -, www.verfassungsgericht.brandenburg.de; BVerfG NJW 2015, 2173, 2174).
Es ist Sache der Fachgerichte, den verfassungsrechtlichen Anforderungen bei der Auslegung und Anwendung der Vorschriften über die Prozesskostenhilfe zur Geltung zu verhelfen. Erst dann, wenn eine fachgerichtliche Entscheidung auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung der Rechtsschutzgleichheit beruht, ist die durch die Verfassung gezogene Grenze überschritten. Das ist der Fall, wenn das Fachgericht die Anforderungen an die Erfolgsaussicht der beabsichtigten Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung überspannt und dadurch der Zweck der Prozesskostenhilfe, unbemittelten Personen den weitgehend gleichen Zugang zu Gericht zu ermöglichen, deutlich verfehlt wird (vgl. BVerfGE 81, 347, 357 f; NJW 2015, 2173, 2174).
Ein Rechtsschutzbegehren hat in aller Regel hinreichende Aussicht auf Erfolg, wenn die Entscheidung in der Hauptsache von der Beantwortung einer schwierigen, bislang ungeklärten Rechtsfrage abhängt. Prozesskostenhilfe braucht allerdings nicht schon dann gewährt zu werden, wenn die entscheidungserhebliche Rechtsfrage zwar noch nicht höchstrichterlich geklärt ist, ihre Beantwortung aber im Hinblick auf die einschlägige gesetzliche Regelung oder durch die in der bereits vorliegenden Rechtsprechung gewährten Auslegungshilfen nicht in dem genannten Sinne als "schwierig" erscheint. Legt ein Fachgericht § 114 Satz 1 ZPO hingegen dahin aus, dass schwierige, noch nicht geklärte Rechtsfragen im Prozesskostenhilfeverfahren "durchentschieden" werden können, verkennt es damit die Bedeutung der Rechtsschutzgleichheit. Dem Gebot der Rechtsschutzgleichheit läuft es daher zuwider, wenn ein Fachgericht § 114 Satz 1 ZPO dahin auslegt, dass es eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage als einfach oder geklärt ansieht, obwohl dies erheblichen Zweifeln begegnet, und sie bereits im Verfahren der Prozesskostenhilfe zum Nachteil unbemittelter Personen beantwortet (vgl. BVerfGE 81, 347, 359 f; NJW 2015, 2173, 2174).
2. Ausgehend von diesen Grundsätzen verstößt der Beschluss des Finanzgerichts vom 1. April 2015 gegen Art. 52 Abs. 3 Alt. 1 LV. Das Finanzgericht überspannt die Anforderungen, wenn es seinen Beschluss im Wesentlichen darauf stützt, dass der Bundesfinanzhof und eine Reihe von Instanzgerichten in der Vergangenheit keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die zum Ausschluss der Kindergeldberechtigung der Beschwerdeführerin führende Vorschrift des § 62 Abs. 2 EStG geäußert hätten. Die in den Vorlagebeschlüssen des Niedersächsischen Finanzgerichts geäußerte gegenteilige Auffassung sei vereinzelt geblieben und überzeuge nicht. Die darauf abzielende Begründung, dass die von der Beschwerdeführerin aufgeworfene Rechtsfrage bereits in der Rechtsprechung der Fachgerichte geklärt sei, steht in einem erheblichen Spannungsverhältnis zu dem weiteren Beschluss des Finanzgerichts vom 31. März 2015. Mit diesem Beschluss hat das Finanzgericht die Klage im Hinblick auf die vorgreiflichen Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht ausgesetzt. Da eine im Ermessen des Finanzgerichts stehende Aussetzung des Verfahrens nach § 74 Finanzgerichtsordnung nur dann in Betracht kommt, wenn ein Verfahren beim Bundesverfassungsgericht anhängig ist, dessen Gegenstand die Verfassungsmäßigkeit einer im Streitfall entscheidungserheblichen Norm ist, und das nicht offensichtlich aussichtslos ist (vgl. BVerfG NVwZ 2013, 935; BFH BStBl. II 2013, 30; BFH/NV 2013, 249; Brandis, in: Tipke/Kruse, AO/FGO, Stand: 141. EL Juli 2015, § 74 FGO Rn. 14; Koch, in: Gräber, FGO, 7. Aufl., § 74 Rn. 12; zum wortgleichen § 94 Verwaltungsgerichtsordnung vgl. BVerwG Buchholz 448.0 § 12 WPflG Nr. 208), ist das Finanzgericht mithin davon ausgegangen, dass die auch in seinem Verfahren inmitten stehende Frage der Verfassungsmäßigkeit von § 62 Abs. 2 EStG gerade nicht abschließend geklärt ist. Wenn es dennoch die Prozesskostenhilfe mit einer gegenläufigen Begründung ablehnt, überspannt es die tatbestandlichen Anforderungen, denn es nimmt das Ergebnis einer ausstehenden verfassungsgerichtlichen Prüfung vorweg, die es selbst nicht für von vornherein aussichtslos hält. Damit erschwert es letztlich den Zugang der Beschwerdeführerin zum Gericht, zumal das Finanzgericht selbst nicht annimmt, die in den sehr umfangreichen Vorlagebeschlüssen aufgeworfene Rechtsfrage sei einfach zu beantworten. Die detaillierte Begründung der Vorlagebeschlüsse des Niedersächsischen Finanzgerichts (vom 19. und 21. August 2013 - 7 K 9/10, 7 K 111-114/13, 7 K 116/13 -, juris, auszugsweise abgedruckt in EFG 2014, 932) spricht gleichfalls nicht dafür.
3. Der angegriffene Beschluss beruht auf dem festgestellten Verfassungsverstoß. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Finanzgericht zu einem für die Beschwerdeführerin günstigeren Ergebnis gekommen wäre, wenn es die sich aus dem Grundrecht der Gleichheit vor Gericht ergebenden Anforderungen an das Prozesskostenhilfeverfahren beachtet hätte.
Der Beschluss vom 1. April 2015 ist hiernach gemäß § 50 Abs. 3 VerfGGBbg aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Finanzgericht Berlin-Brandenburg zurückzuverweisen.
C.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 32 Abs. 7 Satz 1 Ver-fGGBbg. Der Gegenstandswert ist nach § 33 Abs. 1, § 37 Abs. 2 Satz 2 Rechtsan-waltsvergütungsgesetz auf 10.000,00 Euro festzusetzen. Dies entspricht der ständigen Praxis des Verfassungsgerichts bei erfolgreichen Verfassungsbeschwerden.
Der Beschluss ist einstimmig ergangen. Er ist unanfechtbar.
Möller | Dr. Becker |
Dielitz | Dr. Fuchsloch |
Dr. Lammer | Schmidt |